"Das Zweite Buch der Welten - Was im Verborgenen liegt..." von Jaquimo Talaan
letzte Änderung: 14.04.2003 (sprachliche \xC4nderungen + Rechtschreibkorrekturen)

"Das Zweite Buch der Welten" and contained characters \xA9 2001-2003 by Christoph G\xFCnther.
Verwendung, \xC4nderung und kommerzieller Vertrieb nur mit meinem persönlichem Einverständnis. Dies gilt explizit (aber nicht nur) für die Charaktere Jaquimo Talaan, Ginuthal, Kirra, Jairree und Loma, an denen mein Herz hängt.

Ich habe eine Menge Arbeit in die Geschichte(n) gesteckt, auch wenn es mir Spaß gemacht hat. Wenn Du Zeit und Lust hast, schreib mir eine Email, ob Du die Geschichte mochtest oder nicht. Ich bin für jegliche ernstgemeinte Form von Kritik und/oder Lobeshymnen ;) zu haben.
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Und jetzt viel Spaß mit dem dritten Teil.

Was im Verborgenen liegt...


Die Sonne, die hoch über ihnen am Himmel stand, brannte gnadenlos auf sie hinab. Die Luft verschwamm in einiger Entfernung zu einem wabernden Flimmern. Das einzig nahezu Klare in Sichtweite war die mächtige Stadtmauer von Tullma. Den MaKri in seinem Gefolge machte die Hitze offenbar nichts aus, aber Talaan schwitzte unertr\xE4glich. Er wischte sich die dicke Schweißschicht von der Stirn und nahm einen tiefen Schluck aus dem Wasserschlauch. Stumm verfluchte er seine menschliche Gestalt.
   Kirra sah ihn zweifelnd an. "Hältst du das wirklich für eine Gute Idee? Du schwitzt dich ja beinahe zu Tode. Ich bin ohnehin sicher, dass die Menschen nur MaKri erwarten. Noch hast du Zeit, dich zurückzuverwandeln."
   Talaan schüttelte leicht den Kopf. Die Verlockung war groß. Vor zwanzig Tagen hatten sie sich auf den weiten Weg durch die Savanne gemacht, er damals noch in seiner wahren Gestalt. Doch als Reshero am fünfzehnten Tag ihrer Reise darauf hinwies, dass sie bald auf die ersten menschlichen Siedlungen treffen würden, konnte er seine Verwandlung nicht mehr hinauszögern.
   "Es ist der bessere Weg, glaube ich. Den Menschen wird es leichter fallen, sich mit uns zu einigen, wenn sie ein bekanntes Gesicht vor Augen haben. Sie werden hoffentlich denken, dass ich auch ein wenig ihre Interessen vertreten werde."
   Er versuchte, die Entfernung zur Stadt abzuschätzen. Nicht mehr weit, vielleicht eine Meile. "Und du weißt ja, wie die Menschen in dem Dorf auf euch reagiert haben. Es wird gut sein, wenn ein Mensch dabei ist, um die Menschen zu beruhigen."
   Das Dorf, durch das die MaKri vorgestern gekommen waren, war eine arme Bauernsiedlung, in der einige Familien lebten und Rinder züchteten. Als sie auf den ersten Einwohner getroffen waren, hatte er erschrocken die Augen aufgerissen, sich umgedreht und war schreiend davongestürzt. Diese Szene wiederholte sich ähnlich zwei weitere Male und dann war das Dorf wie ausgestorben. Einmal hatten sie noch ein Augenpaar erblickt, das aus einem Türspalt spähte.
   "Verhalten sich Menschen eigentlich immer so?"
   Die Frage Kirras galt Reshero, doch der hob abwehrend die Hände. "Mein Kind, die wenigen Bücher, die es über die Menschen gibt, berichten nur über die Geschichte ihrer Kultur und enthalten hier und da einige Landkarten, aber ihre Bräuche sind selbst mir zum Großteil fremd."
   "Sie hatten Angst.", stellte Rerrena fest. "Vor uns. So wie diese armen Bauern uns angesehen haben, könnte man meinen, sie hätten einen Blick in die unteren Höllen getan."
   "Dann bleibt nur zu hoffen, dass nicht alle so auf uns reagieren, sonst dürften die Verhandlungen schwierig werden.", brummte Tonri.
   "Bald werden wir es wissen...", meinte Talaan und blickte dabei in Richtung Stadttor. "Macht euch bereit und setzt euer gewinnenstes Lächeln auf. Ab jetzt wird jedem Zucken unserer Ohren eine Bedeutung beigemessen werden. Ich hatte noch nie das Vergnügen mit einem König zu sprechen, aber so wie sich die Menschen bei uns im Dschungel aufgeführt haben, werden wir bei ihm rehgleich vorsichtig sein müssen."
  
Das östliche Tor Tullmas stand weit offen, doch nur Wenige durchschritten es. In Richtung Osten lag nichts, was eine größere Bedeutung für die Menschen hatte. Zwei Wachen, die mit Hellebarden und einem eisernen Brustharnisch bewaffnet waren, versteiften sich, als sich die Gruppe näherte. Sie nahmen stramme Haltung an, als Talaan vor ihnen zu stehen kam, wirkten aber weiterhin kampfbereit.
   "Seid gegrüßt, Soldaten." Talaan deutete ein Nicken an. "Wir sind die diplomatischen Abgesandten des Volkes der MaKri. König Mohab erwartet uns."
   Der rechte Soldat, ein älterer Mann, neigte zackig sein Haupt und hob es auf die gleiche Weise wieder. "Seid willkommen, ehrwürdige MaKri, guter Herr... Der König, möge seine Herrschaft lange währen, teilte uns bereits mit, dass ihr eintreffen würdet. Aber es war nur von MaKri die Rede, guter Herr."
   Daraufhin meldete sich Reshero zu Wort, nachdem Talaan das Gesprochene übersetzt hatte. In seiner silberweißen Robe und seinem vom Alter leicht ergrauten Fell wirkte er ganz wie der erhabene Würdenträger, der er war. "Ich darf euch versichern, dass dieser junge Mann hier ein Abgesandter der Ältesten ist und für unsere Verhandlungen unabkömmlich sein wird."
   Talaan übersetzte seine Worte und die Wache nickte verstehend. "Natürlich, natürlich. Ich wollte euch nicht beleidigen, guter Herr. Bitte folgt mir, ich werde euch zum Palast bringen." Und zu dem Anderen zischte er: "Beweg dich endlich und gib Bescheid." Die zweite Wache salutierte kurz und rannte davon.
   "Ihr müsst uns verzeihen, aber wir wussten nicht, wann Ihr eintreffen würdet. Es ist so gut wie nichts für Euren Empfang vorbereitet."
   "Wir sind auch nicht hergekommen, um ein Bad in der Menge zu nehmen.", erwiderte Talaan. In Wirklichkeit hatte er den Eindruck, dass Mohab absichtlich auf einen größeren Empfang verzichtet hatte. Sie sollten sich wohl nicht zu bedeutsam f\xFChlen. Das war Martens erster diplomatischer Winkelzug.
   Als sie die breiten Straßen Tullmas entlanggingen, gerieten sie ins Staunen. Die Gebäude bestanden alle aus sandfarbenen, großen Steinblöcken, die meisterhaft verarbeitet zu sein schienen. Jedes hatte mindestens drei Stockwerke und große, geschwungene Fensteröffnung gaben ihnen ein luftiges, einladendes Aussehen. Die Straßen boten viel Platz, breite Treppen führten zu Plateaus hinauf, auf denen wieder Häuser standen. Überall gab es Grünpflanzen, schattenspendende Palmen und kleine Wasserbecken.
   "Das ist unglaublich.", hauchte Kirra ehrfurchtsvoll. Sie sah sich mit großen Augen um. Selbst auf Talaan, der natürlich bereits große Städte gesehen hatte, wirkte Tullma beeindruckend. Wie musste das alles hier erst auf die MaKri wirken? In dem Bauerndorf hatten sie zum ersten Mal überhaupt Bauten aus Stein gesehen.
   Mit der Zeit versammelten sich Leute auf der Straße und starrten die Gruppe an. Talaan nickte einigen von ihnen lächelnd zu und erntete größtenteils nur furchtsame Blicke. Ein Murmeln machte sich breit, als die Zuschauer untereinander zu tuscheln begannen.
   "Yanni!", schrie auf einmal eine Frau entsetzt. Talaan sah in ihre Richtung und entdeckte ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, dass auf ihn und die MaKri zugerannt kam. Vor Kirra blieb es stehen und blickte mit großen, dunklen Augen zu ihr auf. Kirra schmunzelte und das Kind begann ebenfalls verhalten zu lächeln. Yannis Mutter blieb hin und hergerissen ein paar Schritte entfernt stehen, wrang ihre Hände und sah voller Angst zu ihrer Tochter.
   "Bist du einer von den Dämonen, von denen Papa immer erzählt?", fragte die Kleine. Kirra ging vor ihr in die Hocke und stupste mit ihrer Schwanzspitze an die Nase des Kindes. Yanni lachte begeistert und stupste mit einem Zeigefinger zurück. "Glaubst du denn, dass ich ein Dämon bin?", übersetzte Talaan Kirras Antwort.
   Yanni schüttelte energisch mit dem Kopf. "Nein. Du bist nett." Sie winkte mit ihrer Hand und rannte zu ihrer Mutter zurück, die sich sichtlich entspannt hatte.
   Talaan beugte sich zu Kirra hinunter. "Du hast eben den ersten Menschen für uns gewonnen, Geliebte. Und noch mehr." Tatsächlich sahen jetzt einige der Menschen nicht mehr so verängstigt aus oder lächelten sogar zaghaft.
   Kirra stand auf und sah dem Kind lächelnd nach. "Wenn ich bedenke, dass ich Menschen einmal für Dämonen gehalten habe..." Sie schüttelte den Kopf. Tonri brummte zustimmend.
   Talaan wandte sich verwundert zu ihm um. "Du bist mitgekommen, obwohl du die Menschen für böse Wesen gehalten hast?"
   Der Schamane zuckte mit den Achseln. "Wenn es nötig ist, verhandle ich mit dem Höllenfürsten persönlich, um unser Volk zu retten."
   "Soweit dürfte es nicht kommen.", erwiderte Talaan und ging weiter in Richtung des Palastes. Die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, wurde mit jedem Schritt schwerer. Die Bürger der Stadt zählten nicht wirklich. Es galt vor allem den König zu überzeugen.
   Wie unrecht er mit dieser Annahme hatte, sollte sich bald herausstellen.
  
Die Tür zum Thronsaal war protziger, als alles, was Talaan je in seinen Leben gesehen hatte. Sie bestand aus zwei riesigen Hälften, die je gute fünf Meter breit waren und ebenso hoch zur Decke ragten. Die Oberfläche der Tür musste wohl mit Gold bedeckt sein, doch bei all den Edelsteinen, die in kunstvollen Mustern ein wahres Mosaik bildeten, konnte er sich da nicht sicher sein. Dieses... Tor sollte wohl jedem eintretenden Besucher den unglaublichen Reichtum des Herrschers beweisen, aber Talaan konnte nur traurig den Kopf sch\xFCttel. Diese armen Bauern, durch deren Dorf sie gekommen waren, würden mit einem Bruchteil dieser Edelsteine ein Leben lang satt und anständig leben können.
   Ein schallender Gongschlag ertönte, und die Tür schwang gemächlich auf. Sie gab den Blick auf einen riesigen, ovalen Saal frei, an dessen anderem Ende in vielleicht hundertfünfzig Schritt Entfernung der Thron des Königs auf einem Podest aus Marmor stand. Die Decke wölbte sich zu einer mit Silberornamenten ausgelegten Kuppel.
   Ein Diener, der direkt am Eingang stand, ließ mit lauter Stimme vernehmen: "Seine allmächtige Majestät, der Herrscher des Vereinigten Muronischen Reiches, Mohab der Fünfte, Sohn des Mohab, gewährt diesen Unterhändlern des Volkes der MaKri die Ehre eines Empfangs!"
   Der Mann, der auf dem Thron saß, ließ sich zu einem gnädigen Nicken herab. Der Gong wurde erneut geschlagen und der Vasall fuhr fort: "Majestät, vor euer Antlitz treten nun der Abgesandte Jaquimo Talaan, seine persönliche Beraterin Kirra, der Schriftgelehrte Reshero, Schamane Tonri, Maigan Sorral und Rerrena, Expertin für das Östliche Orakel."
   Das Östliche Orakel?, wunderte sich Talaan, während sich die Unterhändler in angemessenem Schritt dem König näherten. Diese Information konnte nützlich sein. Rerrenas Augen hatten angefangen zu leuchten, als sie es vernommen hatte. Also war das auch für sie etwas Neues.
   Am Thron angekommen verneigten sich alle auf respektvolle Weise. "Es ist uns eine Ehre, Hoheit. Wir freuen uns über die Gastfreundschaft, die uns zuteil wird und hoffen auf fruchtbare Verhandlungen."
   Talaan fixierte den König genauer. Er war vielleicht vierzig Jahre alt, wirkte sehr reserviert und hatte harte Gesichtszüge. Als er erneut gnädig lächelnd den Kopf neigte, erreichte dieses Lächeln seine Augen nicht. Sie waren kalt und musterten sie alle abschätzend.
   Zu beiden Seiten standen zwei Männer, die in ihren eher schlicht bestickten Roben einen religiösen Eindruck machten. Sie wirkten in sich ruhend und intelligent. Im Hintergrund stand ein Mann, dessen Gesicht Talaan nicht erkennen konnte, da es im Schatten einer Kapuze verborgen lag. Bei dieser Hitze eine Kutte mit Kapuze zu tragen war absurd und Talaan wurde den Eindruck nicht los, dass dieser Mann ihn unentwegt anstarrte.
   "Lasst Euch versichern, dass die Freude auch auf meiner Seite liegt." Der Tonfall des Königs war gekünstelt warm und gleichzeitig kalkulierend. Seine Blicke ruhten auf Sorral. "Sieh an, ein Maigan. Wie ich hörte gab es lange keinen mehr bei eurem Volk. Worin liegt eure 'Gabe'?"
   Talaan übersetzte und Sorral neigte erneut sein Haupt, bevor er antwortete. "Ich vermag die Kraft von Blitzen zu lenken, Eure Hoheit."
   Mohab nahm das gelassen hin. Ein leicht ver\xE4chtlich Lächeln lag auf seinen Lippen, seine Augen blieben weiterhin kalt. "So, so." Dieser Mann ist gefährlich., dachte Talaan abschätzend. Die Verhandlungen würden nicht leicht werden. "Es wird Euch doch nicht stören, dass ich meine eigenen Mystiker um mich versammelt habe. Ich will Euch nicht unterstellen, dass Ihr vorhabt mich anzugreifen, aber ich ziehe es stets vor, auf der sicheren Seite zu stehen."
   Der Blick Mohabs wanderte zu Rerrena. "Es freut mich, endlich eine Expertin des Östlichen Orakels kennen zu lernen. Bedan, einer meiner Gelehrten, wird bestimmt ausgedehnte Gespräche über dieses Thema mit Euch führen wollen." Während er das sagte, glomm gut versteckt eine gewisse Gier in den Augen des Herrschers. Er schien zu versuchen, Rerrenas Wissen in Gold abzuwiegen.
   "Und warum seit Ihr hier, Schamane Tonri?", fuhr er mit seiner Befragung fort.
   Tonri erwiderte ohne Zögern: "Ich will gewährleisten, dass die Geister unserer Ahnen uns während der Verhandlungen wohl gesonnen sind, Majestät." Das war eine glatte Lüge. Die Geister der Ahnen hatten kein Interesse mehr am Diesseits. Tonri war hier, um seine Geistesbrüder im Dschungel über die Verhandlungen auf dem Laufenden zu halten. Und sollte er sich nicht mindestens alle drei Tage melden, wären die MaKri vorgewarnt, dass die Abgesandten nicht überlebt hatten und es Krieg geben würde.
   Doch Mohab nickte nur bedächtig, wieder unscheinbar geringsch\xE4tzig lächelnd. Er hielt nicht viel von der primitiven Kultur der MaKri, soviel stand fest. Nun wandte er sich Kirra zu.
   "Ein wenig verwundert bin ich allerdings über Eure Anwesenheit, Kirra. Ihr scheint wahrlich nicht alt genug, um eine Beraterin bei solch bedeutsamen Verhandlungen zu sein."
   Der Mann mit der weißen Kapuzenrobe beugte sich vor und flüsterte Mohab etwas ins Ohr. Der König hob erstaunt die Augenbrauen und sah abwechselnd Talaan und Kirra an. "Ihr seid verheiratet?"
   Talaan versuchte, den Schatten der Kapuze zu durchdringen. Der Fremde musste eine scharfe Beobachtungsgabe haben, um so schnell herauszufinden, wie Talaan zu Kirra stand. "So ist es, Eure Majestät. Aber nicht nur aus diesem Grunde ist Kirra hier. Sie wird mir eine große Hilfe sein, da bin ich sicher."
   Mohab musterte ihn abschätzend. "Ich bin überrascht, dass ein Mensch auf Seiten der MaKri an den Verhandlungen teilnimmt. Und dazu noch ein solch junger. Sicherlich werdet Ihr nur als Übersetzer tätig sein."
   "Im Gegenteil, Hoheit. Ich werde diese Verhandlungen leiten. Meine Anwesenheit und das Vertrauen meines Volkes in mich sollen beweisen, dass die Unterschiede zwischen unseren Rassen nicht unüberwindbar sind."
   Bei diesen Worten versteifte sich der Mann in der weißen Robe. Rasch trat er wieder vor und flüsterte Mohab etwas zu. Die Augen des Königs verengten sich kaum merklich und sein Blick schien Talaan zu durchbohren. Dann beriet er sich eine ganze Weile murmelnd mit dem Unbekannten.
   Schließlich sagte er mit kalter Stimme: "Ich schätze es nicht, wenn Verhandlungspartner Geheimnisse voreinander haben, Jaquimo Talaan. Ihr seid mehr, als es den Anschein hat. Ihr seid auch ein Mystiker?"
   Diesmal war Talaan es, der sich versteifte. Wer war dieser verdammte Fremde? Er schien jedes Geheimnis über ihn zu kennen. Konnte er vielleicht seine Gedanken lesen? "So ist es, Majestät. Ich habe es nicht erwähnt, da ich es für bedeutungslos hielt. Ich bin hier um zu verhandeln, und meine Fähigkeiten sind ohne mein Zauberbuch ohnehin nur sehr bescheiden."
   Diese Worte schienen Mohab nicht im Geringsten zu beruhigen. Talaan ging in die Offensive über. "Da es keine Geheimnisse zwischen uns geben soll, würde ich gerne erfahren, wer Euer Berater ist, Majestät. Er scheint mich zu kennen, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, woher."
   Mohab nickte dem Mann in der weißen Robe zu.
   "Erkennst du einen alten Freund nicht wieder, Talaan?" Ein unheimlicher Schauer lief Talaans Rücken hinunter. Er kannte diese Stimme! Der Fremde trat vor und griff mit einer übertrieben dramatischen Geste nach seiner Kapuze. Langsam zog er sie zurück und Talaans Herz gefror.
   Wie konnte das sein? Wie konnte dieses... dieses unmenschliche Ding ihm über den Tod hinaus folgen? Schwach hauchte er seinen Namen: "Marten."
   Marten verneigte sich spöttisch. Auch wenn es nach purer Höflichkeit aussah, konnte es nur Spott sein. "Du weißt gar nicht, wie sehr es mich freut, dich wiederzusehen, Jaquimo."
   Mohab wedelte Marten ungehalten mit der Hand fort und Marten verneigte sich erneut, nicht weniger spöttisch, da war Talaan sicher. Jetzt wusste er, wer der wahre Gegner bei den Verhandlungen sein würde.
   "Also kennt Ihr Euch.", stellte Mohab mit einem nebensächlichen Tonfall fest. "Und Ihr seid Freunde?"
   Marten funkelte Talaan herausfordernd an. Seine Augen sprachen Bände von Hohn und Arroganz. "Man könnte sogar sagen, ich habe aus ihm gemacht, was er jetzt ist, Majestät. Aber unsere Freundschaft wird meiner Loyalität zu Euch nicht im Wege stehen."
   "Könnt Ihr dasselbe von Euch behaupten?", hakte Mohab nach.
   Talaan musste sich zusammennehmen, um keinen Feuerball in Martens grinsendes Gesicht zu schleudern. Seine Zeit würde vielleicht noch kommen. Solange die Verhandlungen andauerten, würde Marten am Leben bleiben. "Ich werde meine Beziehung zu ihm außer Acht lassen, Majestät. Meine Loyalität gilt den MaKri."
   "Gut, gut.", winkte der König ab und wirkte auf einmal ziemlich desinteressiert. "Dann werden die Verhandlungen morgen zur zweiten Nachmittagsstunde beginnen. Fühlt euch derweilen in meinem Palast willkommen."
   Die Abgesandten verabschiedeten sich der Reihe nach und zogen sich dann zurück. Während sie durch den Saal schritten, konnte Talaan deutlich Martens Blicke auf seinem Rücken spüren. Kirra flüsterte ihm zu: "Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Wer ist das?"
   "Wir haben die Verhandlungen so gut wie verloren, wenn wir diesem Mann nicht die Zügel aus der Hand nehmen. Er ist ein Schlächter. Er war es, der mich in meinem letzten Leben getötet hat."
  
