Die vierte Galgenstrickgeschichte

© by Felix M. Hummel 2003.


Maria trat ins Badezimmer. Mit einer beiläufigen Bewegung knipste sie das Radio auf dem Fensterbrett an und rieb sich vor dem Spiegel den Schlaf aus den Augen.

„...mit weiteren Anschlägen gedroht. Eine Sprecherin der Organisation verlangte heute auf einem Videoband, welches der ARD zugespielt wurde, eine sofortige ‚Befreiung‘ aller in Anstalten untergebrachten SCPM Opfer, oder man müsse die Konsequenzen tragen“, schepperte es aus dem Empfänger. „Die Sprecherin, die sich ‚Die Hyäne‘ nannte, ist selbst mit SCPM infiziert, jedoch eindeutig weder bei Gesundheitsamt noch WHO registriert. Innenminister Schnall bezeichnete die Drohung als sehr glaubhaft, zumal die ‚Kinder der Hyäne‘ ihre Gewaltbereitschaft bereits bei dem gestrigen Anschlag in Genf unter Beweis gestellt haben. Als mögliche Beweggründe...“ Maria seufzte und drehte an dem Apparat bis sie einigermaßen hörbare Musik fand. Nachrichten waren einfach nicht das richtige um gut aus den Federn zu kommen, dachte sie. Den ganzen Tag musste man sich dann sorgen machen, wohin dies alles mit unserer Welt, oder mit unserem Land führen würde.

Sie blickte in den Spiegel.

Maria Golchert nicht besonders hübsch, jedoch auch nicht hässlich. Ihr Gesicht, umrahmt von schulterlangem, blondem Haar, war eines wie man es sich überall, in jedem Beruf und jeder Situation vorstellen konnte. Anders als viele Frauen mochte sie diesen Umstand recht gerne. Nicht, dass sie sich nicht schminkte, oder mit ihren 28 Jahren auf Antifaltencremes verzichtete, aber sie war doch ganz zufrieden mit sich.

Als sie mit ihren morgendlichen Ritualen fertig war und gerade das Badezimmer verlassen wollte bemerkte sie eine kleine schwarze Stelle an der Wurzel ihres Daumennagels. Sie wischte kurz mit dem Zeigefinger darüber und stutzte als sich der Fleck nicht entfernen ließ. Vorsichtig hob sie ihre Hand näher zum Gesicht und stellte fest, dass ihre Nägel an jedem Finger im Ansatz schwärzlich verfärbt hatten.

„Werd‘ mich wohl in Zukunft mit Nagellack besser zurückhalten.“, murmelte sie vor sich hin, während sie in ihr Zimmer trottete und sich dem Kleiderschrank zu wandte.

„‘Ria?“, rief ihr Mann von Unten „‘Ria, komm schnell, ich muss doch gleich los!“

Sie beeilte sich ihre Bluse zu zuknöpfen. „Komm‘ schon, Paul.“, gluckste sie und lief zur Treppe, an deren Fuß er wartete. Sie rannte hinunter und warf sich schwungvoll in seine Arme.

„Hab‘ dich lieb. Werd‘ dich vermissen.“, flüsterte sie in sein Ohr.

Paul küsste sie hastig auf die Wange und machte sich dann los.

„Ist doch nur für zwei Tage.“

„Fast drei!“, korrigierte sie ihn.

Er nickte. „Ich muss jetzt sofort los, müsste eigentlich schon auf dem Weg nach München sein. Bis Mittwoch.“ Seinen Koffer im Arm stolperte er den Flur hinunter und zur Tür hinaus.

Maria seufzte als sie den Wagen aus der Einfahrt rollen hörte.

„Sei vorsichtig!“

Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Sieben Uhr drei, sie hatte also noch genügend zeit um in aller Ruhe ein Frühstück einzunehmen. Doch als sie den Kühlschrank öffnete und auf die vor ihr Ausgebreiteten Nahrungsmittel blickte, verging ihr der Appetit. Zwar war sie immernoch hungrig, ihr Magen knurrte recht stark, aber sie konnte sich einfach nicht dazu durchringen irgendetwas zu essen.

