Ein ungewisser Kreuzzug.

Die 6. Galgenstrickgeschichte

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Ein roter Geländewagen fuhr ohne große Eile, weit unterhalb der erlaubten Höchstgeschwindigkeit, über die sich bis zum Horizont durch die Maisfelder schneidende Schnellstraße, irgendwo im Mittleren Westen der USA. Der Fahrer des Wagens war ein blonder, sehr dürrer Mann Anfang sechzig, unrasiert und verschwitzt, der sich ab und zu nervös durch die strähnigen Haare strich, oder sich neurotisch auf diverse Taschen seines weißen Laborkittels klopfte. Wie lange er schon auf der Flucht war, das konnte er nicht sagen. Er wusste wohl welches Datum der heutige Tag hatte, konnte sich aber nicht mehr entsinnen, wann er mit dieser wahnwitzigen Odyssee begonnen hatte. Wahnsinn, ja genau, das war es von Anfang an gewesen! Wieso hatte er nur so eine Dummheit begangen? Es mussten jetzt schon Monate sein, in welchen er seine Wohnung nicht mehr gesehen hatte. Gut, seine Wohnung, das war alles, worum er sich grämte. Mehr als seine Bequemlichkeit vermisste er nicht und mehr hatte er auch nie zu verlieren gehabt. War das nicht der Grund gewesen, warum er sich überhaupt auf diesen kindischen Feldzug begeben hatte? Vielleicht, doch er glaubte eher, dass es an dieser unbändigen, alles umfassenden, eintönigen Langeweile gelegen hatte. Alles war bisher immer nach den selben Prinzipen abgelaufen, ob in der Weltpolitik mit ihren geheimen Verstrickungen und Logen, denen es allen nur ums Geld oder den Selbstzweck der Macht ging, in der Wirtschaft oder auch nur im Leben. Tagtäglich hatte er Mord und Totschlag in den Nachrichten gesehen, alle paar Monate gab es einen neuen Krieg mit neuen Zielen, neuen Waffen und neuen Toten, die doch alle immer die selben geblieben waren. Jeden Tag war er in seinem Laboratorium gesessen und hatte für die meisten dieser Kriege gearbeitet. Entweder indem er in der Entwicklung neuer Kampfstoffe eingesetzt worden war, oder gegen diese, mit einem Impfstoffprojekt, ankämpfte. Nie hatte es irgendetwas gegeben, was ihn noch überrascht oder sogar entsetzt hätte. Es war nur natürlich, dass er irgendwann ausbrechen musste und dazu war dies die beste Gelegenheit gewesen, daraus konnte ihm niemand einen Strick drehen, nein. Eigentlich war es ja ein besonders langweiliges Projekt gewesen und es hatte lange genug gedauert bis er herausgefunden hatte welchen Nutzen er daraus ziehen konnte. „Zu Risiken und Nebenwirkungen...“, kicherte er laut der Windschutzscheibe zu.

Eigentlich seltsam. Seinen Namen hatte er andauernd in den Radionachrichten, oder in den Fernsehern der billigen Motels, in welchen er logierte, gehört, doch nirgends war ein Fahndungsfoto von ihm erschienen, oder auch nur eine Beschreibung seinen Aussehens. Als Verbrecher und Staats-, ja mittlerweile sogar Weltfeind, hatte er bisher erstaunlich wenig Probleme gehabt sich im Innland fortzubewegen. Die Polizeikontrollen glaubten seinem gefälschten Führerschein ebenso, wie die inzüchtigen Ladenbesitzer und Farmer, welchen er in diesem Landstrich so oft begegnete. Das einzige, worüber er sich also wirklich Sorgen machen musste, das war sein, nun doch immer kleiner werdender, Bargeldvorrat. Schließlich konnte er es nicht riskieren zu einer Bank oder einem Geldautomaten zu gehen, Schecks akzeptierte man nicht und seiner Kreditkarte hatte er sich schon vor Wochen entledigt.

Er bremste, von plötzlicher Panik gepackt, mitten auf der Straße ab, holte seinen Geldbeutel aus dem Handschuhfach und blickte hinein. 500 Dollar blieben ihm noch. Das sollte eigentlich noch eine ganze weile halten, dachte er beruhigt, wenn er noch langsamer fuhr und die Nächte im Wagen verbrachte.

Liebevoll streichelte der Wissenschaftler dann über die große Styroporkiste, die er auf dem Beifahrersitz neben sich angeschnallt hatte. Bald würde er wieder einmal tanken müssen. Eine gute Gelegenheit also, seine Aufgabe fortzusetzen, zumal er die üblichen Orte für so etwas, wie Kaufhäuser oder Bürogebäude, in letzter Zeit eher mied. Man konnte schließlich nie vorsichtig genug sein. Und außerdem, wie wäre es wohl, wenn ein Dorf voller Arizona-Hinterwälder, oder in welchem Staat er sich auch immer gerade befand, feststellen musste, wie sich ihre dorftrottelige Bibelidylle langsam aufzulösen begann und durch Furcht, Chaos und wachsende Intoleranz ersetzt wurde?

Schließlich hob er den Deckel der Kiste ab und steckte sich eine der vielen, darin befindlichen, Glasampullen in eine Tasche seiner Hose, unter dem Kittel.