Talaan ging unruhig in dem großen Raum auf und ab, der alle Zimmer der MaKri miteinander verband. Die "Diplomatengemächer", wie sie einer der Diener genannt hatte, bildeten eigentlich einen eigenen Flügel in dem riesigen Gebäude. Wie überall im Palast herrschte auch hier überdeutlicher Reichtum vor. Weiche, vollendet gefertigte Teppiche bedeckten den ganzen Boden, Bahnen aus Samt oder einem dem Samt \xE4hnlichem Stoff bedeckte die Wände und durchscheinende Vorhänge wiegten sich träge im leichten Wind, der den Palasthügel umstrich. Mohab hatte, offenbar um ihnen zu schmeicheln, dem Inventar des Zimmers ein paar Tische von MaKri-Handwerk hinzugefügt. In all dem Pomp wirkten die eher schlichten, wenn auch meisterhaft verarbeiteten Möbel eher fehl am Platz.
   Doch all das sah Talaan nicht wirklich. Seine Gedanken drehten sich. Die Verhandlungen konnten an Marten scheitern und er konnte Marten nicht ausschalten, ohne die Verhandlungen zunichte zu machen. Und wie kam er hierher? Was wollte er? War es ein Fehler gewesen, ihm in der Gestalt seines alten Ichs gegenüberzutreten, oder war es ein Vorteil, vor Marten seine MaKri-Form und seine neuen Fähigkeiten verborgen zu halten?
   Zumindest würde Marten ihn nicht sofort wieder töten können, auch er war gegenüber Mohab an eine erfolgreiche Einigung zwischen MaKri und Menschen gebunden. So hoffte Talaan zumindest.
   Die MaKri saßen auf den Liegen des Vorzimmers und folgten ihm stumm mit ihren Blicken. Wenigstens musste er seine Entscheidungen nicht alleine treffen. Dazu waren sie hier.
   "Welchen Eindruck habt ihr gewonnen?", fragte Talaan schließlich.
   Rerrena meldete sich als Erste zu Wort. "Ich habe nun keine Erfahrung mit menschlicher Mimik, aber die Art, wie Mohab mich angesehen hat, behagt mir nicht. Er will das Orakel haben, oder soviel wie er von ihm haben kann."
   Reshero blickte von einem Buch auf, in dem er Notizen machte, und nickte zustimmend. "Leute wie er sind der Grund dafür, dass wir vor vielen Jahrhunderten die Ältestenräte ins Leben gerufen haben. Mohab hat zuviel Macht und noch mehr Gold und er ist sich dessen durchaus bewusst. Er wird uns bei den Verhandlungen nichts schenken.
   Ist euch aufgefallen, dass er mich als einzigen nicht beachtet hat? Ich bin nicht eitel, deswegen sage ich das nicht, aber er sieht in mir weder eine Gefahr noch einen Wert. Er hat uns alle geschätzt und abgewogen. Und so wie ich das sehe, hält er sich für die einzig wahre Macht in tausend Meilen Umkreis."
   Tonri blickte ärgerlich drein. "Seine Reaktion über meine Fähigkeit mit den Geistern unsrer Ahnen sprechen zu können, war nur all zu deutlich. Er hält uns für rückständig, dabei sind es er und sein Volk, welche die Augen vor dem Jenseits verschließen." Seine Worte waren nur ein verärgertes Brummen.
   "Diese ,Mystiker' waren reine Provokation.", fügte Sorral hinzu. "Mohab sollte wissen, dass wir keinen Anschlag auf ihn planen. Wir sind schließlich MaKri und ein Mord würde unsere Probleme nur verdoppeln. Er hat seine Hexer nur herbeigerufen um uns zu zeigen, dass er alles besser bieten kann, was wir zu leisten vermögen. Deshalb auch der Hinweis auf Belan, einen seiner Gelehrten. "
   "Der ganze Thronsaal dient diesem Zweck.", warf Reshero ein und kritzelte irgend etwas in sein Buch. "Ich könnte Tage damit verbringen die Statuen, Mosaike und Wandbehänge zu studieren. Er scheint sich sehr auf das zu verlassen, was andere Leute für ihn tun. Deswegen ist er hart. Wenn diese Menschen seiner Kontrolle entgleiten, kann er selbst nichts mehr leisten."
   "Was mich auf seinen Berater bringt. Wer ist eigentlich dieser Marten, den du zu kennen scheinst?", fragte Tonri beiläufig. "Und wieso kennt er deine Menschliche Gestalt, wenn du sie erst durch die Erste Schrift des Orakels erlangtest?"
   Talaan hielt in seiner Wanderung inne und sah den alten Schamanen düster an. Die Frage, die er am wenigsten hören wollte.
   "Du musst es ihnen sagen.", beschwor ihn Kirra mit sanfter Stimme. "Selbst ich weiß noch nicht alles."
   Betrübt nickte er. Sie hatte natürlich Recht. Marten war der wahre Gegner. Um ihn im Zaum zu halten, mussten die anderen einfach im Bilde sein. Mit einem mal war Talaan das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit.
   "Es gibt da etwas über mich, von dem ihr keine Ahnung habt.", begann er also. "Wie ihr, vor allem Tonri, wisst, bin ich vor einiger Zeit wie aus dem Nichts in der Großen Stadt aufgetaucht. Ich habe euch alle glauben lassen, dass ich weit aus dem Norden stamme, doch dass ist nicht die Wahrheit." Die versammelten MaKri, außer Kirra, warfen sich überraschte Blicke zu.
   "Ich weiß nicht genau, wie ich es in Worte fassen soll, aber..." Er wusste es tatsächlich nicht. Dieses Wandeln zwischen den Welten war ihm selbst ein Rätsel. "Dieses Leben, dass ich lebe, ist nicht mein erstes. In jedem neuen erwache ich einfach an einem fremden Ort in einer anderen Welt und in einer neuen Gestalt."
   Die Kri fingen alle an, wild durcheinander zu reden. Selbst Tonri, den Talaan noch nie anders als besonnen erlebt hatte, wirkte aufgeregt. Talaan hob abwehrend die Hände und versuchte sie zu beruhigen.
   "Lasst mich bitte ausreden, meine Freunde. Ich bereue es ehrlichen Herzens, dass ich euch angelogen habe, aber bei meiner Vergangenheit versteht ihr das vielleicht. Hätten die MaKri mich ausgestoßen, hätte ich nur noch zu den Menschen gehen können..."
   "Es war deine Bestimmung, zu uns zu kommen, Talaan.", sagte Tonri ernst. "Die Erste Schrift mit dem Wandlungszauber beweist es."
   Talaan nickte bedächtig. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Er war wohl das einzige Wesen auf diesem Planeten, das diesen Zauber hatte anwenden können.
   "Worauf ich hinauswollte ist Folgendes: Der Übergang von einer Welt in die andere scheint der Tod zu sein. Und Marten kenne ich aus meinem letzten Leben. Er ist der Mann, der mich dort getötet hat."
   "Dann ist Marten so wie du.", schlussfolgerte Reshero.
   "Marten ist nicht wie ich!", brauste Talaan auf. "Dieser Mann ist ein Schlächter! Er hat Dutzende Menschen auf dem Gewissen, die er nur getötet hat, um an mich heranzukommen! Er hat eine dunkle Seele und ich weiß nicht einmal, was er ist. Er bewegt sich mit unmenschlichem Geschick und unmöglicher Geschwindigkeit. Wenn es auf der Welt Dämonen gibt, dann ist er einer.
   Er wusste über mich bescheid, über die Art meiner Existenz, als selbst ich nicht einmal ahnte, was auf mich zukam. Nun ist er hier, in dieser Welt und war nicht einen Deut überrascht mich zu sehen."
   Daraufhin folgte ein langes Schweigen. Jeder dachte über das nach, was er gesagt hatte. "Was sollen wir also tun?", fragte Kirra endlich.
   "Marten ist nicht der König. Auch wenn er viel Einfluss auf Mohab hat, so kann er uns doch nicht offen angreifen. Wenn wir es schaffen, den König von unserem Standpunkt zu überzeugen, kann uns der Frieden gelingen. Aber ich fürchte, Marten wird jetzt um so entschlossener gegen ein Abkommen vorgehen, da ich auf eurer Seite stehe."
   Ein bedrücktes Schweigen machte sich breit. Talaans Gedanken wirbelten umher. Marten, noch andere Orakel, ein gieriger und harter König auf dem Thron der Menschen. Das waren zuviel schlechte Neuigkeiten für einen Tag. Es musste doch einen Ausweg geben! Doch gleich, wie sehr er grübelte, kam ihn nicht eine brauchbare Idee.
   "Was sollen wir jetzt also unternehmen?", brach Sorral endlich die Stille.
   "Die Verhandlungen haben noch nicht einmal richtig begonnen. Der Empfang Mohabs war ein wenig kühl, aber vielleicht hat das nichts zu bedeuten.", warf Kirra hoffnungsvoll ein. "Vielleicht sind es ja auch nur die Unterschiede zwischen unseren Kulturen." Wenn Martens Einfluss gering genug war, konnte das sogar stimmen.
   "Das Orakel.", erinnerte Sorral düster und Rerrena nickte zustimmend. "Es sagte, das Herz unseres Feindes sei verdorben von Bosheit." Die anderen stimmten zu.
   "Aber wer ist unser Feind?", fragte Talaan bedächtig. Diese Frage hatte er sich als Vertreter der MaKri, nicht als Martens Gegner immer wieder gestellt, seit er Marten gegenübergestanden hatte. Die Gier in Mohabs Augen. War sie eingeflüstert oder kam sie von ihm selbst?
   "Bisher nahmen wir an, dass es der Führer der Menschen sei.", grübelte Rerrena mehr zu sich selbst gewandt. "Ich bin nie auf die Idee gekommen die Worte des Orakels anders zu interpretieren."
   "Ihr habt es nicht gefragt?" Talaan konnte es nicht glauben. Er erntete nur ein mehrköpfiges, betretenes Kopfschütteln. Wieso sollten sie auch. Marten war vollkommen unerwartet hier. Er gehörte nicht in diese Welt.
   "Aber in einem Punkt hat Kirra recht.", begann Talaan seine Erläuterung. "Es gibt einen kulturellen Unterschied, der für die Verhandlungen essenziell wichtig ist.
   Was mir an den MaKri am besten gefiel, als ich sie kennen lernte, war ihre Direktheit. Wenn ihr etwas braucht, sagt ihr es. Wenn ihr etwas entbehren könnt, auch. Keiner versucht den anderen bei Geschäften hereinzulegen."
   Er wiegte den Kopf bedachtsam hin und her. Genau diese Vorzüge würden jetzt ein Problem darstellen. Wie sollten sie willk\xFCrlich lernen zu... wie hatte er das in seinem ersten Leben genannt... zu pokern. Aber sie mussten es lernen.
   "Die Menschen, und allen voran solche, die Türen aus Gold und Edelsteinen haben, sehen in solcher Ehrlichkeit nur eine Schw\xE4che. Sie versuchen stets den größtmöglichen Vorteil für sich zu erlangen, auf Kosten von Anderen. Sie nutzen das Feilschen, Winkelzüge und Intrigen, um ihr Ziel zu erreichen. Versteht ihr das?"
   Dem Ausdruck auf ihren Gesichtern zu Folge war es nicht so. Also versuchte Talaan, es ihnen so gut wie möglich zu erklären. Doch viele Dinge passten nicht in den von Ehrlichkeit geprägten Verstand der MaKri.
   Sie redeten noch eine Weile über die Verhandlungen, kamen aber weder zu neuen Erkenntnissen, noch hatte Talaan den Eindruck, dass sie seine Belehrungen über menschliches Verhalten wirklich mit dem Herzen annahmen. Es spielte hoffentlich keine Rolle. Er würde schließlich die Verhandlungen führen.
  