Wieder ließ sie ihre Augen über das Zifferblatt streichen. Noch fast eine Stunde, bis sie im Büro sein musste, was sollte sie also nun tun. Eigentlich, eigentlich konnte sie genauso gut etwas früher beginnen und die Arbeit im Fotolabor, die über die letzten Wochen liegengeblieben war etwas mehr fertig stellen. Vielleicht konnte sie sogar einmal mit Schleifer reden. Seit Wochen war er kaum noch während der Arbeitszeiten im Büro gewesen, aber man wusste ja nie.

Maria gähnte langgezogen, streckte sich, nahm ihre Schlüssel vom Telefontischchen und ging zur Tür hinaus.

Als sie sich in ihrem Auto die Augen rieb, musste sie abermals auf ihre Fingernägel schauen.

Sie fühlte sich an diesem Morgen nicht gut. Ihr kam es vor als würde sich gerade eine Grippe anbahnen. Ihre Glieder waren schwer und schmerzten, ihr Kopf war wie in Watte gepackt und der rostige Geschmack in ihrem Mund verriet ihr, dass es auch um ihr Zahnfleisch nicht besonders gut bestellt war. Trotzdem entschloss sie sich zur Arbeit zu fahren, denn würde es schlimmer werden konnte sie immernoch am Nachmittag zurückkehren. Damit legte sie diesen Gedanken erst einmal ad acta, ließ den Wagen an und fuhr los.

In der Redaktion war es sehr ruhig, um nicht zu sagen totenstill, doch nachdem wie es hier in letzter Zeit zugegangen war, wunderte dies Maria nicht mehr. Sie hatte den Regionalen Boten persönlich nicht abonniert, also wusste sie nicht genau wie viele Ausgaben der, eigentlich täglich erscheinenden, Zeitung nicht in den Druck gegangen, oder nie fertig gestellt worden, waren. Alles in allem war sie sich sicher, dass die Finanzen ihres Arbeitgebers bald Probleme machen sollten.

Sie machte sich sogen um die Zukunft der Zeitung, denn natürlich hing auch ihr Arbeitsplatz davon ab. Herr Schleifer, der Chefredakteur, schien die Sache nicht mehr besonders ernst zu nehmen. Vielleicht, dachte sie, hatte er schon genug Geld verdient und ließ dies alles hier nur noch so nebenbei als Hobby laufen. Oder er würde, so wie man es immer im Fernsehen sehen konnte, erst einmal die Möbel und dann nach und nach das ganze Gebäude zu Geld machen, bis sie auf der Straße standen. Auch konnte es sein dass er tatsächlich, wie schon viele gemunkelt hatten, Alkoholiker und einfach nicht mehr in der Lage eine Zeitung zu leiten, war.

Was auch immer der Grund für die Nachlässigkeit in der Verlagsführung war, es machte sie rasend. So konnte es einfach nicht weiter gehen! Noch vor einem Jahr waren sie die führende Zeitung in der Region gewesen, doch Schleifer hatte sich verändert und alle mit sich hinab gezogen.

Sie hielt auf dem Parkplatz, betrat das Gebäude und machte sich auf den Weg zum Labor.

Sie konnte nicht mehr tatenlos zusehen wie dies alles, wofür sie gearbeitet hatte, zum Teufel ging, sie würde mit ihrem Chef reden und sehen was sich machen ließ.

Sie drehte ruckartig um und lenkte ihre Schritte zu Schleifers Büro.

Nein!

Sie würde nicht sehen was sich machen ließ, sie würde im klar ihre Meinung sagen, ihn Auffordern, vielleicht zwingen, die Verhältnisse zu verbessern, wieder zu arbeiten, oder ihn dazu bewegen sein Amt abzugeben und sich zurück zu ziehen.

„Tanja!“, schrie sie Schleifers Sekretärin, die sich gerade im Vorraum einer Tasse Kaffe widmete, zu. „Tanja ich muss mit Schleifer reden.“

Tanja Berla schob ihren Drehstuhl mit der rechten Hand vom Tisch weg und blickte sie an. „Morgen Maria. Schleifer ist schon seit drei Tagen nicht mehr aufgetaucht. Er beantwortet keine Anrufe zu Hause und ich habe seine Handynummer nicht. Tut mir Leid.“, seufzte sie. „Ist es dringend?“

„Dieser Arsch!“, schrie Maria und schlug sich mit der Faust gegen den Oberschenkel.

