Die Bestie.

Die zweite Galgenstrickgeschichte

Bemerkung: Spielt zeitlich lange vor „Prolog und Auflehnung“

04:12

Weiter, nur weiter, sie waren dicht hinter ihr. Keine Pause. Kein Halten. Nur Schutz suchen. Wenn nur nicht so viel Wasser vom Himmel fallen würde. Regen. Ja, Regen, so nannte man es. Weiter.

Getrieben von einer unbeherrschbaren Panik jagte sie durch die verregneten Gassen Erlangens. Die Polizei war sicher schon seit einiger Zeit hinter ihr her, nachdem sie vor zwei Tagen aus dem Krankenhaus geflohen war. Die Diagnose hatte SCPM gelautet und die Krankheit hatte sich schon in ihrem ganzen Ausmaß im Organismus des Mädchens ausgebreitet. Nicht nur der Schock der Mutation hatte ihren Geist verwirrt, nein auch der Virus selbst hatte sich schon in ihre Gedanken gefressen, graue Zellen infiltriert und somit die ihre Mentalität verändert. Sie wusste nichts davon, sie sollte es auch nie mehr erfahren. Sie wusste nur, dass man sie jagte und, dass ihre Häscher ganz nahe waren.

Regen durchnässte ihr räudiges Fell und ihre vom Wasser schweren Haare klebten ihr im Gesicht. Laufen war auf den glitschigen Pflaster schwierig. Um zusätzlichen Halt zu finden rannte sie schon seit einiger Zeit auf allen Viren. Es war schwierig gewesen sich von dem lästigen Krankenhemd zu befreien.

Eine zwielichtige Gasse folgte auf die nächste, kein Weg schien irgendwo hin zu führen und überall roch es nach wirren Dingen, die ihr noch mehr Angst machten.

Angst. Warum nur Angst? Sie war schneller als die Polizisten hinter ihr, sie würden sie nie erwischen. Kein loser Pflasterstein würde sie zu Fall bringen, wenn sie acht gab. Sie musste einfach rennen. Irgendwann konnte sie die Stadt verlassen und dann... Ja dann... Weg. Einfach nur raus. Böse Stadt. Garstige Menschen. Autos. Gefährliche Autos.

Da kam eines, doch sie konnte schnell sein und vorbei...

Sie stieß einen hohes Kreischen aus, als Kühlerblech ihren Oberschenkel zerschmetterte und sie gegen eine Hauswand schleuderte. Das harsche knacken des Knochen hallte im inneren ihres Kopfes wieder, übertönte das quietschen der Bremsen, als der Wagen zum stehen kam.

An die Wand gekauert konnte sie sehen, wie die Tür auf schwang und eine finstere Gestalt in einen dunklen Mac aus stieg.

Ihre Augen tränten. Sie versuchte den Schmerz zu besiegen und presste ihre Kiefer mit ganzer Kraft zusammen. Das dumpfe Pochen ihrer Zunge ging nun einher mit einer wohligen Wärme, die sich in ihrem Mund ausbreitete.

Nein! Nicht träge werden, er konnte sie erwischen. Er durfte sie nicht sehen.

Sie bot ihre letzten Reserven um sich auf zu richten und kroch, den schmerzenden Klumpen, der ihr Bein sein mochte, hinter sich her ziehend, in eine Schmale Seitengasse. Ein offener Müllcontainer bot ihr ein Refugium.

Oh ja! Die Menschen, sie hatten es schon immer auf sie abgesehen, auch bevor sie infiziert worden war. Niemand hatte sie nie verstanden und unter diesen Umständen war es wohl schwierig, dass es je irgendjemand tun würde. Wie sie sie alle hasste!

Gut zugeredet hatten sie ihr! Es würde alles wieder werden sagten sie. Niemand glaubte, dass sie jemanden verletzten könnte, hatte man ihr vorgesäuselt, kurz bevor man die Beruhigungsspritze angesetzt hatte. Lügner, alles verdammte Lügner. Ja, ja, genau, irgendwann würde sie es ihnen allen heimzahlen.

Aber... nicht jetzt. Ihr Bein schmerzte nicht mehr, doch sie fühlte sich träge und ausgelaugt. Die Welt war nie sehr fair zu ihr gewesen.

Sie vergrub ihren grotesk anmutenden Kopf im Müll auf dem sie ruhte und begann zu weinen.