Sie saßen sich am Verhandlungstisch gegenüber und lächelten sich an, als wären sie gute Freunde oder wohlwollende Bekannte. Zumindest bei den MaKri war es ehrlich gemeint.
   Der Tisch selbst war ein großes Unget\xFCm, über und über mit Schnitzereien versehen, das einen beachtlichen Abstand zwischen die beiden Gruppen brachte. Auf Seite der Menschen hatten Mohab persönlich, zu seiner Rechten Marten und etliche Schriftgelehrte platzgenommen. Zu seiner Linken saßen die Mystiker, heute waren es vier, die Talaan und Sorral nicht aus den Augen ließen.
   Vor den Menschen verteilt stapelten sich alte Bücher und Landkarten. Auf der Seite der Kri wirkten die wenigen Bücher und Karten, welche Rerrena und Reshero mitgebracht hatten, wie verloren. Mohab hatte einmal mehr bewiesen, dass er von allem mehr besaß.
   "Ich hoffe, ihr hattet an eurer Unterbringung nichts auszusetzen, werte Gäste.", begann Marten das Gespräch. Er strahlte eine übernatürliche Freundlichkeit aus, die auf ihre Weise erschreckend war. "Wenn doch, lässt sich bestimmt etwas arrangieren."
   Es gab tatsächlich etwas, das Talaan störte: die Soldaten, die vor den Türen und Fenstern der Gemächer standen. Aber Marten würde ihm darauf nur sagen, dass sie natürlich nur dem Schutz der MaKri galten und selbstverständlich kein Misstrauen gegenüber den Gesandten ausdrücken sollten.
   Nachdem die Delegation ihren Dank geäußert hatten, begannen endlich die Verhandlungen. Zu Talaans Erleichterung sprach Mohab die meiste Zeit und Marten beschränkte sich auf ergänzende Einwürfe.
   Der König sprach jetzt wie zu Ebenbürtigen mit ihnen und brachte nach und nach seine Anliegen vor, wobei er jedes kleine Detail umschweifend anging, um das Gewicht seiner Bitten durch schöne Worte zu maskieren. Hätte Talaan die Verhandlungen nicht geleitet, wäre er bestimmt eingeschlafen.
   Mohab wollte Zugang zu den Hallen des Lichts. In welchem Ausmaß? Natürlich wollte er persönlich an der Weisheit des Orakels teilhaben. Und nein, das allein würde ihm nicht genügen. Seine Gelehrten wollten es eingehend studieren. Ob ihm ein ausführlicher Gedankenaustausch zwischen den Gelehrten beider Völker nicht ausreichen würde? Das wäre zwar ein Anfang, aber über weiteres sollte dann später verhandelt werden.
   Nun sah Talaan die Zeit gekommen, seinerseits ein paar Fragen zu stellen. Wie stand es mit der Möglichkeit, dass MaKri die anderen Orakel besuchten? Lagen sie im Reich Mohabs? Der König erwiderte, das wäre selbstverständlich der Fall und er wäre gerne bereit, später näher darauf einzugehen.
   So ging es weiter. Bürger, die zum Orakel pilgerten, brauchten Schutz durch Soldaten Mohabs. Natürlich vor den Gefahren des Waldes, nicht etwa vor den MaKri. Wie viele Soldaten es sein könnten, Proviant, Unterkunft, die Stärke der persönlichen Leibgarde Mohabs und vieles mehr. Wie zufällig ließ der König die Frage fallen, wie lang denn der Weg zum Orakel wäre und ob er durch von den MaKri besiedelten Raum führen sollte.
   Hier blockte Talaan behutsam ab. Wo sich die Halle des Lichts befand war das wertvollste Geheimnis der MaKri. Ein kleines Geplänkel um Misstrauen und Vertrauen zwischen Verhandlungspartnern brach aus und führte zu keinem Ergebnis. Mohab vertagte die Verhandlung auf den nächsten Tag und ging.
   Talaan war sicher, dass dies alles nur ein kalkuliertes Schauspiel war. Mohab wusste genau, dass die MaKri den Standort des Orakels nicht preisgeben konnten, solange noch die Möglichkeit eines Krieges bestand.
   Obwohl nur vier Stunden vergangen waren, fühlte sich Talaan erschöpft. Die ganze Zeit über war er wachsam wie auf der Jagd gewesen. Jede Geste, jedes Wort konnte eine Bedeutung haben, die es zu erfassen galt.
   Die anderen MaKri strebten zu den Quartieren zurück, aber Talaan stand der Sinn mehr nach einem Spaziergang im Palastgarten. Sein Kopf brummte und er sehnte sich nach Ruhe.
  
Der Garten des Königs war wirklich ein Wunder. Das hier gedeihende Leben machte es in seiner Zahl und Vielfalt selbst dem Dschungel streitig. So viele fremdartige und wunderschöne Blumen, Büsche und winzig zarte Grünpflanzen hatte Talaan selbst in den Blumenhainen der Elfen nicht gesehen.
   Er fragte sich, ob Mohab diesem Garten Beachtung schenkte. Vorstellen konnte es Talaan sich nicht so recht. Egal wo er hinblickte, sah er eine Symphonie aus lebenden Farben und vollendeter Schönheit. Das passte nicht zu dem riesigen, goldenen Tor im Thronsaal.
   "Himmlisch, nicht war?", seufzte Marten übertrieben hingebungsvoll und trat hinter einem Busch hervor, der an einer Wegkreuzung wuchs. "Vierunddreißig Gärtner, wahre Künstler ihres Faches, sind nötig, um dem ständigen Verblühen, Sterben und Verfall entgegenzuwirken." Marten kicherte, als kenne er einen besonderen Witz, den er loszuwerden gedachte. "Dabei hat König Mohab diesen Garten nur anlegen lassen, um seine wertvolleren Gäste zu beeindrucken. Welch eine Schande."
   Martens erneutes Kichern ließ Talaan schaudern. Es war nicht das Lachen eines Irren, aber ein absurd fröhlicher Unterton ging in diese Richtung.
   "Warum gibst du dich mit derart vergänglichem Leben ab, Talaan?" Martens Gesicht war mit einem Schlag ernst und seine Augen funkelten hart. Vorsichtig ergriff er eine große, dunkelrote Blüte und roch daran. "Es erlischt in einem Wimpernschlag, gemessen an unser beider Leben." Mühelos pflückte er die Blüte von ihrem Stängel und zerrieb ihre Blätter zwischen den Fingern. "Es ist wertlos."
   "Manchmal braucht es ein kurzes, intensives Leben, um Schönheit hervorzubringen, Marten. Du solltest es verstehen, sieh dich an.", erwiderte Talaan trocken.
   Marten hob die Augenbrauen und zeigte sein falschestes Grinsen. "Du bist immer noch zu Scherzen aufgelegt, Elfenfreund? Selbst nachdem ich dich umgebracht habe?" Wie ein tadelnder Lehrer schüttelte er den Kopf. "Ich frage mich, ob dir immer noch danach zumute ist, wenn ich dir erzählt habe, welche Konsequenzen dein Tod hatte.
   Ein ganzes Dorf wurde durch meine Hand ausgelöscht. Schrecklich, nicht war? Sie hatten keinen schnellen Tod, dessen kannst du gewiss seien. Ich habe sie nur getötet, weil du nicht mehr da warst, um mich aufzuhalten." Die Stimme des Mannes war kaltes Eis. "Es ist deine Schuld, Jaquimo."
   Talaan zweifelte nicht einen Augenblick an der Wahrheit über die Gr\xE4ueltaten. Er hatte die anderen Opfer Martens mit eigenen Augen gesehen, während seiner Jagd auf diesen Dämon. "Du verdrehst die Wahrheit. Ich konnte dich nicht besiegen, du warst mir überlegen."
   Martens Blick bohrte sich in seinen Kopf. "Du warst schwächer als ich, weil du ein Jahrtausend mit den Elfen spielen musstest, anstatt deiner Bestimmung zu folgen und Macht zu erlangen. Du warst schwächer, weil du nie auf die Idee kamst, die Art deiner Existenz zu hinterfragen. Und du bist endgültig gestorben, weil du es zugelassen hast. Du warst schwach aus Trauer um deine Liebe. Du wolltest ihr in den Tod folgen - nein wie romantisch." Zynismus troff von den Worten, die seinen Mund verließen. "Und selbst damit hast du versagt, nicht war?"
   "Du verstehst nichts von der menschlichen Seele, Marten.", widersprach Talaan schwach. Wie Recht Marten doch hatte. Anstatt mit Ginuthal vereint zu sein hatte er sich eine neue Frau genommen. Diese Zweifel kamen nicht oft, aber sie kamen. Und Marten hatte sie getroffen. "Ich würde deine Macht nicht haben wollen. Sie dient nur dem Tod und der Zerstörung."
   Mitleidig sah Marten ihn an. "Du bist ein schrecklicher Weltverbesserer, nicht war? Erkennst du überhaupt die Möglichkeiten, die dir offen stehen? Selbst wenn du jetzt so kämpfen könntest wie ich, Elfenfreund, würdest du nicht einmal im Ansatz die Macht besitzen, über die ich verfüge. Sieh dich um. Mohab ist der König, aber ich lenke ihn hier und da ein wenig in die richtige Richtung. Nicht dass es ein großer Aufwand wäre. Sein Charakter ist so herrlich verdorben von der Gier nach Macht, Gold und Unsterblichkeit."
   "Es würde Mohab bestimmt interessieren, wie du über ihn sprichst."
   "Ha! Ich glaub' er weiß es sogar. Komm nicht auf den Gedanken, dass die Sterblichen dumm und ungefährlich sind. Aber ich besitze dennoch sein volles Vertrauen. Ich habe aus ihm gemacht, was er jetzt ist. Den mächtigsten König der bekannten Welt."
   "Und er hat nicht versucht dich umzubringen?" Das wunderte Talaan. Mohab schien mehr als rücksichtslos, wenn es um den Erhalt oder die Ausdehnung seiner Macht ging.
   "Tz, tz." Marten wackelte belehrend mit dem Zeigefinger. "Ich begehre nicht seinen Thron und er weiß das. Ich habe seine Magier ausgebildet, die er so sehr schätzt, und sie würden ihn verlassen, wenn ich stürbe. Auch sie gieren nach dem Geheimnis der unsterblichen Macht und Mohab kann es ihnen nicht geben."
   Talaan musterte Marten eingehend. "Macht" schien sein Lieblingswort zu sein. Er gebrauchte es mit einem fiebrigen Glanz in seinen Augen. "Und was für eine Macht soll das sein? Mohab ist der König."
   Marten seufzte, als müsste er sich mit einem besonders dummen Menschen herumschlagen. "Du hast absolut nichts begriffen. Es geht nicht um die Macht, ein Leben auszulöschen oder verehrt zu werden. Selbst ich habe mich damals geirrt, als ich dachte, ein Leben zu nehmen wäre die einschneidendste Macht die es geben kann." Er zuckte mit den Schultern. "Schätze, die ganzen Menschen sind umsonst gestorben.
   Wovon ich spreche, ist das Schicksal. Das Schicksal ist die größte Macht von allen und ich forme sie. Bedenke all die Leben, die ich beeinflusse, wenn ich einen Krieg anzettele! Oder bestimmte Gesetze erlasse. Und wenn man einen Blick in die Zukunft werfen kann, ist dies perfekt. So kann ich das Schicksal ganzer Nationen lenken, selbst Jahrtausende in der Zukunft, wenn ich diese Welt schon längst wieder verlassen habe. Das ist Macht."
   Wollte er deshalb das Orakel? "Ich werde nicht zulassen, dass du die Halle des Lichts betreten wirst, Marten. Das Orakel kann die Zukunft sowieso nicht voraussagen."
   Daraufhin warf ihm Marten ein ehrlich amüsiertes Lächeln zu und schwieg eine Weile.
   "Sieh dich an, Talaan. Was hast du bisher aus deinem Leben gemacht? Du bist wieder zu einer Frau gekrochen und lebst wieder als Außenseiter bei einem närrischen Volk.
   Willst du nicht wieder zu deinem Volk zurückkehren? Mohab hätte bestimmt Verwendung für dich, wenn ich dich lehre. Du könntest mein Adjutant sein."
   "Die MaKri sind mein Volk, nicht die Menschen."
   "Was hält dich bei ihnen? Sentimentalität? Sie sind ein primitives Volk, das bereits unter einem kleinen Krieg erzittert und ausgelöscht zu werden droht."
   Warum versuchte Marten ihn von den MaKri wegzuholen? Der Vorschlag, er solle sich Marten unterordnen konnte nur dieses Ziel haben. Marten konnte ihn nicht einfach töten, also versuchte er... was? "Dort ist meine Heimat, dort bin ich frei."
   "Frei? Ha, ha!" Marten lachte ein sardonisches Lachen. "Frei? Talaan! Niemand kann unseresgleichen die Freiheit nehmen. Wir sind selbst von den Fesseln des Todes losgelöst."
   Als Marten merkte, dass seine Worte auf unfruchtbaren Boden fielen, wurde er ruhiger. "Überleg es dir gut, Talaan. Du kannst nicht ewig von einem Leben ins nächste stolpern, selbst wenn es nicht Macht ist, was du begehrst."
   Hier schwankte Talaan zum ersten Mal. Vor ihm stand der Mann, der all seine Fragen beantworten konnte, daran zweifelte er nicht. Aber seine Antworten würden entweder Lügen oder vergiftete Halbwahrheiten sein. Selbst wenn Marten ihm die Wahrheit erzählen sollte, würde Talaan ihm nicht glauben. Marten war ein Scheusal. "Was kannst du mir schon geben?"
   Marten ging um Talaan herum und musterte ihn von allen Seiten. "Wenn es nicht Macht ist, was ist es dann? Frauen? Nein, die scheinen dir in jedem Leben unweigerlich vor die Füße zu fallen. Anerkennung? Dann würdest du nicht immer die Rolle eines Außenseiters annehmen. Ahhh!" Marten blieb stehen und sah ihm direkt in die Augen. "Wie steht es mit der Magie? Sie ist eine neutrale Macht, weder gut noch böse. Du hast ein Faible für die Zauberkunst nicht wahr?" Wieder lag dieses hintergründige, wissende Lächeln auf seinen Lippen.
   Erneut zögerte Talaan mit seiner Antwort. Magie war etwas wunderbares. Sie zu beschwören ließ ihn jedes Mal lebendig und energiegeladen fühlen. Seine Droge. Und egal, was Marten ihm auch vormachte, die magischen Mächte konnte er nicht korrumpieren. Sie lagen außerhalb seines Zugriffs. Ein, zwei Zauber von Marten zu lernen konnte doch nichts schaden...
   Doch, konnten es. Marten wollte ihn in die Finger bekommen und er hatte zielsicher einen schwachen Punkt entdeckt. "Warum gibst du dir solch eine Mühe, mich von dem MaKri fortzuholen?"
   "Die MaKri sind mir egal.", erwiderte Marten glattz\xFCngig. "Sie sind unbedeutend. Du aber, Talaan, bist es nicht. Du kannst Großes bewirken, wenn du dein Potential erkennst. Und ich gebe es zu - die Vorstellung, was zwei unseres Schlages bewirken könnten, reizt mich."
   "Vergiss es, Marten."
   Der hob beschwichtigend die Hände. "Es war nur ein Vorschlag. Überleg es dir gut. Bedenke auch, dass du mich nie besiegen kannst, wenn deine Magie so schwach bleibt, wie in deinem letzten Leben."
   Diesmal war es Talaan, der hintergründig lächelte. Marten war eben ein entscheidender Fehltritt unterlaufen. Er wusste nicht alles über ihn. Die Kraft und Natürlichkeit, welche die Magie in seiner MaKri-Gestalt annahm, mussten wohl jenseits von Martens Vorstellungskraft liegen.
   Talaan ließ sein Lächeln noch ein wenig breiter werden und wandte sich von Marten ab, um zu den Quartieren zurückzukehren. Er hatte Zweifel in den Augen des Mannes gesehen. Nur kurz und gut verborgen, aber sie waren da. Unleugbar.
  