„Ruhig Blut!“ Tanja stand auf und legte der Fotografin die Hand auf die Schulter. „Was hat dieser Tramp‘l denn schon wieder angestellt?“

„Was er angestellt hat?“, sagte Golchert aufbrausend. „Merkst du nicht, wie er hier alles schleifen lässt? Er ist nie da, er kümmert sich nicht um die Artikel oder meine Fotos, er tut nichts mehr, er - er... Wenn er so weiter macht können wir uns alle bald einen einen neuen Job suchen, Herrgott!“

Tanja nahm die Hand von ihrer Schulter und strich sich mit den Fingern durch die Haare. „Ja. Natürlich habe ich das mitbekommen“, murmelte sie wie zu sich selbst. „Aber,“, meinte sie laut, „Ich habe versucht alles zurecht zu biegen. Ich habe versucht seine Arbeit mit zu übernehmen. Ohne Erfolg. Es ist zu viel und ich kenne mich nicht damit aus.“

„Er kann er das doch nicht machen!“

Berla winkte ab. „Ich weiß nicht. Er war immer in seine Arbeit vernarrt und wir können ihn nicht erreichen, vielleicht ist etwas passiert?“

„Ja, natürlich, sicher!“, knurrte Maria. „Er wird was besseres gefunden haben.“

„Komm, komm! Du kennst doch Michael, er würde so etwas doch nicht tun. Du bist heute so gereizt, geht‘s dir vielleicht nicht gut?“

„Doch, warum soll...“, rief die Frau. „Naja du hast recht.“, meinte sie etwas ruhiger. „Ich habe heute furchtbares Kopfweh. Ich glaube ich krieg‘ eine Grippe.“

Tanja lächelte. „Dann komm mit! Gegen Kopfweh gibt es nur ein Mittel das wirklich hilft.“

„Nein, danke von Aspirin bekomme ich Nasenbluten.“, antwortete Maria und schüttelte den Kopf.

„Ich habe ja auch Kaffee gemeint.“, grinste sie.

Maria folgte der Sekretärin aus dem Vorzimmer hinaus, die Treppe hinunter zum Pausenraum.

„So und jetzt nimmst du dir eine schöne Tasse voll und setzt dich erstmal hin.“

Die Fotografin folgte ihrer Anordnung gehorsam. Sie nahm einen großen Schluck von dem schwarzen, duftenden Gebräu und seufzte.

„Ja, tut wirklich gut.“, hauchte sie und versuchte nicht vollständig im Stuhl zusammenzubrechen. „Ich weiß nicht was los ist, mir tut alles weh und mein Zahnfleisch blutet auch. Wenn das nicht wäre würde ich ja sagen, dass es eine Grippe ist, aber...“

Sie öffnete den Mund und stieß mit dem Zeigefinger gegen einen ihrer Schneidezähne. Sie schrie erschrocken und zog die Hand zurück.

„Mein Gott, was ist denn? Du hast mich vielleicht erschreckt.“, keuchte Tanja, die halb von ihrem Stuhl aufgesprungen war.

„Entschuldige. Ich... Naja, der Zahn ist locker und er schmerzt ekelhaft wenn ich ihn verschiebe.“

Die Sekretärin ließ sich wieder auf ihrem Stuhl nieder. „Du solltest mal zum Zahnarzt. Du könntest vielleicht eine Entzündung haben, darum geht‘s dir so schlecht.“

„Mag sein.“, murmelte Maria. „Aber das erklärt noch lange nicht die schwarzen Ränder.“

„Welche schwarzen Ränder?“, wollte ihre Gegenüber wissen.

Die Fotografin legte ihre Hände, Handflächen nach unten, vor sich auf den schmalen metallenen Kaffeetisch.

Und keuchte.

Ihre Nägel waren seitdem sie das Haus verlassen hatte um ein gutes Stück gewachsen. Die schwarzen Stellen waren dadurch ein um einiges weiter vorgedrungen.

„Heute Morgen war das noch nicht so.“, presste sie hervor.