4:14

Wieder einmal diese Überstunden. Wenn der Laden solche Gewinne macht, dann sollte man doch meinen, sie könnten mehr Leute in die Buchhaltung setzen, aber nein, nein! Überstunden wegen überlangen Gewinnzahlen. Die Logik soll einer verstehen. Und es wäre doch schön wenn wenigstens ein einziges Mal nicht die Hälfte von alle dem in die Taschen des Managers wandern würde. Nun, jetzt war es erst einmal zu Ende. Für Heute.

Er klopfte auf das Packet unter seinem Arm.

Morgen, das würde was werden!. Hatte er schon die letzten zwei Geburtstage seines kleinen Sohnes verpasst, so würde er ihm wenigstens zum zehnten eine richtige Freude machen.

Er schmunzelte.

Der Junge freute sich immer so ihn zu sehen. Kaum zu glauben, dass die Ehe damals beinahe an der Schwangerschaft zerbrochen war.

Bald würde Georg Heinrick zu Hause sein und sich ins Bett legen können. Die Buchhaltung von SAPharm, die, aus welchen Gründen auch immer, für Produktion und Verkauf in der Schweiz zuständig war, musste seit etwa einem Jahr ständig Überstunden schieben. Die eingehenden Posten waren seitdem von Tag zu Tag kryptischer und die Managergehälter von Woche zu Woche höher geworden. Irgendetwas braute sich in der Firma zusammen, nur was, davon hatte Georg keine Ahnung. Doch hatte er sich fest vorgenommen etwas darüber herauszufinden. Aber erst nach seinem Urlaub, denn er verbrachte sowieso zu viel Zeit mit seiner Arbeit und zu wenig mit seiner Familie. Und es war keines Wegs leicht gewesen in diesen Zeiten einen Urlaub zu...

Was war das? Er hätte das Geräusch für ein Tier, das in dem Müllcontainer nach Nahrung suchte halten können, doch es klang nicht wie ein Fuchs. Es war schon wie das Schnauben eines Tieres und trotzdem etwas... menschlicher. Ein Schluchzen, ein heulen vielleicht.

Es kostete ihn einige Mühen die Gedanken an die Geschichten der Klagmutter, die ihm seine Großmutter als Kind erzählt hatte, zu verdrängen um sich dazu durchringen zu können auf den schmutzigen, fast mannshohen Behälter zu zu gehen. Der Deckel war zurückgeschoben, deshalb blickte Georg vorsichtig hinein. Ein großer zusammengekauerter Schatten war zu sehen, welcher sich bei jedem Schluchzen ruckartig hob und senkte. Im wenigen Licht der entfernten Straßenlaternen konnte man so etwas wie Fell ausmachen, aber keinerlei Gestalt.

Verwirrt stolperte der Mann einige schritte zurück, eine erstaunte Gewissheit in sich reifend. Es konnte kein Hund sein. Hunde weinten nicht, jedenfalls nicht so, wie es dieses Wesen getan hatte. Es konnte nur das sein, wovon die Nachrichten berichtet hatten. Kaum zu glauben er hatte sie gefunden! Und er würde nicht die Polizei rufen, denn gefährlich oder nicht ihm gefiel es nicht, wie man auf der ganzen Welt mit den Opfern dieser sonderbaren Krankheit umsprang. Man verstand einfach nicht, dass sie immer noch Menschen waren. Man nahm ihnen oft genug ihre Rechte, weil man sie für unzurechnungsfähig und blutrünstig hielt. Seiner Meinung nach waren diese unglücklichen Geister nur noch von ihrer schweren Mutation verwirrt und benötigten Fürsorge, keine Beruhigungsmittel. Immerhin hatte man noch keine dieser Personen längere Zeit beobachten können. Noch befand man sich in der anfänglichen, paranoiden Panik, die sich mindestens genauso schnell wie die Seuche ausgebreitet hatte und vermutete unter jedem unbekannten Stein eine Schlange.

Schließlich spannte Heinrick seine Schultermuskulatur an, atmete einmal tief durch und schritt abermals auf den Müllcontainer zu.


„Hallo?“, flüsterte er sanft. „Es wird schon wieder gut werden. Beruhigen sie sich! Reden sie bitte mit mir.“

Der Schatten hielt im Schluchzen inne.

Es würde gut werden, ja. Sie würde es wieder gut werden lassen.