Die MaKri waren in ein lebhaftes Gespräch vertieft, als Talaan die Quartiere der Delegation betrat. Sorral sah gerade in seine Richtung und begrüßte ihn mit einer tiefen Verbeugung.
   "Seid gegrüßt, werter Verhandlungsführer Talaan." Dieser Tonfall, den er gebrauchte, klang verdächtig nach Mohab. "Wenn es dir genehm ist, so sei mir der Vorschlag gestattet, über die Möglichkeit eines abschließenden Gesprächs bezüglich des heutigen Tages zu diskutieren."
   Die Versammelten brachen in schallendes Gelächter aus und rissen Talaan aus seiner Grübelei. Er erwiderte die Verbeugung. "Dem würde ich gerne zustimmen, aber der Wind weht gerade von Westen. Das ist unakzeptabel." Das Lachen der Kri schwoll noch mehr an.
   "Seih ehrlich, Talaan wie konnte es die Menschheit soweit bringen, wenn sie auf diese Art ihre Verhandlungen führt?"
   Talaan zuckte mit den Schultern und machte es sich neben Kirra auf einem Kissen bequem. "Versteh einer die Menschen.", sagte er abwesend und holte sich von seiner Geliebten einen Kuss.
   "Lasst den Unsinn, Kinder.", warf Rerrena ein. "Ist euch an den Verhandlungen heute etwas aufgefallen?"
   "Abgesehen davon, dass sie zu nichts führten und wir Mohab gegen uns aufgebracht haben?", brummte Tonri in seinem üblichen grüblerischen Tonfall.
   "Er hat uns ausgehorcht.", antwortete Reshero knapp und klappte sein Buch zu. "Die ganze Zeit über hat er versucht, auf die eine oder andere Weise den Standort der Halle des Lichts herauszufinden. Die plumpe Frage zum Schluss war nur die Krönung des Ganzen."
   Die Orakelgelehrte nickte bestätigend. "Irgend etwas ist besonders an unserem Orakel. Wenn er schon das Nördliche und das Südliche Orakel unter seiner Kontrolle hat, müsste ihm das eigentlich genügen. Aber er ist geradezu versessen darauf."
   Talaan rieb sich gedankenverloren die Schnauze. "Daran habe ich noch gar nicht gedacht... Ich hatte ein einigermaßen friedliches Zusammentreffen mit Marten. Er war sehr gesprächig, aber als ich erwähnte, das Orakel könne ihm nicht helfen in die Zukunft zu blicken, hat er geschwiegen und wissend gelächelt."
   "Also ist es Marten, der es begehrt.", schlussfolgerte Rerrena.
   "Von ihm mag die Gier vielleicht ausgehen, jedoch ist sie bei Mohab nicht weniger stark.", fügte Talaan hinzu. Er berichtete jedes Detail ihres Zusammentreffens im Palastgarten. "Wir müssen beide im Auge behalten.", schloss er.
   "Damit ist es nicht getan.", widersprach Tonri düster. "Unsere Unwissenheit wird uns sonst zu Fall bringen."
   Am liebsten hätte Talaan Tonri gescholten. Seine ewig schwermütige und finstere Art zehrte an seiner Geduld, selbst wenn er Recht hatte. "Was sollen wir tun?"
   "Du sagtest, Marten machte Mohab zu einem großen König.", dachte Reshero laut nach, klappte sein Buch wieder auf und kritzelte ein paar Notizen hinein. "Marten will nicht den Thron und dennoch hilft er Mohab bei seinen Eroberungen. Weshalb? Das gilt es zu ergründen. Ich werde mich mit den Schriftgelehrten des Königs darüber unterhalten. Ein wenig historische Neugier sollte Mohabs Misstrauen nicht erwecken."
   "Das Orakel ist der Schlüssel.", meinte Rerrena in grübelndem Tonfall, eher als würde sie laut überlegen. "Wir müssen herausfinden, was es mit den anderen Orakeln auf sich hat. Marten und Mohab wollen es, aber ich bezweifle das ihre Gründe die selben sind. Die Geheimnisse, die Marten begehrt, würde er doch kaum mit... einem Sterblichen wie Mohab teilen." Die alte Gelehrte spielte gedankenverloren mit einem ihrer Schnurrhaare. "Ja, das ist wohl das Wichtigste. Talaan, wir müssen zusehen, dass wir diesen Bedan unter vier Augen sprechen können."
  
Vier Tage lang bot sich dafür keine Gelegenheit, während sich die Verhandlungen zäh dahinschleppten. Mohab hütete das Wissen seines bedeutendsten Orakelgelehrten wie einen Schatz und ließ ihn nicht aus den Augen.
   Reshero hingegen war recht bald erfolgreich. Mohab stimmte wohlgefällig einem Austausch zwischen den MaKri und seinen Geschichtsgelehrten zu. Es schmeichelte dem König offenbar, dass Reshero mehr über seine glorreichen Feldzüge erfahren wollte.
   Das Ergebnis war verblüffend und bestätigte Talaans Befürchtungen. Es hatte schon vor Martens Eintreffen Kriege gegeben, die meisten von ihnen von Mohab angezettelt. Doch seit Marten Mohabs Berater wurde, änderte sich die Art der Kriege. Aus vereinzelten Kriegen hier und da wurde ein gerichteter Feldzug nach Norden. Der für beide Seiten verlustreiche Vormarsch endete mit dem Tag der Kapitulation des Hellitischen Reiches.
   Das Hellitische Reich war die Heimat des Nördlichen Orakels.
   Zwei Jahre später begann ein gnadenloser Feldzug gegen den Süden. Ein Reich nach dem anderen fiel unter Mohabs Soldaten, und das Schlachtenglück war dem Eroberer auf wundersame Weise hold. Seine Verluste waren kaum der Rede wert. Ständig schien er zu wissen, wo es anzugreifen galt, wo ein Hinterhalt lauerte oder ein wichtiger Punkt unverteidigt blieb. Der Feldzug gegen den Süden endete mit dem Fall des Owa-Terretoriums.
   Dieses Reich war die Heimat des Südlichen Orakels.
   Seit diesen Tagen herrschte Frieden im Königreich Mohabs, von den kleinen Vorfällen mit den MaKri abgesehen.
  
Am fünften Tag begegneten sich die MaKri und der Orakelgelehrte Bedan rein zufällig in der Stadt. Die Wachen, welche Mohab ihnen "zu ihrem Schutz" mitgegeben hatten, waren unschlüssig, was sie tun sollten und beschlossen, nichts zu sehen.
   Bedan war mehr als nervös, blickte sich ständig um und wiederhole ständig die Worte "Ich darf nicht mit euch reden." zwischen seinen Sätzen. Rerrena versuchte ihn in ein Gespräch zu verwickeln, doch es half nichts. Die misstrauischsten Blicke warf Bedan den Wachen des Königs zu.
   "Ich würde mich gerne mit euch unterhalten, werte Rerrena. Vielleicht können wir ja bald miteinander sprechen, wenn der Vertrag unterzeichnet ist."
   "Ich dachte, euch läge etwas an dem Orakel.", bedauerte Rerrena. "Offenbar habe ich mich getäuscht."
   Die Augen des Gelehrten schimmerten flehend. "Die Orakel sind die unglaublichsten, weisesten, wertvollsten Wesen auf Erden. Es liegt mir etwas an ihnen, aber König Mohab..."
   Das führte zu nichts. Talaan gab sich einen Ruck und sprach es aus, bevor er es bereuen konnte: "Das Östliche Orakel wird sterben, wenn wir es nicht vor Mohab beschützen können. So lautet seine Prophezeiung."
   Bedan erstarrte und riss die Augen ungläubig auf. "Es kann nicht in die Zukunft..." Er stutzte. "Oh, natürlich kann es..." Er packte Rerrena am Arm und zerrte sie in Richtung Osten. "Kommt in mein Haus, dort können wir sprechen." Mit eiserner Konzentration vermied er es, die Wachen anzusehen.
   Also folgten ihm die MaKri.
  
Bedan schlug die Tür hinter sich zu, bevor die Wachen folgen konnten. Als sie an die Tür klopften rief er barsch: "Bleibt draußen!"
   "Herr, das können wir nicht. Wir haben strikte Anweisung, gut auf die hohen Gäste aufzupassen."
   "Dann passe jetzt ich auf sie auf."
   "Aber..."
   Bedan riss die Tür einen Spalt auf. "Willst du mir unterstellen, ich wäre unfähig in meinem eigenen Hause für die Sicherheit meiner Gäste zu sorgen, Soldat?!"
   "Nein, Herr.", erwiderte die Wache kleinlaut.
   Bedan knallte die Tür erneut zu und wandte sich seinen Gästen zu. Sein Zorn war wie weggefegt und einer besorgten Mine gewichen. "Mohab lässt mich hinrichten, wenn er sicher sein kann, dass ich euch mein Wissen verraten habe. Aber das ist egal. Den Orakeln darf nichts geschehen. Dieser Verlust wäre zu groß für die Welt."
   Sein gehetzter Blick kam auf Talaan zur Ruhe. "Wie kann das Orakel sterben? Wie kann euer Orakel der Gegenwart seinen Tod voraussehen?"
   Rerrena berichtete ihm von ihren Gesprächen mit dem Orakel und wie es dabei offenbarte, dass es blinde Flecken in der Zukunft gäbe, hinter die es nicht blicken könne.
   "Und wie soll es geschehen? Sein Tod ist unvorstellbar. Habt ihr es gefragt?" Noch bevor Rerrena antworten konnte, sprach der Mann hastig weiter. "Natürlich habt ihr daran gedacht. Aber die Antwort wäre eine von unendlich vielen gewesen. Natürlich." Er begann eine rastlose Wanderung hin und her. "Es ist das Orakel der Gegenwart. Es kann nur alle Zukunft sehen."
   "Bedan, wir müssen wissen, was es mit den anderen beiden Orakeln auf sich hat.", drängte Talaan. Aber er hatte schon eine Vorstellung, was er jetzt zu hören bekommen würde, seit Bedan vom Orakel der Gegenwart gesprochen hatte.
   "Selbstverständlich." Der Gelehrte zupfte ein Tuch hervor und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. "Mohab wird mich töten.
   Es gibt drei Orakel in der bekannten Welt. Eines im Norden, eines im Osten und eines im Süden. Sie sind keine Götter, aber dennoch unsterblich. Jedes kann die gesamte Zeit in allen Möglichkeiten erblicken, in der es gelebt hat, lebt und leben wird. Ihr Blick umfasst die ganze Welt. Aber dieses Wissen ist selbst für die Orakel unerträglich viel.
   Das nördlich Orakel wendet seinen ganzen Willen auf, um einen klaren Pfad in der Zukunft zu erkennen. Es sieht die Zukunft, die gerade ist - so wie das Schicksal seinen Lauf nehmen wird. Die Gegenwart ist für dieses Orakel ebenso verschwommen und vielgefächert wie die Vergangenheit. Mit seiner Hilfe war es Mohab ein Leichtes, das südliche Orakel zu erobern.
   Es ist das Geschwister des nördlichen und wendet seinen Willen dazu auf, den klaren Pfad der Geschichte zu erkennen, wie sie geschehen ist. Mohab war zunächst unglaublich enttäuscht, bis er erkannte, dass die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden genauso nützlich war, wie in die Zukunft zu blicken."
   Bedan blieb plötzlich stehen und blickte die MaKri der Reihe nach mit leuchtenden Augen an. "Aber euer Orakel ist das mächtigste von allen. Sein Blick ist einzig auf die Gegenwart gerichtet und es soll selbst in die Herzen jedes Wesens blicken können."
   "Wieso soll es das mächtigste sein?", unterbrach ihn Kirra. "Die Zukunft zu kennen, heißt alles richtig machen zu können."
   Bedan schüttelte den Kopf. "So haben wir auch gedacht, aber Marten hat uns eines Besseren belehrt. Die Zukunft wird aus Taten geformt. Jene Zukunft, die das Nördliche Orakel erblickt hat ihr Fundament in der jetzigen Gegenwart. Erst wenn Mohab im Jetzt seine Schritte mit Hilfe eures Orakels planen kann, ist es ihm möglich zu sehen, ob dieser Plan zum Erfolg führt."
   Als der Gelehrte dafür nur verständnislose Blicke erntete, raufte er sich die Haare, begann erneut mit seiner Wanderung und grübelte darüber nach, wie er es verständlich machen könnte.
   "Ich gebe euch ein Beispiel. Mohabs Ziel sei es, seinen Reichtum durch eine neue Goldmine zu vermehren. Solange er nicht weiß, wo sie ist, kann er auch in der Zukunft nicht erfahren, wie er dahingelangt ist. Erfährt er nun von eurem Orakel, wo die Mine ist - und das wäre dem Östlichen ein Leichtes - kann er Bergleute losschicken, um sie zu erschließen. Erst wenn das geschehen ist, wird die Zukunft sich so ändern, dass es das Nördliche Orakel offenbaren kann."
   "Ich verstehe.", murmelten Reshero und Rerrena gleichzeitig und der Schriftgelehrte holte sein Buch hervor, um seine Gedanken aufzuschreiben. "Ursache und Wirkung. Ja, ja, das leuchtet ein..."
   "Deswegen muss er auch seine Soldaten nach der Halle des Lichts suchen lassen."
   "Nicht nur deswegen.", korrigierte Bedan sie eilig. "Wir wissen nicht warum, dennoch ist es nicht zu leugnen: Die Orakel können sich selbst nicht sehen. Der Blick auf ihre Geschwister bleibt ihnen verwehrt."
   Talaan schüttelte ungläubig den Kopf. "Mit allen drei Orakeln hätte Marten die absolute Kontrolle. Die Gegenwart zum Schmieden der Pläne, die Zukunft um diese Pläne zu vervollkommnen und die Vergangenheit, um sich das Wissen und die Weisheit der Jahrtausende anzueignen."
   Bedan musterte Talaan eingehend. "Wieso Marten? Er ist nur Mohabs Berater. Und wieso wird das Östliche Orakel sterben? Kein Sterblicher hat die Macht, es zu töten."
   Kein Sterblicher. Talaans Herz wurde schwer. "Marten ist mehr als nur ein Berater. Und er ist nicht sterblich." Mit diesen Worten ließ er Bedan stehen. Nur am Rande bekam er mit, wie sich Kirra bei dem Gelehrten bedankte.
   Als er die Tür öffnete, setzte er ein zorniges Gesicht auf und sagte im barschen Ton: "Wenn ihr nicht bereit seid, euer Wissen zu teilen, hättet ihr uns nicht herbringen brauchen, Belan. Verflucht, ich bin es leid, von jedem ausgelauscht zu werden. Von mir erfahrt ihr nicht, wo sich die Halle des Lichts befindet!"
   Er hatte keine Ahnung, ob die Wachen dumm genug waren, um diese T\xE4uschung zu glauben, aber ein Versuch war es wert gewesen. Die anderen MaKri spielten mit und gaben sich verärgert, während sie zum Palast zurückkehrten.
  