„Zeig mal.“ Tanja nahm ihre Hand und zog sie zu sich heran. „Hmm. Sieht so aus als hätte sich der Fingernagel und nicht die Haut darunter verfärbt. Meinst du das kommt vom Nagellack?“

Maria schüttelte den Kopf. „Hab‘ ich mir auch schon gedacht, aber das ist doch ein Märchen, dass man davon so was bekommen kann. Außerdem, warum sollten sie dann so stark gewachsen sein?“

„Geh‘ am besten gleich zum Arzt!“, meinte Tanja und stand auf. „Ich denke nicht, dass Schleifer heute noch kommt, aber wenn, dann werd‘s ich ihm sagen.“

Die junge Frau wippte unsicher auf ihrem Stuhl. „Ich weiß nicht... zum Arzt? Nur wegen einer Grippe und den Fingernägeln?“

„Geh einfach!“, sagte Berla, diesmal mit etwas mehr Nachdruck.

Maria hob die Hände. „Schon gut, gut. Du hast gewonnen.“

Sie stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort die Redaktion.

Ein Doktor? Nein, das war wohl das letzte, was sie jetzt noch wollte. Sämtliche Muskeln ihres Körpers schmerzten, ihr Kiefer schien seiner Verankerung entkommen zu wollen und ihr Schädel machte Anstalten zu zerspringen. Nein, nein, nein, sie hatte erst einmal genug für heute. Sie würde nach Hause fahren und sich eins Bett legen, oder sich vielleicht sogar ein Bad einlaufen lassen, nur sehen wollte sie heute niemanden mehr. Gespräche waren in diesem Zustand nämlich alles andere als angenehm. Jedes Wort, jede Betonung des Gegenüber bohrte sich wie eisige Dolche in ihr Hirn, wohingegen sie keine eigenen Ausdrücke finden konnte. Dies machte sie wütend, was sich in ihrem Ton stark niederschlug und missverstanden werden konnte.

Um ihren Schmerz nicht heraus zu fordern ließ sie sich ganz langsam in den Fahrersitz fallen. Für einen Moment verschränkte sie dann die Arme auf dem Steuer, ließ ihren Kopf hängen und atmete tief durch.

Immer mit der Ruhe. Immer mit der Ruhe, dachte sie. Nur noch der Heimweg, den Schaffen wir auch noch. Dann entspannen und Tee und schlafen, ja viel schlafen.

Maria ließ den Motor an und setzte ungeschickt zurück.

Das Fahren bereitete ihr große Schwierigkeiten. Nicht schien an seinem Platz bleiben zu wollen, die Welt erschien schwammig und verzerrt für ihre geknechteten Sinne. Doch schließlich schaffte sie es doch ihren Wagen langsam in die heimische Einfahrt rollen zu lassen.

Müde schleppte sich Maria in das Reihenhaus und wankte die Treppe hinauf. Mit der linken Hand auf das Waschbecken gestützt öffnete sie den Medizinschrank im Badezimmer. Mit zittrigen Fingern zog sie ein Röhrchen Aspirin hervor. Dabei rutschte sie ab und stieß eine Flasche Mundwasser an, die mit einem Donnern, wie ein Kanonenschlag im Becken zerschellte.

„Verdammt!“, nuschelte sie gequält.

Sie ließ einige Tabletten aus der Röhre in ihre Hand gleiten, doch bevor sie sie zum Mund führen konnte durchfuhr sie eine heftige Welle an Schmerz. Ihre Hand verkrampfte sich und das Aspirin entglitt ihr. Keuchend vor Pein stolperte sie zurück und fiel auf den Badezimmervorleger. Ihr Kopf schlug gegen die kalten Fliesen.

Sie versuchte zu schreien, doch die Muskeln in ihrem Hals hatten sich mit brennender Festigkeit zusammengezogen. Für einige Sekunden konnte sie keinen Finger rühren, noch konnte sie atmen, ihr ganzer Körper blieb in seiner zusammengekauerten Lage steif. Nur ein kehliges Röcheln entkam ihr.

Dann löste sich der Krampf, fast so schnell wie er gekommen war und hinterließ im Augenblick nichts anderes als Schmerz.

Vorsichtig richtete sich Maria auf und tastete, am ganzen Leib bebend, nach ihrem Hinterkopf.

Sie musste doch einen Arzt verständigen, den Notdienst am besten. Sicher hatte sie nun eine Gehirnerschütterungung und noch ein weiteres Mal würde sie solche Krämpfe sicher nicht überleben. Bestimmt war dies keine Grippe. Oder, nicht nur.