Mit aufheulendem Motor setzte er seinen Weg fort, und lenkte seinen Wagen auf eine Tankstelle, die am Horizont auftauchte, zu. Diese Bestand nicht nur aus einem verfallenen Holzschuppen, mit rostigen Zapfsäulen aus den vierziger Jahren davor, sondern beinhaltete, einige Meter entfernt, auch ein weißgestrichenes Wohnhaus mit einem niedrigen Lattenzaun der selben Farbe. Auf diese Entfernung konnte der Wissenschaftler gerade einige Kinder die ausgelassen im Garten spielten erkennen, sah aber auch den Polizeiwagen, der an einer der Zapfsäulen hielt.

Nun war es eine große Verlockung diese Familie in seinen Plan mit einfließen zu lassen, doch man konnte ihn so leicht entdecken.

Er war schon versucht einfach weiter zu fahren, doch sein fast leerer Tank ließ ihn anhalten. Was war auch so schlimm, wenn man ihn entdeckte? Vielleicht hatte er seine Seuche schon weit genug verbreitet und die noch frischen Ampullen in seinem Wagen würden überflüssig sein. Möglicherweise konnte er sie vor seiner Verhaftung aber auch noch verwenden. Viel Zeit blieb ihm auf jeden Fall nicht mehr, auch wenn man ihn nicht entdeckte.

Sein Pickup kam neben den Tankstellenverschlag, welcher gleichzeitig als Gemischtwarenladen zu dienen schien, zu stehen. Der Mann streifte, nach einigen Sekunden des Nachdenkens, seinen weißen Laborkittel ab, bevor er aus dem Wagen sprang.

Die Luft im Laden war noch drückender als die ungewöhnlich feuchte Hitze, welche vor der Tür herrschte. Ein fettleibiger Polizist stand ihm abgewandt vor einem staubigen Regal und begutachtete eine breite Auslage von Doughnuts, die Kassiererin, ein etwa achtzehnjähriges Mädchen mit in alle Richtungen abstehenden, roten Haaren und einem schmutzigen, mit einer wahren Schrotladung an Sommersprossen bedeckten Gesicht, saß, gelangweilt die Fäuste in die Backen gegraben, an einer verschmierten Glastheke. Ansonsten war der Laden irrgartenartig mit morschen Regalen, deren bleichblaue Farbe langsam abblätterte, zugestellt, auf welchen mal wohl alles finden mochte, was mach suchte, vorrausgesetzt man nahm sich hierzu genug Zeit und starb dabei nicht an einem Hitzschlag.

Er trat ein grüßte den Polizisten freundlich, welcher sich keine Mühe machte, ihn auch nur eines Blickes zu würdigen und mit einigen Päckchen Gebäck unter seinem feisten Arm zur Theke schlurfte. Langsam fragte sich der Wissenschaftler, ob er nicht doch etwas zu paranoid geworden war. Nirgendwo schien ihn irgendwer zu kennen, auch wenn jeder überall von ihm sprach, ihm Schmähungen und Flüche nachwarf, ihn einen Wahnsinnigen, einen Kranken, einen Terroristen nannte. Doch sie erkannten ihn nicht, er lief nicht in Gefahr seinen Häschern in die Arme zu laufen, oder auf irgendeine Art entdeckt zu werden. Oh, wie blind diese Brut für die Tatsachen war.

Als er auf der Suche nach etwas brauchbarem durch die Regale trottete verfiel er in Gedanken wieder auf sein übliches Klagelied über seine Spezies, die so klug gewesen war, das Feuer und vieles andere für sich zu nutzen, aber heute endgültig der Dekadenz zum Opfer gefallen war. Im Grunde, dachte er, passte er ganz gut in diese geistlose Masse von doch so intelligenten Wesen, wenn die Namen, die man ihm gab zutrafen. Schließlich war er ja auch nicht über Seinesgleichen erhaben. Was wäre dies für eine sinnlose Anmaßung gewesen! Er schuf schließlich keine bessere Welt mit seinen Taten. Pah! Was für einen Schöne Neue Welt wäre dies auch gewesen? Nein, er wollte ihnen allen eine Spiegel ihrer Verfehlungen vorhalten, an welchem sie lange zu kauen haben würden. Vielleicht.

Vielleicht nicht.

Beladen mit einigen Konserven trat er an den Tresen, bezahlte und ließ sich eine Zapfsäule öffnen. Ganz nebenbei zog er im Hinausgehen die Ampulle aus seiner Tasche, brach den Glaskopf ab und schüttelte den klaren Inhalt auf den quietschenden Ventilator, welcher am Eingang vergeblich gegen die erstickende Schwüle ankämpfte.

Als er abfuhr wunderte er sich nicht, dass sich das Gefühl des Triumphes, welcher er nach einer solchen Aktion immer genoss, dieses Mal nicht eingestellt hatte. Sicher, der Laden wurde von den Anwohnern bestimmt gut besucht, doch waren dies wohl nur wenige und noch weniger von ihnen würden überhaupt ein wenig betroffen sein. Vielleicht konnte er einfach so nicht weiterarbeiten? Ja, er brauchte etwas größeres, mit dem sich die Massen erreichen ließen. Möglicherweise sogar die ganze Welt. Wo ließ sich so etwas erreichen? Er musste mehr Menschen auf einmalinfizieren, ein Produkt mit weiter Verbreitung versäuchen, oder in ein Land mit höherer Bevölkerungsdichte...