„Es wirrd wiederr chutrr?“, knurrte sie.

„Ja auf jeden Fall. Ich weiß wie man mit ihnen umgegangen ist. So etwas darf nicht mehr passieren.“, versicherte Heinrick. „Ich werde versuchen ihnen zu helfen, aber dazu müssen sie erst ein mal aus diesem Müll raus. Vertrauen sie mir“.

Seine Worte gaben ihr zu denken. Entweder war er ehrlich, oder ein unglaublich ungenierter Lügner, nach was er allerdings nicht aussah. Sicher war es gut, Hilfe zu bekommen und so vielleicht nicht einmal mehr ins Krankenhaus zurückkehren zu müssen.

Der Mann streckte ihr vertrauensvoll die Hand entgegen. Sie setzte sich auf, ließ, als sie ihr Bein belastete, ein kurzes, schmerzhaftes Japsen los und blickte argwöhnisch auf den Arm des Fremden.

„Kommen sie schon! Von mir haben sie nichts zu befürchten.“, wisperte er ihr zu.

Vorsichtig kroch sie ein wenig näher.

Sie wollte schon ihre Klaue in seine Hand legen, als ihr die Worte des Sanitäters wieder einfielen, der damals gekommen war, um sie auf den Anruf ihrer Mutter hin, von zu Hause ab zu holen. Sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und man hatte auf sie eingeredet. ‚Du brauchst dich nicht vor uns zu fürchten! Wir werden dir nichts tun. Wir sind nur gekommen um dir zu helfen. Vertraue uns doch einfach.‘ Und sie hatte ihnen schließlich vertraut. Tage hatte es gedauert, bis sie ihren Fehler eingesehen hatte und geflohen war.

Dies würde nicht noch einmal geschehen und man würde sie auch nicht zwingen können.

Lügner, sie waren alle Lügner, doch mit ihrer Gutgläubigkeit war nun Schluss. Ein für alle Mal.

Mit ihrem gesunden Bein stieß sie sich von der hinteren Wand des Müllcontainers ab und sprang ihrem Feind entgegen.

Das knacken kam diesmal nicht von ihrem eigenen Knochen und der rostige, warme Geschmack auf ihrer Zunge war nicht ihr eigenes Blut.

Sie hatte in ihrem wallenden Zorn nicht über eventuellen Widerstand nachgedacht, doch es gab auch keinerlei Ansätze davon. Zu überrascht war Georg Heinrick über den Angriff gewesen, um auch nur einen Gedanken zu haben, als sein Leben endete. Alles, alles was in ihm vorgegangen war stand nun in sein bleiches, blutumrahmtes Gesicht geschrieben: Erstaunen.

Wütend biss sie auf den reglosen Mann ein und schlug ihre Nägel tief in sein Fleisch. Sie riss und schnappte.

Ganz langsam lichtete sich der rote Schleier des Zornes von ihren Gedanken und sie ließ von den verstümmelten Resten ab. Zufrieden kroch sie, ohne weiter auf ihre Umwelt zu achten in die Mülltonne zurück, rollte sich zusammen und schlief ein.


8:11

Hauptkommissar Dortl schüttelte den Kopf als er auf die, scheinbar wahllos, über den Asphalt verteilten Kreidemarkierungen und Blutflecken blickte. Er freute sich nicht gerade darauf sich die Fotos vom Tatort, welchen man vor einer Stunde geräumt hatte, anzusehen, er hatte einfach zu wenig Erfahrung im Umgang mit Mord. Obendrein, erschien es ihm sinnlos auch nur irgendwelche Nachforschungen anzustellen, ja sogar die Autopsie des Opfers die noch aus stand hielt er für reine Verschwendung des Budgets, zumal man doch die Täterin schon dingfest gemacht hatte.

Er schüttelte abermals den Kopf und saugte an seinen Schneidezähnen.

Der erste Fall von dieser vermaledeiten Seuche in ganz Mitteleuropa und gleich musste so etwas geschehen. Wie konnte das sein? Hatte man nicht immer im Fernsehen gesagt, die Erkrankten seien in guter körperlicher und vor allem geistiger Verfassung?

Dortl kratzte sich am Kinn als er zu seinem Dienstwagen zurück trottete.

Vielleicht war es doch ganz gut ein Bißchen zu ermitteln...

Aber er wollte sich die Fotos trotzdem nicht ansehen.