Sie stemmte sich vom Boden hoch, langsam, ganz langsam und sackte zurück. So ging es nicht, sie war zu schwach. Schließlich schlang sie den linken Arm über den Rand der Badewanne und schob sich empor, bis sie einigermaßen sicher auf der Kante zu sitzen kam. Die junge Frau presste die Hände auf ihr Gesicht und atmete tief ein.

Zum Telefon im Erdgeschoss konnte sie es unmöglich schaffen, nicht die Treppe hinunter. Auch ihr Handy hatte sie im Auto gelassen. Nein, was immer sie so hart erwischt hatte, sie musste es aushalten, bis Paul... bis Paul zurückkehrte! Der Gedanke traf sie wie ein Dampfhammer. Paul würde nicht vor Mittwoch Abend zurück sein und es war gerade mal Montag, vielleicht etwa kurz nach acht Uhr. Möglich, dass man sich in der Redaktion vorher Sorgen machte, wenn sie nicht ans Telefon ginge, aber wohl auch nicht schon heute. Hilfe zu verschmähen, wenn sie greifbar war, war eine Sache, doch bei dem Gedanken, dass sie keine bekommen konnte, auch wenn ihr Leben davon ab hinge, drehte sich ihr Magen um.

Plötzlich ergriff sie die Panik.

Alles konnte passieren. Sie konnte gleich zusammenbrechen und im Handumdrehen streben, sie konnte aber auch gelähmt auf dem Boden liegen und in drei Tagen jämmerlich verdursten, nur weil niemand es für nötig hielt nach ihr zu sehen. Sie musste...

Weiter kam sie nicht. Eine erneute Welle aus Schmerz ließ sie nach vorne kippen. Sie wand sich am Boden und versuchte besessen die Kontrolle über ihrer zuckenden Muskeln zurück zu erlangen. Doch diesmal ließen die Krämpfe nicht nach.

Ihr Rückrad krümmte sich und fühlte sich an als würde es vom Steißbein her herausgerissen. Ihre Finger- und Zehennägel begannen zu brennen und schoben sich dabei weiter hervor. Nur mit Mühe konnte sie sich von ihren, immer mehr drückenden, drückenden Schuhen trennen.

Ihre Gesichtsmuskulatur begann verrückt zu spielen, ihre Züge entgleisten als ihre Wangen zu zucken begannnen. Bereits nach einigen Augenblicken fühlte sich ihr Gesicht an, als hätte man es zu einem blutigen Brei zermahlen. Hier hielt die Veränderung keines Wegs inne, denn auch ihre Beine, dann die Arme, der Bauch, ja der ganze Körper bebte und zuckte. Muskeln verschoben sich, verformten sich, Haut spannte und erschlaffte, irgendetwas presste sich, mit einer juckenden, stechenden Empfindung verbunden, aus ihren Flanken gegen ihre Kleidung. Nach einigen Sekunden war ihr ganzer Körper von diesem Gefühl umspannt.

Mit letzter Kraft presste sie eine Hand gegen die andere.

Fell, schoss es ihr durch den Kopf.

Etwas lag in ihrem Mund. Sie spuckte, legte dann ihren Kopf zurück um den Gegenstand in ihr Blickfeld zu bekommen. Es lag zu nahe um es genau erkennen zu können, doch auch das verschwommene Bild eines blutig-weißen Splitters war genug um ihr einen erstickten Schrei zu entlocken.

Ihr Kieferknochen knackte und fing an sich nach vorne zu pressen, worauf immer mehr Zähne den Halt verloren und nun mehr lose im Zahnfleisch hingen.

Die Haut über ihren Ohren spannte und zog sich nach oben.

Als Maria das krachende Bersten ihres Schädels spürte wurde es schwarz um sie. Ihre gepeinigten Gedanken wurden schwer, bis sie schließlich, taub, ganz erstickten und sich auflösten.


Ein Stechen durchdrang den Nebel, der auf ihrem Geist lag. Neue Zähen bohrten sich durch ihr Zahnfleisch. Sie registrierte dies gleichgültig und fiel zurück in ihren traumlosen Schlaf.