Die Nacht war längst hereingebrochen, aber Talaan konnte nicht schlafen. Mit sorgenschweren Gedanken stand er am offenen Fenster und blickte zu den Sternen. Er spürte den Wind kaum, der seinen bloßen Oberkörper mit wunderbar mildem Hauch umschmeichelte. Auch die Sterne nahm er kaum wahr.
   Was sollte jetzt nur werden? Diese Frage ging ihm immer wieder durch den Kopf. Mohab und mit ihm Marten stand kurz vor dem, was irdischer Allmacht nahe kam. Talaan erschauerte vor dem Bild eines totalitären Staates, in dem die Gedanken wegen des Östlichen Orakels nicht mehr frei waren, ein Umsturz wegen des Nördlichen Orakels unmöglich war und selbst der kleinste Widerstand noch nach Jahren durch den Blick des Südlichen Orakels gesühnt werden konnte. Und all das unter Kontrolle solcher Menschen wie Mohab oder Marten.
   Was ihnen noch fehlte, war das Östliche Orakel. Und zwischen ihm und Mohab standen die MaKri, seine Heimat, sein Leben. Ob die MaKri einen Vertrag mit Mohab aushandelten oder nicht, spielte keine Rolle mehr. Mohab würde die Macht des Östlichen nicht nur für seine Sammlung haben wollen. Er und seine Erben würden Kriege führen, wie sie diese Welt noch nicht gesehen hatte. Unaufhaltsam.
   Die Kri würden fallen. Die Frage war nur wann. Wozu führte Mohab diese Verhandlungen überhaupt? Er musste ihren Ausgang doch schon kennen. Nichts was Talaan unternahm, war in der Zukunft nicht schon geschehen. Er konnte dem nicht entfliehen.
   Das musste doch heißen, das Mohab zuletzt bekam, was er wollte. Diese Verhandlungen mussten ihm einen Vorteil bringen. Diese...
   Zwei warme Hände legten sich auf seine Schultern. "Du stehst jetzt schon beinahe drei Stunden hier, Geliebter, und versuchst den Sternen eine Antwort abzuringen." Kirras Stimme war ein beruhigendes Flüstern. "Hattest du Erfolg?"
   Talaan seufzte genüsslich, als sie damit begann, seine Muskeln zu massieren. Erst jetzt merkte er, wie verspannt er war. "Ich habe Angst, Kirra. Ich weiß nicht, was aus uns werden soll."
   "Versuch es einmal mit Schlaf, Talaan. Wenn du jetzt noch keine Antwort gefunden hast, wirst du sie mit verbissenem Nachdenken auch in den nächsten sechs Stunden nicht finden."
   Er drehte sich zu ihr um und sie überraschte ihn mit einem Kuss. "Woher nimmst du nur deine Sorglosigkeit, Kirra?"
   Sie lächelte und schmiegte sich an ihn. Zum ersten Mal, seit er die menschliche Gestalt angenommen hatte. Ihr seidiges Fell glitt über seine Haut und fühlte sich dabei fantastisch an. Das Lächeln auf ihren Lippen ließ ihn ein paar seiner Sorgen vergessen. "Ich habe Vertrauen, Geliebter. Das Schicksal hat dich und Sorral nicht zu uns geschickt, um uns einfach so untergehen zu lassen."
   "Aber..."
   Sie bedeckte Seine Lippen mit ihrem Zeigefinger. "Sch. Komm ins Bett. Morgen wird sich vielleicht ein Weg finden."
   Er gab sich ihrer Umarmung hin und ließ sich fallen. "Wie machst du das nur?"
   "Hm?"
   "Mich immer wieder so fühlen zu lassen, als könnte uns nichts etwas anhaben, solange du da bist?"
   Sie kuschelte sich an ihn und begann an seinem Hals zu knabbern. "Ich kann das, weil du es zulässt."
  
Diese Nacht holte ihn nicht ein düsterer Gedanke ein.
  
"Maigan! Maigan Talaan!" Hände packten ihm an der Schulter und schüttelten ihn unnachgiebig. Vollkommen orientierungslos ließ er den Schlaf fahren und schlug die Augen auf. Kirra war bei ihm, aber es waren nicht ihre Hände, ihre Stimme.
   Seufzend und gleichzeitig gähnend rollte er auf den Rücken und erblickte Tonri. Schlagartig war er wach. "Schamane! Was ist geschehen?"
   "Etwas sehr ungewöhnliches, Maigan. Ich habe in meinen Träumen einen Geistesbruder getroffen, der mir folgendes berichtet hat: Das Orakel hat einer Fragenden die Antworten verweigert. Das ist in unserer Geschichte beispiellos."
   Talaan rappelte sich hoch, wobei er versuchte, Kirra nicht aufzuwecken. "Was für eine Bedeutung hat das für uns?"
   "Keine. Aber es hat der Fragenden zwei Sätze mit auf den Weg gegeben. ,Der Zeitpunkt das Fundament der Zukunft zu ändern ist da. Die mächtigsten Geheimnisse des finsteren Herzens können euch schützen, wenn ihr die Wahrheit über die MaKri entdeckt.'"
   "Das Fundament der Zukunft.", wiederholte Talaan flüsternd. Die Worte Bedans.
   Tonri nickte ernst. "Was also wirst du tun, Maigan?"
   Talaans Gedanken sprangen blitzschnell von der Frage zur Idee zum Plan. Die Geheimnisse des Feindes. Eine Möglichkeit, seinen Gestaltenwandel auszunutzen, war stets das Auskundschaften gewesen. Angesicht der Macht Mohabs , in die Zukunft zu sehen hatte er diese Idee jedoch verworfen. Der König hatte bestimmt das Nördliche Orakel befragt, um zu ergründen, was jeder Einzelne der Delegation in Tullma unternahm.
   Doch die Nachricht vom Östlichen Orakel änderte alles. Es gab etwas, das zu finden es sich lohnte. Wenn Mohab nicht ausgerechnet heute das Zukunftsorakel befragte, konnte er von diesem Vorhaben Talaans nichts wissen.
   "Heute Nacht werde ich mich im Palast umsehen. Ich muss finden, was das Orakel meinte."
   Erneut nickte Tonri. "Es gefällt mir, endlich selbst etwas zu unternehmen. Diese Verhandlungen sind eine Farce."
   "Und dennoch..." Er packte den Schamanen am Arm. "Wissen die anderen davon?"
   "Nein. Ich kam als Erstes zu dir, Maigan."
   "Dann lass sie in der Unwissenheit, bis die Nacht eingebrochen ist. Und wir beide müssen uns unter Mohabs Augen so verhalten, als wüssten wir von nichts. Sollte der König merken, dass etwas anders läuft als es das Zukunftsorakel prophezeite, sind wir verloren."
   Talaan war sich sicher, dass die Mystiker des Herrschers, ähnlich wie die Schamanen, sich über große Entfernungen verständigen konnten. Und wie er Mohab einschätzte, hielten Mystiker Tag und Nacht an den Orakeln Wache, um es für ihn befragen zu können.
   "So sei es." Absolut geräuschlos schlich sich Tonri aus dem Zimmer, als sich Kirra zu regen begann.
   "War das der Schamane?", murmelte sie verschlafen.
   "Guten Morgen, Sonne meines Herzens.", flüsterte er ihr ins Ohr und küsste es dann. "Ja, das war er."
   Kirra streckte sich mit einem herzhaften Gähnen in alle Richtungen, wobei sie selbst die Krallen an Händen und Füßen reckte. "Ist etwas passiert?"
   "Du hattest Recht, Kirra. Der Schlaf bringt manchmal eine wundersame Wende mit sich." Bevor sie ihre Frage aussprechen konnte, versiegelte er ihren Mund mit einem Kuss. "Frag nicht, zum Wohl aller."
   Sie lächelte leicht verwirrt und gleichzeitig irgendwie ernst, dass er sie gleich noch einmal küssen musste. "Heute Abend."
  
An diesem Tag hatte Talaan ständig das Gefühl, durch ein mit Glassplittern gefülltes Fakirbecken zu gehen. Er fürchtete jeden Schritt etwas falsch zu machen und wenn er seinen Fuß gesetzt hatte, wünschte er sich, er hätte sich anders entschieden.
   Dennoch kamen die Verhandlung zum ersten Mal seit ihrem Beginn wirklich voran. Mohab verzichtete heute auf seine üblichen Drohgebärden und im Gegenzug gab Talaan in einigen Punkten ein wenig nach. Von da an ging es aufwärts.
   Diese Verhandlungen mussten in der Zukunft ein Erfolg gewesen sein, einen anderen Grund sie zu führen konnte es für Mohab nicht geben. Und so hatte Talaan am Ende des Tages das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, als sie sich auf die Stärke der Truppen und deren Verpflegung in den Städten der MaKri geeinigt hatten. Als sie den Tisch verließen, zeigte sich Mohab rundum zufrieden. Die MaKri hatten kein Misstrauen gesät.
   Und zu Talaans Erleichterung lebte Bedan noch. Sein Verrat an Mohab war entweder nicht aufgefallen oder in den Augen des Königs nicht wert, ihn zu bestrafen. Dieser Tag war ein Erfolg. Nun sollte die Nacht zeigen, was sie zu bieten hatte.
  