Verärgert ließ Paul den Hörer fallen. Er schlug zwei, drei Mal gegen das Münztelefon, bevor er auspendeldete.

Sie war wahrscheinlich schon zur Arbeit gefahren. Naja, das war eigentlich nicht das Problem. Er hätte nicht verschlafen dürfen. Nun war der Flieger weg und er hatte den Salat. Verdammt.

Gut, die Messe wäre nicht so wichtig gewesen, aber er hatte sie schon in den letzten Jahren nicht besuchen können.

Wütend über seine eigenen Verfehlungen schlurfte er in die Tiefgarage hinunter zu seinem Wagen.

Zweieinhalb Stunden später bog er in die heimische Auffahrt ein und stellte nicht ohne erstaunen fest, dass der Wagen seiner Frau bereits dort parkte.

Die Haustür war nicht abgeschlossen, also trat Paul ein und rief: „‘Ria? Ria, bist du da?“

Als niemand antwortete zuckte er mit den Achseln und ging in die Küche, wo er sich dem Kühlschrank widmete.

Das war nicht das erste Mal, dass sie vergessen hatte die Tür abzuschleißen. Ein merkwürdiges Phänomen, dass sie dies immer tat, wenn sie beschloss zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Hatte vielleicht etwas mit den Autoschlüssel zu tun.

Er griff in den Schrank und beäugte den Joghurt den er hervor zog argwöhnisch. Als er in einer Schublade nach einem Löffel suchte entglitt ihm das Glas, zersprang am Boden und verteilte seinen Inhalt über die Küchenwand.

„Scheiße.“, fluchte Paul und biss sich auf die Lippe.

Fluchend ging er aus der Küche um einen Besen aus dem Putzschrank im, Bad zu holen. Als er die Tür verschlossen vor fand, war er sichtlich verwundert. Der Schlüssel steckte nicht an der Außenseite, doch das musste noch nichts heißen, denn seine Frau konnte genauso, aus welchem Grund auch immer, vom Flur aus zugesperrt und dann den Schlüssel geistesabwesend entfernt haben.

Zwar erwartete er keine Antwort, doch war es sicherlich einen Versuch wert und so klopfte er gegen die Badezimmertür.

„Maria, bist du da drin?“, fragte er, murmelnd und eher zu sich selbst sprechend.

„Bleib weg!“

Paul stieß einen spitzen Schrei aus und sprang rüttlinks an die gegenüberliegende Wand, rutschte dort auf dem Tepich aus, fing sich jedoch gerade noch. Dieses Brüllen war ihm durch Mark und Bein gegangen. Es war die Stimme seiner Frau gewesen, nur... seltsam tiefer, knurrender. Er hatte so etwas schon einmal gehört, sagte man nicht, dass der Kehlkopf bei... Nein, besser gar nicht daran denken, das konnte nicht passieren.

Als er seinen ersten Schrecken überwunden hatte ließ er sich vorsichtig auf die Knie sinken und warf einen Blick durch das Schlüsselloch. Der Schlüssel steckte an der Innenseite so, dass er nichts ausmachen konnte, doch er wusste nicht, ob er von diesem Umstand wirklich enttäuscht war.

Endlich wand er genug Mut auf um es erneut zu versuchen, stand auf und klopfte sachte gegen das Holz der Tür. „‘Ria, komm mach auf!“, versuchte er seiner, offensichtlich verwirrten, Frau zuzureden. „‘Ria, ist was pass...“

„Ich hab gesagt, hau‘ ab! Verschwinde“, kreischte sie, mehr den Tränen nahe als der Wut. „Du sollst mich nicht sehen. Ich will nicht.“

Paul stand wie festgewurzelt da und starrte auf den Türgriff. Er hatte eine Hand auf seinen Mund gepresst, die andere war fest in den Stoff seines Hosenbeines gekrallt. Ein heißer Schauer dehnte sich von seinem Steißbein,über die Wirbelsäule bis in seinen Kopf aus, erfüllte ihn mit einer prickelnden Taubheit und ließ einen buntgefleckten Schleier über seine Augen tanzen. Er kannte dieses Gefühl, es war das selbe wie jenes, das er bei einem Hitzschlag bekommen hatte. Und während sich sein Magen zu einen schmerzenden, harten Ball zusammen zog, wurde ihm klar, dass er das Bewusstsein verlieren würde, sollte er nicht sofort etwas unternehmen. Seine Übelkeit löste dieses Problem, bevor er sich noch zu einer Gegenmaßnahme entscheiden konnte.

Mit zusammengebissenen Zähnen stürzte er die Treppe hinab, durch das Wohnzimmer und übergab sich ausgiebig in das Küchenspülbecken. Als er fertig war, spuckte er noch zwei Mal, öffnete dann den Einbauschrank über seinem Kopf und zog eine fast volle Flasche einer klaren Flüssigkeit hervor. Einige Sekunden blickte er auf den Wodka. Dann stellte er ihn Neben das Spülbecken und erbrach abermals.

Nachdem er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte ging er zum Telefon, hob den Höhrer ab und wählte mit zitternden Fingern die Nummer des Notrufes.


Fast zwanzig Minuten später hörte Paul das Martinshorn des Krankenwagesn, der gerader scharf an der Straße abbremste. Seufzend stand er auf und öffnete die Haustür. Sofort stürmten fünf weißgekleidete Gestalten mit schwarzen Atemmasken und einer Bahre an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Ein Sechster, welcher seine Maske und einen Koffer unter dem Arm hielt wandte sich an Paul. Es war ein großer, schwarzhaariger Mann, etwa um die vierzig, mit kantigen Wangenknochen und einer, etwas von Anstrengung geröteter, streng dreinblickenden Mine.

„Wo ist Ihre Frau?“, sagte er hastig und ohne Bergüßung.

„Kommen Sie, schnell ich zeig‘s Ihnen.“, begann Paul hervorzusprudeln. „Sie hat sich im Bad eingeschlossen...“

„Nein, sagen sie uns wo mir hin müssen“, schnauzte der Eindringling, fügte aber dann, als er den schockierten Ausdruck im Gesicht Pauls bemerkte, hinzu: „Sie könnten sich anstecken, wenn sie Sie angreift. Das Risiko ist schon bei und groß genug, obwohl wir Schutzanzüge tragen. Also?“

„Treppe dort hinauf- zw- zwzweite Tür l – nein rechts.“, stammelte er, wage mit der Hand in Richtung Stufen wedelnd, während sein Gehirn den verzweifelten Versuch unternahm sich gleichsam abzuschalten und Herr der Lage zu werden.

Bevor er auch nur einen weiteren Gedanken fassen konnte war der andere Mann samt seiner bepackten Gefolgschaft schon die Treppe hinauf gespurtet.

Paul setzte sich an den Esstisch und presste die Handflächen fest auf seine Augen um die Tränen zurückzuhalten.

Dies war nun wirklich zu viel! Sie würden seine Frau wie all die anderen nach Bitterwasser schaffen und er würde nie wieder in seinem ganzen Leben etwas von ihr hören. Vielleicht -wer konnte das schon wissen- hatte man alle bisherigen Infizierten umgebracht, oder man machte Experimente mit ihnen. Er mochte sich dies alles gar nicht vorstellen. Nein! Er musste es sich auch nicht vorstellen, denn dies war ja wohl wirklich albern. Bei jeder neuen Krankheit, die begann auf der Erde zu gassieren wurden wie Menschen noch ein Stück paranoider und diesmal, ja diesmal, war es so weit gekommen, dass sogar er, Paul Golchert, begann an irgendwelche geheimen Vorgänge in irgendwelchen ominösen Laboratorien zu glauben. Dies war die einzige Möglichkeit seiner Frau zu helfen, denn er hatte ja hautnah erfahren, wie verändert sie nun war.

Er zog seine Hände langsam nach unten zum Kinn und lauschte den Geräusche, die von Oben herunter drangen. Sie hatten wohl die Tür aufgebrochen -mein Gott diese Schreie- und versuchten sie zu überwältigen. Das hohe Knurren und Brüllen verwandelte sich mit einem Schlag in ein langgezogenes, noch schrilleres, Heulen. Als dieses verstummt war kehrte Ruhe ein. Herr Golchert seufzte und schüttelte verzweifelt den Kopf.

Mit lautem gestampfe seiner schweren Stiefel kam der kantige Mann die Treppe hinunter und ging auf Paul zu. Er achtete nicht auf ihn, bis er ihm die Hand sachte auf die Schulter legte.