Talaan glitt in den Schatten einer Ecke und die Farbe seines Fells verschmolz mit dem hellen Stein der Wände. Seine menschliche Gestalt hatte er abgestreift. Sein Gesicht war jetzt zu bekannt, um ihm bei seinem Erkundungsstreifzug noch von Nutzen zu sein. Er vertraute jetzt auf Instinkte und Magie.
   Zwei Stiefelpaare nährten sich im Gleichschritt und er verharrte bewegungslos, bis die Wachen vorbeimarschiert waren. Er richtete seine Ohren noch einmal in alle Richtungen, bevor er sich auf leisen Pfoten wieder aus der Ecke löste, um zur nächsten zu huschen.
   Allmählich gewann er den Eindruck, dass es in Mohabs Palastanlage mehr Soldaten als Bürger in Tullma gab. Das war auch nicht weiter verwunderlich, denn er näherte sich der Kaserne.
   Schließlich stand er vor der Mauer, welche sie umgab. Meisterhafte Steinmetze hatten die Quader so aneinandergefügt, dass die Fugen kaum zu erkennen waren. Im Stillen verwünschte Talaan sich, dass er den Flugzauber nie auswendig gelernt hatte.
   Blieb nur noch der Weg durch die Vordertür. Behutsam wob er seinen Schlafzauber und sandte ihn in abgeschwächter Form zu den Wachen. Das Letzte was er jetzt gebrauchen konnte waren vier Wachen, die mit laut polternden Rüstungen umfielen. Er hüllte sich in Schatten und schlüpfte zwischen ihnen durch das Tor.
   "Solmar?" ein lautes Gähnen folgte. "Habt ihr das gesehen?"
   "Was denn, Soldat?"
   "Die dunkle Wolke, die eben an uns..." Ein weiteres Gähnen. "vorübergezogen ist." Talaan erstarrte in der Bewegung und presste sich dann gegen die Wand.
   "Das ist jetzt die letzte Warnung.", knurrte die zweite Stimme. "Wenn du noch mal betrunken zum Dienst kommst, melde ich dich der Effenda."
   "Aber... äh... Ja, natürlich."
   Talaan atmete erleichtert aus und ließ seinen Blick über den Kasernenplatz schweifen. Hier sah es ähnlich wie in Tullma selbst aus. Um den zentralen Platz herum gab es höherliegende Ebenen, auf denen die Häuser standen und die über breite Treppen zu erreichen waren. Nur gab es hier keine Pflanzen oder anderes Überflüssiges, das ihm ein Versteck geboten hätte.
   Aber es waren keine Wachen zu sehen. So rasch es ging hastete er eine der Treppen hinauf und tauchte in den Mondschatten eines Hauses ein. Es war kleiner und erweckte nicht den Eindruck, eine Unterkunft für Soldaten zu sein. Aber da seine Türen nicht bewacht waren, konnte es nichts Wichtiges enthalten.
   Er schlich zur nächsten Ecke und spähte um sie herum. Auch hier gab es keine Wachen. Hinter dem Gebäude erstreckte sich der Rest der Kaserne wie eine kleine Stadt. Noch mehr Plätze und weitere Gebäude auf erhöhten Ebenen. Wie sollte er hier nur finden, was er suchte?
   Er strengte seine Augen an und konnte letztendlich ein Haus ausmachen, das bedeutsam genug aussah. Es war das einzige hier, auf dessen Dach das königliche Banner träge im Wind wehte und seine Fassade unterschied sich ein wenig von den restlichen Bauwerken hier.
   Aber warum gab es selbst hier keine Wachen? Das machte ihn nervös. Möglicherweise war es in Tullma üblich, die Wachen nur im Innern zu postieren? Da es nirgends eine Möglichkeit zum Verstecken gab, machte er sich daran, quer über den Platz zu rennen.
   "He, Soldat!", rief plötzlich eine Stimme rechts von ihm und Talaan blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Eine sechsköpfige Patrouille bog gerade um die Ecke eines Hauses. Er fühlte sich mitten auf dem Platz gefangen. Vielleicht hundertfünfzig Schritt trennen ihn in alle Richtung von den rettenden Schatten.
   "Ja, du! Wohin denkst du, dass du gehst? Unerlaubter Ausgang bringt dir Peitschenhiebe ein, mein Freund."
   Gesegnet sei das Zwielicht der Nacht!, dachte er noch, drehte sich ohne nachzudenken auf der Stelle um und rannte dorthin zurück, wo er herkam. "Haltet ihn, Männer! Ihr rechts, ihr links. Los, los!", verfolgte ihn die Stimme des Anführers. An der Vorderseite des Hauses angelangt schätze Talaan hastig die Entfernung über den Hauptplatz bis zu den nächsten Gebäuden. Das würde er nie rechtzeitig schaffen, bevor die Soldaten hier waren.
   Schon vernahmen seine empfindlichen Raubtierohren die trampelnden Schritte seiner Verfolger. Sie kamen von beiden Seiten! Er saß in der Falle. Also blieb ihm nur noch ein Weg. So lautlos und rasch wie möglich schlüpfte er durch die nächstbeste Tür und schloss sie hinter sich.
   Und sah sich einer Frau in einem Nachtgewand gegenüber. Sie kam gerade aus einem anderen Zimmer herein und starrte ihn ungläubig an. Draußen kamen die Schritte seiner Verfolger zum Stehen. "Wo ist er hin, verdammt?"
   Talaan fing den Blick der Frau ein und sah sie flehend an. In seinem Kopf glomm das Geistessymbol einer tödlichen Kraftkugel und wartete auf den vollendenden Strich, um seine Energie zu entladen. Er wollte sie nicht töten.
   In ihren obsidianschwarzen Augen schimmerte eine Mischung aus Angst und etwas, das er nicht so recht einordnen konnte.
   Jemand hämmerte gegen die Tür. "Effenda! Effenda Mani!"
   Die Lippen der Frau teilten sich und Talaan verkrampfte. Er konnte es nicht. Ihr Tod würde auch nichts mehr bewirken. "Was ist denn, Lewek?"
   Nur das. Ungläubig starrte er sie an.
   "Wir haben einen Ausreißer, Effenda."
   "Und deswegen weckst du mich, Soldat?" Ein Lächeln erschien auf ihren Lippen, das Talaan vollkommen unvorbereitet traf. Sie hatte keine Angst vor ihm und dennoch verriet sie ihn nicht?
   "Nun, verzeiht Effenda, aber er muss in dieses Gebäude geflüchtet sein." Der Soldat klang nun leicht verwirrt.
   "Dann durchsucht die anderen Räume und findet ihn! Muss ich mich um alles kümmern?"
   "Selbstverständlich Effenda. Ich meine, selbstverständlich nicht, Effenda."
   "Und Lewek! Wenn du mich in dieser Nacht noch einmal weckst und dabei nicht Tullma in Flammen steht, werfe ich dich in eine Einzelzelle." Die ganze Zeit über unterbrach seine Retterin ihren Augenkontakt mit Talaan nicht ein einziges Mal. Jetzt konnte er den Zweiten Ausdruck in ihrem Blick deuten. Es war Faszination.
   Mit einigem Gestammel verschwand der Soldat dann endlich.
   Als Talaan immer noch kein Wort hervorbrachte, verschränkte sie die Arme vor der Brust und fragte nur: "Nun? Was soll ich jetzt mit dir machen?"
   "Warum habt ihr mich nicht ausgeliefert?"
   "Warum hast du mich nicht getötet? Ich zweifle nicht daran, dass du dazu in der Lage warst."
   "Ich... konnte es nicht."
   "So lautet auch meine Antwort." Sie kam behutsam näher und reichte ihm die Hand. Immer noch nicht sicher, ob das hier wirklich geschah, ergriff Talaan sie. "Ich bin Mani. Die Effenda der königlichen Truppen."
   Eingehend musterte Talaan diese wundersame Frau. Sie mochte ein wenig über dreißig sein, pechschwarzes Haar umrahmte ein von ständiger Sonne gebräuntes, schmales Gesicht mit eben jenen schwarzen Augen darin. Sie sah überhaupt nicht wie ein Befehlshaber in Mohabs Diensten aus, was vielleicht mit an dem luftigen Nachtgewand liegen durfte.
   "Man nennt mich bei meinem Volk Talaan."
   Ihre Augen weiteten sich. "Der Verhandlungsführer? Aber der ist ein Mensch!"
   "Warum, Mani?", hakte er nach. Er wurde aus ihr nicht schlau und wusste immer noch nicht, ob er ihr trauen sollte.
   Sie seufzte schwermütig und Sorgenfalten bildeten sich auf ihrer Stirn. "Ich weiß jetzt schon, dass es dumm von mir war. Mohab wird diesen Verrat bemerken. Mich wundert ein wenig, dass er uns hier keine Falle gestellt hat." Sie schüttelte den Kopf und ließ sich sorgenschwer auf einen Stuhl fallen. "Diese verdammten Orakel."
   "Wegen unseres Orakels bin ich hier, Mani. Wegen ihm weiß Mohab nichts von dem hier.", versuchte er sie zu beruhigen. Was für ein schwacher Trost. Mohab würde es auf jeden Fall bemerken, nur eben später.
   Hoffnung glomm in ihren Augen auf und sie entspannte sich ein wenig. "Mein Vater ist ein hoch angesehener Händler in Tullma. Er hat dein Volk schon besucht, als ich ein kleines Kind war. Immer wenn er von einer Reise zurückkehrte, hat er mir von den wundersamen Katzenmenschen im Dschungel jenseits der Savanne erzählt. Eure Kultur hat er stets bewundert, musst du wissen." Mit einem Schmunzeln fügte sie hinzu: "Und er hat ein Vermögen mit eurer Handwerkskunst verdient.
   Seit ich ein Kind bin habe ich davon geträumt, einmal einen MaKri von Angesicht zu Angesicht zu treffen." Ihre Augen leuchteten erneut begeistert auf, als sie ihn anblickte.
   Das allein war aber wohl kaum Grund genug für ihren Verrat an Mohab.
   "Ich weiß, was du jetzt denkst, und du hast Recht damit. Ich habe einst einen Treueschwur auf den König geleistet. Aber das war, bevor dieser Marten sein Berater wurde. Ich verfluche den Tag, an dem er kam! Es ist nicht so, dass er Mohabs Gedanken vergiften würde, so naiv bin ich nicht. Mohab war schon immer machthungrig. Aber Marten hat eine Gier in ihm geweckt, die irgendwann unser Untergang sein wird."
   Sie schwieg einen Moment nachdenklich und fuhr dann fort. "Das Blut von so vielen Menschen klebt an meinen Händen, wegen dieser Gier. Einige meiner engsten Freunde sind gestorben für diese nicht enden wollenden Eroberungen." Energisch wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel und sah Talaan grimmig an. "Ich werde nicht zulassen, dass diese Gier auch noch dein einzigartiges Volk vernichtet! Diese Verhandlungen sind nichts als eine große Lüge!
   Mohab hat schon Pläne ausarbeiten lassen, um euch vom Orakel zu vertreiben. Aus irgend einem Grunde will er aber vorher mit ihm sprechen. Ich verstehe nichts von diesen Dingen, doch es ist so."
   Warum überrascht ihn das nicht? Genaugenommen hatte er sich das so schon aus den einzelnen Bruchstücken zusammengereimt. Doch jetzt hatte er Gewissheit.
   "Ihr habt mir und meinem Volk mehr Gutes getan, als ihr es vielleicht ahnt, aber könnt ihr mir noch mehr helfen? Ich suche nach etwas und weiß nicht einmal, was. Es würde Tage dauern, den Palast zu durchsuchen."
   Ihre grimmig entschlossene Mine wich nicht von ihrem Gesicht. "Ich bin bereits tot und habe nichts mehr zu verlieren. Du weißt nicht, wonach du suchst? Warum bist du dann hier?"
   "Das Orakel sprach vom mächtigsten Geheimnis des finsteren Herzens."
   "Hm." Mani spielte gedankenverloren mit der Kordel, die ihr Gewand zusammenhielt. "Ich hätte gesagt, dass unser bestgehütetstes Geheimnis die Angriffspläne auf die MaKri sind. Die kannst du gerne haben, aber ich bin nun mal ein Soldat und mein Denken ist stets zuerst auf solche Dinge gerichtet. Ich bezweifle, dass euer Orakel dies meinte."
   Inzwischen hatten ihre Finger ein paar Knoten in die Kordel geknüpft und machten sich mit einem wundersamen Eigenleben wieder daran sie aufzuzupfen. "'Das finstere Herz.' Dabei fällt mir sofort Marten ein. Mohab mag machthungrig sein, aber sein Berater stellt alles in den Schatten. Er ist ein Scheusal."
   Nur zu bereitwillig stimmte ihr Talaan da zu. Er musste sich jedoch hüten. Sein Hass auf seinen Erzfeind durfte ihn nicht blind machen für andere Möglichkeiten.
   Mani sprang urplötzlich auf. "Es gibt da ein Zimmer, in das Marten niemanden einlässt. Die arme Seele von Diener, die es doch einmal versuchte, hat er zu Asche verbrannt. Selbst seine Schüler und der König halten sich von dort fern."
   Sie stürmte aus dem Zimmer und rief durch die Tür: "Wenn wir etwas finden wollen, dann dort."
   "Wir?" Talaan fühlte sich vollkommen überrannt. Diese Frau ging mit einer Leidenschaft an die Sache, die ihn misstrauisch machte. Aber was hatte er für eine Wahl? "Es ist viel zu gefährlich. Ihr könnt nicht mitkommen."
   Ein bitteres Lachen drang vom Nebenzimmer herüber. "Gefährlich? Du hättest mich vor der Gefahr warnen sollen, bevor du in mein Quartier geplatzt bist. Dann hätte ich abgeschlossen." Ihre Stimme klang kurz gedämpft, als sie sich offenbar etwas über den Kopf streifte. "Außerdem findest du ohne mich nie dort hin.
   Du solltest dich wieder in die Illusion deiner menschlichen Gestalt hüllen, Talaan. Ich verschaffe dir eine Uniform und wir haben keine Probleme damit, an den Wachen im Palast vorbeizukommen."
   Talaan tat wie ihm geheißen. Allmählich gewöhnte er sich an das Gefühl, wie der Wandlungszauber an seiner Haut und seinen Organen zu zerren schien. Nur mit dem Verlust seines Schwanzes würde er sich wohl nie anfreunden können. Nach einer kleinen Weile kam Mani in eine prachtvolle Rüstung gekleidet zurück.
   "Sieht gut aus, nicht war? Ich war einst stolz auf die Muster der Effenda der Truppen. Verflucht sei Martens Antlitz!" Sie blieb vor ihm stehen und nährte sich mit ihrem Gesicht kaum eine Handbreit dem seinen. "Erstaunlich. Sieht aus wie ein wahrhaftiger Mensch. Wir besorgen Dir noch eine Uniform und dann lass uns gehen."
  
"Wir sind fast da." Mani nickte knapp zwei Soldaten zu, welche an einem Korridor Wache hielten.
   "Was, wenn Marten in seinen Gemächern ist? Wir können ihn nicht besiegen. Ich habe es schon einmal versucht und habe versagt."
   "Also seid ihr Feinde?", ihre Stimme klang erfreut. "Das lässt es mich weniger bereuen, dass ich dich nicht verraten habe, Talaan. Zumindest hast du den Kampf mit ihm überlebt. Zu zweit können wir..."
   "Das habe ich nicht.", knurrte er finster und ignorierte Manis Verwirrung. Ein Teil von ihm hoffte auf Marten zu treffen und einen Weg zu finden, ihn zu vernichten. Mit der Magie in seiner MaKri-Gestalt mochte es sogar möglich sein.
   "Wie dem auch sei. Marten ist zu dieser Zeit niemals in seinen Zimmern. Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt schläft. Zu dieser unheiligen Stunde zieht er es vor, die Mystiker des Königs zu unterweisen." Sie deutete auf eine Tür, an der eine unheilvoll aussehende Rune prangte. "Da ist es."
   "Haltet nach Wachen Ausschau. Ich werde nicht in dieser Gestalt da reingehen." Leise murmelte er den Wandlungszauber und wappnete sich gegen die Veränderung. Jedes Mal schob sich ein anderer Aspekt der Transformation in den Fokus seines Bewusstseins. Diesmal konnte er deutlich spüren, wie sich seine Zähne verformten. Seine Eckzähne dehnten sich mit einem Gefühl, als würde sie jemand mit einer Zange in die Länge ziehen, bis sie zu Reißzähnen geworden waren.
   Mani starrte ihn großäugig an. "Könnt... könnt ihr das alle?"
   Talaan hörte sie kaum. Die Rune zog ihn voll in seinen Bann. Ein fadgrünes Leuchten ging von ihr aus und überzog die Tür mit ihrem Schein. Warum hatte er es zuvor nicht bemerkt? Das musste an seiner jetzigen Gestalt liegen. Sie schien für die Magie geschaffen zu sein.
   Behutsam streckte er seine Hand nach der Tür aus und spürte ein kaum merkliches Kribbeln. Wenn er die Tür öffnete, würde er eine Falle auslösen, da war er sicher. Er betrachtete die Rune eingehender. Er konnte nicht einmal annährend erraten, was sie darstellte. Aber sie erinnerte ihn entfernt an die Geistessymbole, die er verwendete...
   Mit der Kralle an seinem Zeigefinger durchtrennte er eine Linie der Rune und das Glimmen erlosch. Dennoch vorsichtig packte er den Knauf der Tür und drehte ihn behutsam. Außer dem Klacken des Riegels geschah nichts. Er stieß die Tür auf und glitt lautlos hinein. Mani folgte ihm ungleich geräuschvoller.
   Er hatte irgendwie erwartet, hier einen Nachhall Martens dunkler Aura zu finden, aber das war nat\xFCrlich nicht so. Das geräumige Zimmer verriet nicht viel über das Wesen seines Bewohners. Eher spartanisch eingerichtet konnte Talaan nirgends etwas Zierrat oder auch nur schmuckvolle Möbel entdecken. Selbstverständlich bestand hier alles aus edlen Metallen, Stoffen und Hölzern, Mohabs Leidenschaft für Pomp teilte sein Berater jedoch nicht. Feuerschalen erleuchteten die Gemächer.
   "Wo ist die Kammer, von der ihr spracht?"
   "Gleich dort hinten im nächsten Raum. Folge mir."
   Bevor sie auch nur einen Schritt gemacht hatte, war er schon bei ihr und hielt sie am Arm zurück. "Ich gehe vor. Die Rune an der Tür war eine Falle, aber zu stümperhaft um die einzige hier zu sein."
   Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen, während er versuchte alles gleichzeitig im Auge zu behalten. Er war so fixiert auf eine weitere magische Falle, dass er den hauchdünnen Draht beinahe übersehen hätte, der auf Bauchhöhe zwischen den Türrahmen gespannt war.
   "Duckt euch.", wies er seine Begleiterin an und schob sich unter dem Draht durch. Unter seinen Füßen gab der Teppich leicht nach und ein kaum hörbares Klicken ertönte. Nur seinen katzenhaften Reflexen hatte er sein Leben zu verdanken, die ihn in die Mitte des Gemachs hechten ließen. Dort, wo sich eben noch sein Kopf befunden hatte, schoss ein Armbrustbolzen durch die Luft und blieb surrend in einer Ebenholztruhe stecken.
   Erleichtert ließ er seinen Atem entweichen. Ich dachte, der Bastard lebt hier. Früher oder später erwischen ihn noch seine eigene Fallen. Das konnte ihm eigentlich nur Recht sein. "Ihr bleibt besser, wo ihr seid, Mani. Diese Tür dort?"
   Die Effenda nickte nur stumm und folgte ihm dennoch in den Raum. Sie zog den Bolzen aus der Truhe und roch an der Spitze. "Vergiftet." Und als sie Talaans verärgerten Blick bemerkte, fügte sie noch hinzu: "Vier Augen sehen mehr als zwei. Ich werde immer hinter dir sein."
   Von nun an vermied es Talaan, wann immer es möglich war auf dem Teppich zu gehen. Und selbst auf dem Steinboden prüfte er jeden Schritt vorsichtig, bevor er den Fuß belastete. Seltsamerweise blieben weitere Fallen aus, bis er die Tür erreichte. Sie sah nicht im geringsten besonders aus, sonder bestach vielmehr durch ihr langweiliges Äußeres. Aber allein die Tatsache, dass diese Tür verschließbar war, anstatt nur ein in Gemächern üblicher Rahmen zu sein, machte sie wieder interessant.
   Der dunkle Fleck auf dem Marmorboden war ein stummer Zeuge des letzen Versuchs eines Fremden, die Kammer hinter der Tür zu betreten. Einen Auslöser für eine Falle konnte Talaan jedoch nicht ausmachen. Er packte vorsichtig den Knauf und drehte ihn. Verschlossen.
   "Lass mich das machen.", forderte Mani ihn auf, griff in ihren Gürtel und zog einen gezackten Dietrich hervor. Als Talaan sie fragend ansah meinte sie nur: "Ich wäre eine schöne Effenda, wenn ich mich von einer lächerlichen Tür aufhalten lassen würde. Ein... Freund meines Vaters hat es mir beigebracht."
   Sie ging vor der Tür in die Hocke und schob den Dietrich Stück für Stück ins Schloss. Nach einer Minute konzentrierten Arbeitens klackte es in der Tür. Mani ergriff den Knauf, aber Talaan packte sie am Handgelenk. "Danke, Mani. Jetzt übernehme ich wieder."
   Murrend zog sie sich zurück. Hielt sie all das hier nur für ein aufregendes Abenteuer? Bereit, bei auch nur dem Hauch eines Widerstandes aufzuhören, schob er die Tür einen Spalt breit auf und spähte hindurch. Nichts zu sehen. Weder eine normale Falle, noch eine magische.
   Er öffnete die Tür soweit es nötig war, um seinen Kopf hindurchzuschieben. Direkt hinter der Tür glomm eine kleine mattweiße Sphäre, die wie ein blindes Auge knapp über dem Boden schwebte. Hätte er die Tür auch nur ein wenig weiter geöffnet, hätte er sie berührt.
   Doch was sollte er nun tun? Es musste für Marten eine einfache Möglichkeit geben, die Kammer zu betreten. Löste er die Tür einfach auf? Oder ließ er die Sphäre je nach Belieben verschwinden und wieder erscheinen? Egal wie - Talaan sah keine Möglichkeit die Falle unschädlich zu machen.
   Dann musste sie eben umgangen werden. "Mani, helft mir mit der Tür! Wir müssen sie aus den Angeln heben."
   Zu zweit schafften sie es dann. Mehr als einmal hatte Talaan das Gefühl, dass sie viel zu knapp an der Sphäre vorbeischrammten. Immer noch behutsam lehnten sie die Tür an die Wand und sahen sich im Raum um.
   Es war wirklich nur eine kleine, fensterlose Zelle. Der einzige Einrichtungsgegenstand war ein auf einer schmalen Marmorsäule gesockeltes Lesepult. Und auf dem Pult...
   Wie im Trance machte er einen Schritt darauf zu.
   "Halt!" Mit voller Wucht prallte etwas auf ihn und riss ihn von den Beinen.
   "Bist du auf einmal von einem Dämon besessen, MaKri?!", fauchte eine schwer atmende Mani und wälzte sich von ihm herunter.
   "Was..."
   "Zornig deutete sie auf eine Marmorplatte im Boden, die sich ganz leicht von den anderen abhob. In der Kammer, die allein von den Feuerschalen im Nachbarraum erleuchtet wurde, war sie kaum auszumachen. Mit seinem nächsten Schritt wäre er auf sie getreten.
   "Wie oft wollte ihr mir noch das Leben retten, Mani?", fragte er sie lächelnd und schüttelte über seine eigene Dummheit den Kopf.
   "Was ist an diesem alten Buch so verdammt besonders, dass du deswegen vergisst, dass du durch die Höhle des Löwen schleichst?"
   Wieder zu Verstand gekommen wich er weiteren losen Bodenplatten aus und blieb dann ehrfürchtig staunend vor dem in weinrotes Leder gebundenen Buch stehen. Beinahe zärtlich strich er über die vertrauten Symbole auf dem Einband.
   "Das ist mein altes Zauberbuch. Wie kann das sein?"
   Die Antwort, zumindest einen Teil davon, fand er im Innern. Der letzte Teil des Buches enthielt einige Seiten nichtmagischen Papiers, auf denen sich seit jeher die Besitzer des magischen Werkes verewigt hatten. Nach seinem eigenen Eintrag fand er die harte, eng gedrängte Handschrift Martens.
   "Endlich ist es soweit! Ich habe es so lange gesucht und nun ist es mein! Nachdem ich Talaan niederstreckte, war es mir nicht vergönnt es zu finden, aber es in dieser Welt hier zu beschaffen war ein Leichtes.
   Dieser Narr Talaan! Er hat nie begriffen, welch Macht er mit diesem Buch in den Händen hält. Tausend Jahre und er nutzte es nur zum Heilen und zum Fliegen! Er verbrachte mehr Zeit damit sein Liebchen zu vögeln, als die Magie zu studieren. Pah! Armseliger Trottel.
   Noch verschließt sich mir seine Macht, da jeder Versuch es zu übersetzen gescheitert ist. Dieser Rückschlag ist bedeutungslos, denn ich kann warten. Das Östliche Orakel wird mir auch dieses Problem lösen können. Und was ist Zeit für die, welche unsterblich sind?"
   Und wieder irrte sich Marten. Talaan hatte sehr gut begriffen, welche Macht in der Magie lag, die dieses Buch enthielt. Er hatte sie nur nicht annehmen wollen. Wozu auch? Nie hatte der Krieg oder auch nur eine Schlacht einen Weg in den Jungen Wald gefunden.
   "Dann nimm es mit, verdammt, aber lass uns hier verschwinden! Lesen kannst du es später noch."
   Vorsichtig, in Erwartung einer letzten Falle, nahm er es an sich. "Wir müssen alles wieder so herrichten, wie es war. Marten darf vor morgen früh nicht merken, was hier geschah."
   "Morgen früh?"
   "Mohab hält dann ein öffentliches Gericht über Mörder und Verräter. Halb Tullma wird anwesend sein, wenn man ihm Glauben schenken darf. Wir werden ihn bloßstellen und dann die Stadt verlassen."
   Mani nickte bedächtig und schien kurz über etwas nachzudenken. "Dann lass uns keine Zeit verschwenden, Talaan."
 