„Herr Golcher?“, fragte er vorsichtig.

„Ja?“, hauchte dieser und drehte den Kopf.

„Ich muss kurz mit ihnen sprechen. Gehen wir-“, er sah sich kurz um. „Gehen wir am besten in die Küche.“

Paul nickte matt und erhob sich um ihm zu folgen. In der Küche lehnte er sich sofort, als wäre er für Stunden gelaufen, kraftlos gegen die Spüle, während sein gegenüber unbewegt stehen blieb.

„Nun,“, erhob er seine Stimme. „Ich muss mich wirklich entschuldigen, dass ich hier so grob hereingeplatzt bin,ohne mich vorzustellen, ohne ihnen zu sagen was wir tun werden, aber wir durften auf keinen Fall auch nur eine Sekunde verlieren. Mein Name ist Pretwitz, Doktor Ludwig... Hören sie mir zu?“

Paul dachte gar nicht daran. Gerade konnte er die anderen Sanitäter auf der Treppe hören. Einen Blick wollte er wenigstens noch auf seine Frau werfen, egal wie diese Pest sie entstellt hatte, vielleicht war es ja der letzte für eine lange Zeit. Nein, bestimmt nicht für immer. Nicht für immer.

Er versuchte einen Schritt auf die Küchentür zu zu machen, doch Dr. Pretwitz hielt in sanft am Arm.

„Bleiben sie hier. Sie sollten das nicht sehen.“, sagte der, den Kopf schüttelnt. „Glauben sie mir, es ist besser so.“

Nicht in der Lage widerstand zu leisten, sank Paul zurück gegen den Kühlschrank. Draußen schlugen die Hintertüren des Krankenwagens, falls es sich um einen solchen handelte, zu.

„So ist es besser.“ Der Doktor zog seinen Arm zurück. „Ich will Ihnen nur das sagen, was Sie wahrscheinlich sowieso schon wissen. Ich könnte es sein lassen, aber unsere Konzernpolitik verlangt, dass wir alle Betroffenen unmissverständlich über unser Vorgehen informieren müssen. Haben Sie das verstanden?“

„Ja.“

„Sehr gut. Ihre Frau ist am dem, was die WHO im Allgemeinen SCPM nennt, erkrankt. Ich nehme an, dass Sie Zeitung lesen und wissen was das ist. Fast alle Symptome sind schon in ihrem vollen Ausmaß ausgebrochen. In den nächsten Tagen wird auch die geistige Demenz fortschreiten bis ihr Verstand fast völlig ausgelöscht ist. Zu ihrer eigen Sicherheit und um eine Ansteckung zu verhindern werden wir sie bis auf weiteres im ehemaligen Sanatoriumkomplex Bitterwasser der Firma Benarex bei Waldeck eingeliefert. Besuche werden solange die Lage unsicher ist nicht gestattet. Wir versichern jedoch, dass ihre Frau gut behandelt wird und dass alles menschenmögliche getan wird um ihr zu helfen. Jedoch, einmal ganz unter uns... Die Chancen sind gleich Null, wenn sie verstehen, was ich meine.

Gut. Die Behandlung in der Einrichtung wird von Privaten wie gesetzlichen Krankenkassen vollständig übernommen, da sie als lebenswichtig und unaufschiebbar gilt. Eventuelle Fragen über versicherungstechnische Angelegenheiten oder die Art und Weise der Forschung, die...“

Paul hörte nicht mehr hin. Das wie mechanisch abgehackte Sprechen Pretwitz zog unwahrnehmbar an seinem Ohr und Geist vorbei, schien ihn in eine Art Trance zu versetzten, wollte ihn einlullen, mit sanften Fingern sein denken umfassen.

Als er plötzlich hoch schreckte war von Ludwig Pretwitz nichts mehr zu sehen. Auch als er zur Tür hinaus in die Einfahrt trat, war der große Kastenwagen verschwunden.

Sie hatten sie nun also mitgenommen. Wieder seufzte er tief. Sicher würde man sich gut um sie kümmern, schließlich waren das alles Leute, die sonst schwerreiche ältere Herrschaften in ihrer Umnachtung umsorgten.

Ja, nun konnte nichts tun, als abwarten und, ja, und hoffen.