Keiner der MaKri hatte die Ruhe besessen, sich in dieser Nacht schlafen zu legen. So waren noch alle wach und warteten auf Talaans Rückkehr, als er die Gemächer der Delegation betrat. Sein Schwanz peitschte verärgert hin und her.
   Kirra sprang sofort auf, rannte zu ihm und umarmte ihn stürmisch. Es tat so gut, ihn in Sicherheit zu wissen. "Du lebst.", flüsterte sie erleichtert und koste seine Schnauze mit ihrer. Dann wurde sie sich der würdevoll wartenden Blicke der Anderen bewusst und löste sich leicht verlegen von ihm. Manchmal fühlte sie sich unter den Ältesten und Gelehrten vollkommen fehl am Platze.
   Reshero zwinkerte ihr jedoch wohlwollend zu, bevor er ihren Geliebten fragte: "Nun, Talaan, hast du etwas entdeckt, das uns Schutz vor Mohab bieten kann?"
   "Ich weiß es nicht.", erwiderte er schwermütig. Und nach einigem Zögern korrigierte er sich: "Ich glaube nicht. Ich habe mein Zauberbuch wiedererlangt. Mit seiner Hilfe werden wir hier lebend herauskommen und Mohab eine Lektion erteilen. Vielleicht hilft es uns auch ein wenig Zeit zu erkaufen, aber den Krieg werden wir mit seiner Magie nicht gewinnen."
   Unruhe machte sich unter den Ehrwürdigen breit. "Wir brechen auf?"
   "Morgen früh werden wir Mohab bloßstellen und dann gehen. All das hier", er deutete mit einer allumfassenden Geste auf den Palast, "ist nur eine Lüge." Er warf ein paar Landkarten auf den Tisch, wo sie schlitternd zum Liegen kamen. "Der Krieg gegen unser Volk ist bereits beschlossen. Geht jetzt schlafen, wir alle müssen morgen hellwach sein, um zu überleben."
   Gedankenverloren kraulte er Kirra hinter den Ohren und ließ sie dann einfach stehen, als er mit gesenktem Haupt zu ihrem gemeinsamen Schlafgemach ging.
   Reshero hatte inzwischen die Karten ausgebreitet und stand nun mit gerunzelter Stirn über sie gebeugt. Hin und wieder murmelte er etwas wie "Ja, ja. So m\xFCsste es sein.", "Hmm, das ist nicht gut." Oder "Interessant.". Rerrena und Tonri sahen ihm dabei über die Schulter, versuchten aber erst gar nicht zu verstehen, was sie dort sahen.
   Kirra sah nur eine große grüne Fläche mit roten Kreisen, Kreuzen und Pfeilen darauf. Die MaKri benutzten keine Karten. Sie fanden sich auch so im Dschungel zurecht.
   Schließlich blickte der Schriftgelehrte auf. "Ich habe schon darüber gelesen, dass die Menschen ihre Kriege auf dem Papier planen, aber bis heute habe ich so etwas noch nicht mit eigenen Augen gesehen. Nach meinem Verständnis haben die Menschen schon wesentlich mehr Soldaten in unserem Dschungel, als wir angenommen haben. Mohab mag noch nicht wissen wo sich die Halle des Lichts erhebt, seine Truppen könnten das Orakel dennoch innerhalb von vierzehn Tagesmärschen erreichen.
   Einen Krieg kann er mit dem Wenigen, was er hat nicht gewinnen, das Orakel vorläufig von uns zu trennen wäre ihm jedoch ein Leichtes."
   Daraufhin begannen Tonri, Rerrena, Sorral und Reshero über die Lage zu beraten. Kirra verstand bald überhaupt nichts mehr. Wie war sie hier nur hineingeraten? Sie war doch nur eine einfache Jägerin, die noch vor einem halben Jahr keine Sorgen kannte. Jetzt stand ihr Volk vor einem Krieg und nach dem, was sie den Worten der Ehrwürdigen entnehmen konnte, sah es nicht gut aus.
   Traurig schlich sie sich davon. Die vier MaKri bemerkten nicht einmal, dass sie den Raum verließ.
  
In ihrem Schlafgemach kniete Talaan vor einem flachen Tisch nahe einer Feuerschale und starrte auf die Seiten des Buches, welches er mitgebracht hatte. Aber er las nicht. Kirra setzte sich seiner Seite zugewandt neben ihn und ließ ihre Augen über ihn wandern. Wie gerne würde sie jetzt sein Fell berühren.
   "Es tut gut, wieder dein vertrautes Gesicht zu sehen.", sagte sie sanft. Inzwischen hatte sie sich an seine menschliche Gestalt gewöhnt, aber jetzt sah sie wieder den Mann, in den sie sich verliebt hatte.
   Wie aus einem Traum erwachend blickte er auf und lächelte ein unglaubliches Lächeln, als er sie sah. "Kirra! Es fühlt sich auch gut an, wieder ein Fell zu haben, glaub mir." Er lehnte sich zu ihr und küsste sie zart und ausgiebig. "Geh jetzt besser schlafen, du wirst es brauchen."
   "Nicht ohne dich."
   Talaan seufzte schwermütig und warf seinem Buch einen flüchtigen Blick zu. "Ich kann nicht, Kirra. Ich muss noch sehen, wie ich uns morgen möglichst gut aus Tullma bringe."
   "Dann lass mich hier bleiben, ja? Ich möchte einfach nur bei dir sein und dich ansehen."
   Zärtlich strich er mit dem Handrücken ihre Schnurrhaare zurück und küsste sie erneut. "Wie könnte ich dir einen Wunsch abschlagen? Ich fürchte nur, ich werde keine gute Gesellschaft sein."
   "Ich werde einfach nur hier sitzen." Sie musste innerlich schmunzeln, mit welchem Widerwillen er seinen Blick von ihr abwandte. "Vielleicht...", sie kam sich dumm vor, dies auszusprechen, "könnte ich dir aber auch helfen." Wie sollte sie denn?
   "Ich wünschte, du könntest." Den Vorwurf, dass ihr Vorschlag sinnlos war, da sie weder von Politik noch von Magie etwas verstand, sprach er nicht aus.
   "Ich kann zuhören. Manchmal hilft das."
   Talaan zerraufte sich das Fell auf seinem Kopf und knetete seine Ohren durch. "Ich habe nicht einmal eine Ahnung, wo ich anfangen sollte. Die Warnung des Orakels, der Krieg, mein Zauberbuch, der morgige Tag..."
   Kirra legte ihre Hände in den Schoß und neigte ihren Kopf lauschend zur Seite. Ihr Liebster sah diese Geste und ein schmales Lächeln brach durch seine ernste Mine. "Na gut, ich will es versuchen.
   Am meisten zerbreche ich mir den Kopf über den Satz des Orakels: ,Die mächtigsten Geheimnisse des finsteren Herzens können euch schützen, wenn ihr die Wahrheit über die MaKri entdeckt.'. Ich habe nichts über das Wesen der MaKri herausgefunden. Wie sollte ich auch? Wir sind hier in der Hauptstadt der Menschen. Und dennoch habe ich das Gefühl noch einmal auf die Suche gehen zu müssen, um es zu finden. Habe ich mich durch das Buch nur ablenken lassen? Ich weiß es nicht."
   Er verfiel dem Schweigen und sie konnte geradezu sehen, wie sich die Gedanken in seinem Kopf zu einem finsteren Knäuelwirrwarr zusammenballten. "Was noch?", fragte sie behutsam nach.
   Beinahe überrascht wirkend sah er sie an, so als hätte er ihre Anwesenheit vergessen. "Das Buch... Wieso ist es hier? Es war ein Bestandteil meines letzen Lebens, in einer Welt die unerreichbar von hier ist. Wie konnte es Marten mit hierher bringen?"
   "Du bist doch auch hier.", wunderte sich Kirra. Das war wundersam genug. Sie liebte einen Mann, der auf eine seltsame Weise unsterblich war und zwischen den Welten wandelte. Warum machte er sich da Gedanken wegen eines Buchs?
   Verdutzt sah er sie an und nickte dann bedächtig.
   "Was ist an ihm so besonders?", fragte sie neugierig und warf einen Blick auf die Seiten. Sie kannte nicht einmal die Zeichen, aus denen sich die Schrift zusammensetzte. "Du nanntest es dein ,Zauberbuch'."
   "Es ist eine beispiellose Ansammlung von Magie, von der ich früher nicht einmal zu träumen wagte. Heilung, Kampf, Illusion, Bezauberung von Wesen... Der Magier, der es einst schrieb, musste unglaubliche Fähigkeiten besessen haben."
   "Diese Worte sind Magie?", staunte Kirra ungläubig. "So wie die eines Maigan?"
   Erheitert musste sie feststellen, dass Talaan wieder dieses Leuchten in den Augen bekam, welches er immer hatte, wenn er sich für etwas begeisterte. "Ja und nein. Die Magie der Menschen formt sich aus Konzentration, Worten und Gesten. Manchmal benutzen sie auch noch Gegenstände, Zeichen und Rituale. Als ich damals Girrad heilte, wollte ich zunächst die Formel aussprechen. Aber statt dessen hat sich in meinem Kopf ein seltsames Muster aus glühenden Linien und Kurven gebildet. Später hat mir Sorral erzählt, dass er es genauso macht. Ich habe dir ja erzählt, wie ich von ihm und er von mir gelernt hat."
   Kirra warf dem Buch einen triumphierenden Blick zu. Sie hatte schon befürchtet, dass so ein einfaches Buch jeden Menschen zu einem Maigan machen konnte. "Also ist eure Magie etwas besonderes.", stellte sie begeistert fest.
   "Oh ja, das ist sie. Sie fühlt sich beinahe wie ein Teil von mir an. So... natürlich. Und sie ist stärker. Nur in meiner menschlichen Gestalt und ohne die verstärkende Kraft des Buches hätte ich Loma niemals heilen können."
   "Das mach mich glücklich, Talaan." Sie schmiegte sich an seine Seite, legte ihren Kopf auf seine Schulter und schlang einen Arm um seine Taille. "Ihr seid etwas Besonderes. Nicht nur menschliche Mystiker mit einem Fell. Und trotzdem kannst du dieses Buch benutzen? Was macht dieser Zauber dort?" Sie deutete auf die Seite, auf die Talaan vorhin gestarrt hatte.
   "Levitation. Mit ihm kann man fliegen oder Dinge zum Schweben bringen." An dem verschmitzten Ausdruck in seinen Augen erkannte sie, dass er etwas vorhatte, noch bevor ihn eine weißlich leuchtende Aura umgab. Dann hob eine unsichtbare Kraft die Spitze ihres Schwanzes hoch, ließ sie durch die Luft gleiten und gegen ihre Nase stupsen.
   "Aber du hast den Zauber gar nicht ausgesprochen.", brachte sie verblüfft heraus und entzog ihren Schwanz seinem Zugriff. Das Leuchten um ihn verschwand.
   "Ich habe ihn oft genug gebraucht.", erläuterte er ihr und küsste sie verspielt. "Ich hatte nur ein, zwei Dinge vergessen, die mir zur Vervollkommnung fehlten. Und damit hatte ich auch das Geistessymbol."
   "Die glühenden Muster in deinem Kopf? Sie sind bestimmt wunderschön. Eine Skulptur aus Gedanken..." Sie seufzte verträumt. "Ich würde gerne mal eins sehen."
   Das Leuchten um Talaan erschien wieder. "Nichts leichter als das." Er fuhr die Kralle an seinem Zeigefinger aus und auch sie begann zu leuchten, ja beinahe zu glühen. Er fuhr mit dem Finger durch die Luft und hinterließ eine bläulichweiß glimmende Line. Beinahe verspielt fuhr er fort, einen Strich nach dem anderen aneinander zu fügen. Kirra verfolgte das Schauspiel sprachlos.
   Mit jedem Teilstück schien ihr das, was er da in die Luft malte, vertrauter zu werden. So als könne sie erraten was es werden würde, wenn er nur noch den nächsten Strich setzte. Doch das blieb natürlich nur eine Illusion. Als seine Hände nach vollbrachtem Werk zur Ruhe kamen, war das Symbol in der Luft zwar wunderschön, aber immer noch nicht begreifbar.
   Sie stand auf und betrachtete es von allen Seiten. Mal aus der Ferne, mal berührte sie es beinahe mit ihrer Schnauze. Je länger sie es ansah, desto verständlicher schien es ihr. "Was tut es?", hauchte sie ehrfurchtsvoll. Es schien in seiner Art so filigran, dass es durch laute Worte bestimmt zerbrach.
   "Das Symbol des Lichts. Sprich es aus, und du erleuchtest die Welt um dich herum, egal wie tief die Finsternis auch sein mag."
   Sie neigte den Kopf und sah Talaan fragend an. "Wieso habe ich das Gefühl, es beinahe anfassen zu können?"
   "Versuch' es doch mal."
   Kirra streckte ihre Hand aus, doch Talaan schüttelte den Kopf. "Nichts so. Mit dem Geist. Stell dir vor, dieses Muster würde sich in deinem Kopf bilden."
   Beschämt zog sie die Hand zurück. "Das wäre närrisch. Eine einfache Jägerin, die sich in der Kunst einer Maigan versucht."
   Talaan schlang von hinten seine Arme um ihren Bauch und liebkoste ihren Hals mit seiner Schnauze. "Wenn du es willst, tu' es einfach. Ich werde es niemandem verraten."
   Über ihre eigene Dummheit lächelnd schloss sie die Augen. Sie konzentrierte sich auf das Muster, so wie sie sich daran erinnerte und scheiterte. Dann machte sie es wie Talaan und malte eine Linie nach der anderen. Es ging erstaunlich leicht. Doch als sie fertig war, geschah überhaupt nichts. Selbstverständlich nicht. Es war und blieb närrisch. "Es leuchtet nicht mal richtig.", klagte sie ihr Elend.
   Sie wollte sich von dem Symbol wegdrehen, aber Talaan hielt sie fest. "Selbst Sorral hat nichts auf Anhieb gelernt.", flüsterte er ihr ins Ohr. "Du sagst, es leuchtet ein wenig? Das ist doch schon ein Anfang. Versuch es noch mal, einfach nur mir zuliebe. Der Anblick lohnt sich, glaub mir."
   Was sollte das? Sie war keine Zehnjährige mehr, die davon träumte eine Maigan zu sein. Sie sah das Symbol, das in der Luft schwebte noch einmal an und entdeckte tatsächlich einen Bogen, der in ihrem Kopf anders ausgesehen hatte. Erneut schloss sie die Augen und korrigierte diesen Fehler.
   Und das Symbol in ihrem Kopf füllte sich mit strahlendem Licht. Zufrieden lächelte sie. "Es ist wunderschön..."

  
Kirra begann in seiner Umarmung zu glühen. Vollkommen überrascht sprang er zurück und starrte sie fassungslos und hingerissen zugleich an. Sie sah aus wie ein strahlend weiß leuchtender Engel. Wie war das möglich? War Kirra auch eine Maigan, die ihr Talent nur noch nicht entdeckt hatte? Das wäre ein zu großer Zufall. Aber was geschah dann gerade?
   Kirra betrachtete verzückt ihre Hände, die wie der Rest ihres Körpers in weißem Licht glühten. Ab und zu sah sie ihm in die Augen, unfähig ein Wort hervorzubringen.
   Mit einem Donnerschlag kam ihm die Erkenntnis. Niemals hatte er sich gefragt, warum die Magie in seiner MaKri-Gestalt so anders war. Nie hatte er sich gefragt, warum die Geistessymbole schon im Ansatz scheiterten, wenn er sie als Mensch gebrauchen wollte. Das Wesen der MaKri!
   Wenn das stimmte... Er ergriff Kirras Hand, zog sie zu sich und küsste sie leidenschaftlich. Ihr Leuchten flackerte kurz und verschwand dann ganz, als sie seinen Kuss erwiderte. Ihre Augen glommen mit einer Begeisterung, die dem magischen Licht in nichts nachstand. "Kirra, du hast vielleicht eben die MaKri gerettet. Hol' die Anderen."
   Immer noch sprachlos verließ sie eilig den Raum.
  
Als Kirra mit den ehrwürdigen MaKri zurückkehrte, hatte Talaan das Symbol des Lichts durch ein anderes ersetzt. Es war selbst für ihn neu, da es von einem Zauber stammte, welchen er sich erst mit Hilfe des Buches in Erinnerung gerufen hatte. Sorral erkannte dies sofort, doch Talaan bedeutete ihm mit einem Zeigefinger auf den Lippen zu schweigen.
   "Was seht ihr?", fragte er die Ehrwürdigen ohne Umschweife.
   Sie betrachteten es eingehend, bevor Rerrena antwortete: "Ein filigranes Kunstwerk aus Licht, zweifellos erschaffen durch deine Magie, Maigan."
   "Das ist interessant...", murmelte Reshero gedankenverloren. "Ich kann es nicht nur sehen. Ich kann es sogar ein wenig spüren." Er tippte sich bedächtig an die Stirn. "Hier drin. Ein bemerkenswertes Kunstwerk."
   Mehr Bestätigung brauchte Talaan nicht. Er nickte seiner Geliebten zu. "Kirra? Zeig es ihnen."
   Kirra neigte verlegen ihr Haupt, als sie in die Mitte des Raumes trat. In diesem Moment tat sie ihm regelrecht Leid. Die Blicke der Ehrwürdigen lagen schwer auf ihr. Sie schloss ihre Augen und konzentrierte sich. Die MaKri traten allesamt erschrocken einen Schritt zurück, als mit einem Mal taghelles Licht den Raum durchflutete, dessen Quelle Kirra war.
   "Sie ist auch eine Maigan?", hauchte Reshero ehrfürchtig.
   Talaan nickte. "In gewisser Weise. Sie, ich und jeder andere in diesem Raum."
   "Das ist Unsinn.", brummte Tonri ungehalten. Das Wort Unsinn klang bei ihm so düster und schwer, als hätte ein Anderer "Blasphemie" gesagt. Rerrena und Sorral nickten zustimmend. Nur Reshero wiegte nachdenklich seinen Kopf.
   "Was ihr dort seht, meine Freunde,", Talaan deutete auf das Geistessymbol, welches er in die Luft gemalt hatte, "ist die Gestalt der Magie, wie sie den MaKri eigen ist. Sie konnte bisher nicht von einem Maigan einem Anderen gelehrt werden. Weder auf Papier noch sonst irgendwie. Selbst der Zauber, den das Orakel aufschreiben ließ war unvollkommen. Das ist der einzige Grund, warum unser Volk seine Kraft nicht nutzen konnte.
   Doch von Zeit zu Zeit geschieht es, sei es durch Zufall oder Schicksal, dass ein MaKri eines dieser Symbole entdeckt, einen Weg findet die Magie zu lenken." Die Kri, selbst Kirra, sahen ihn weiter zweifelnd an. "Bedeutet Maigan denn nicht ,vom Schicksal erwählt'? Es ist doch eine Wahl des Schicksals, wenn ein MaKri durch Zufall einen Zauber für sich erschließt."
   "Unter keinen Umst\xE4nden war es Zufall.", widersprach ihm Sorral mit Nachdruck. "Als der Tiger mich anfiel, wusste ich, was zu tun war. Ich griff nach der Magie, als wäre sie schon immer ein Teil von mir gewesen, und schleuderte sie nach dem Angreifer."
   Talaan hob beschwichtigend die Hände. "Hört mich an..."
   Reshero, der natürlich wieder in seinem Buch schrieb, begann in abwesendem Tonfall zu rezitieren: "Sivra, die erste Maigan von der wir wissen, berichtete, ihr sei die Gabe im Traum vom Schöpfer selbst gegeben worden. Nrali, die ihr nachfolgte, sprach von einer Vision. Dann gab es noch..." Und so fuhr er fort.
   "Ich bitte euch, hört...", versuchte Talaan es erneut, doch Tonri unterbrach ihn. "Du erzürnst die Geister der Ahnen, wenn du ihre Taten mit solchen Worten schmälerst."
   "Ich wollte doch nur..."
   Diesmal fiel ihm Rerrena ins Wort. "Das Orakel selbst hat niemals etwas erwähnt, dass deine Worte auch nur..."
   Talaan stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus. "SCHWEIGT!"
   Die Ehrwürdigen verstummten wie vom Blitz getroffen. Sie hatten Talaan noch nie derart aufgebracht erlebt. Es kochte in ihm. "Ihr benehmt euch wie Kinder, denen man das Spielzeug weggenommen hat! Ich weiß, dass es euch wichtig ist, aber wir haben morgen früh einen Krieg zu verhindern! Und wir haben jetzt keine Zeit für eine philosophische Diskussion, verdammt!"
   Ihm entwich ein zufriedenes, kehliges Knurren, als die Ehrwürdigen sich stumm hinsetzten. Er atmete mehrmals tief durch, bevor er weitersprach. "Ihr habt vermutlich Recht und ich ebenso. Vielleicht ist ein Maigan eine Wahl des Schöpfers oder der Schicksalsmächte, schließlich kamen sie stets in Zeiten der Not.
   Aber morgen entscheiden allein wir über die Zukunft unseres Volkes. Wir werden Mohab die neue Macht der MaKri offenbaren. Er soll vor ihr erzittern und seine Angriffsgelüste noch einmal überdenken. Aufhalten werden wir ihn wohl nicht, aber wenn wir es richtig anstellen, verschaffen wir uns Zeit. Zeit, die wir brauchen, um die MaKri auf den Krieg vorzubereiten.
   Ihr könnt in einer Nacht nicht einfach die Geheimnisse der Magie erlernen, sie ist weit mehr als das Zeichnen von Linien und erfordert Verstehen. Aber das dort", er wandte seinen Blick nicht von ihnen ab, als er auf das in der Luft schwebende Gebilde zeigte, "ist unser Weg zum Sieg über Mohabs Soldaten und seine Mystiker. Dieses Geistessymbol müsst ihr bis morgen Früh beherrschen, und wenn es die ganze Nacht dauert. Fegt all eure Zweifel und Widersprüche beiseite und lernt!"
   Erleichtert, dies hinter sich zu haben, setzte er sich hin. Es lag ihm nicht, Reden zu halten. Kirra lächelte ihn aufmunternd an, ihre Unterstützung hatte er. Um Sorral brauchte er sich keine Gedanken machen. Dieser Zauber war für ihn neu und nun versuchte er bereits mit konzentriert gefesseltem Blick seine Struktur zu begreifen. Die restlichen MaKri warfen sich stumm zweifelnde Blicke zu, nickten dann aber letztlich einstimmig.
   "Wir wollen es versuchen, Maigan Talaan.", sprach Reshero für sie alle.
   Also begannen sie.
  
Das Herz schlug Talaan bis zum Hals, als er durch die Palasttore nach draußen trat. Vor ihm lag die größte und bedeutungsvollste Schlacht seines Lebens. Eine Schlacht aus Worten, Täuschungen, Magie, Blut und Stahl.
   Die öffentliche Verhandlung war perfekt inszeniert, das erkannte er auf Anhieb. Auch hier bewies Mohab seinen Hang zu Prunk und Dramatik. Der König saß auf seinem Thron auf der höchsten von drei Ebenen, welche auf einer Höhe mit dem Palast lag. Ihn umringten drei Mystiker, welche heute eindrucksvoll bestickte Roben trugen. Allein schon ihre Anwesenheit gab dem König eine Aura der Macht. Hinter ihm, geradezu unauffällig in seiner weißen Kapuzenrobe, stand Marten.
   Nur wenige Stufen der imposant breiten Treppe tiefer lag ein weiteres Plateau, auf dem klein und unbedeutend ein Gefangener in Ketten seiner Verurteilung harrte. Er wirkte kl\xE4glich verloren.
   Eine weitere, längere Treppe tiefer befand sich der riesige Platz für die Bevölkerung Tullmas. Dicht gedrängt tummelte sich dort ein buntgemischter Haufen aus allen Schichten der Bevölkerung. Sie alle waren gekommen, um das Schauspiel der Verhandlung zu begaffen. Nun - heute würden sie mehr als das zu sehen bekommen.
   Soldaten mit eindrucksvollen Rüstungen und grimmigen Gesichtern bewachten die Treppen zwischen den Ebenen in waffenstarrenden Doppelreihen. Sie rundeten das Bild von Mohabs Macht endgültig ab.
   Eine seltsame, magisch leuchtende Kugel aus dunklem Gestein stand vor Mohab auf einem Sockel und ein kleineres Gegenstück dazu vor dem Gefangenen. "HASSAN, SOHN DES ALBERI!", donnerte Mohabs Stimme unglaublich laut über die Ebenen. Die magische Kugel vor ihm pulsierte synchron zu seinen Worten. "DU STEHST HIER WEGEN DES VERRATS AN DEINEM KÖNIG UND DEM MORD AN ZEHN SEINER TREUEN SOLDATEN. ES WAREN MÄNNER, DIE FRAUEN UND KINDER ZURÜCKLIEßEN. DEINE SCHULD WURDE DURCH DAS SÜDLICHE ORAKEL UNWIDERLEGBAR BEWIESEN! TUE BUßE UND ERFAHRE GNADE. WEIGERE DICH UND DU WIRST STERBEN."
   "Ich sehe nichts Falsches in meinem Handeln.", erwiderte der Mann. Seine Stimme klang ungleich leiser, auch wenn sie laut genug waren, die Ebenen zu überqueren. "Ihr seid nicht mein König, Mohab. Mein König starb durch eure Soldaten! Das Reich der Owari wird sich eines Tages wieder erheben!"
   Von dieser kleinen Ansprache zeigte sich Mohab wenig beeindruckt. Würdevoll erhob er sich. "BÜRGER VON TULLMA, VERNEHMT MEIN URTEIL. DIESER MANN WEIGERT SICH, AUF DEN RECHTEN PFAD ZURÜCKZUKEHREN.
   HASSAN, SOHN DES ALBERI, DU BIST DES TODES." Ein zufriedenes Raunen ging durch die Menge. Einer der Mystiker trat vor und begann einen Zauber zu beschwören. Nach der magischen Aura, die ihn dabei umgab, musste es etwas mächtiges sein. Ein Feuerstrahl schoss vom Himmel auf den Verurteilten herab. Vor Schmerzen wahnsinnig werdend, versuchte die arme Seele noch kreischend zu entkommen, aber der Flammenstrahl verfolgte ihn. Innerhalb weniger Augenblicke blieb von ihm nur noch Asche. Die Bürger der Stadt jubelten begeistert.
   Angewidert wandte Talaan sich von dem grausigen Schauspiel ab. "Lasst uns gehen.", forderte er seine Gefährten auf. Die Schlacht begann.
   Mohab drehte sich zu ihnen, als er sie bemerkte. Abgesehen von einem kurzen Moment harmloser Überraschung behielt er sein würdevolles Gebaren bei. "WILLKOMMEN, MEINE WERTEN GÄSTE. SEID IHR GEKOMMEN, UM MENSCHLICHES RECHT ZU SCHAUEN?" Martens Blicke bohrten sich währenddessen in Talaans Kopf. Einer der Diener eilte auf ein Zeichen herbei und stellte eine weitere magische Kugel vor Talaan ab. Auch sie war kleiner als die des Königs.
   "Nein, Majestät. Ich bin hier, euren Lügen ein Ende zu bereiten." Damit schleuderte er Mohab die Angriffspläne vor die Füße. Entrüstung brandete durch die Menschenmenge weiter unten.
   Mohab brauchte nicht lange, um zu erkennen, was vor ihm auf dem Boden lag. Seine Brauen zogen sich zusammen und bedrohlich langsam hob er seinen Zeigefinger gegen sie. "IHR WAGT ES?!", polterte er. "ICH BIETE EUCH MEINE GASTFREUNDSCHAFT UND IHR VERGELTET ES DURCH HINTERGEHEN?!"
   "Nein, Mohab!" Talaan ließ seine Stimme finster und unheilvoll klingen. In diesem Moment fühle er sich wie ein Racheengel: Voller gerechtem Zorn und der Macht zur Vergeltung. "Wir boten euch das Geschenk des Friedens, doch ihr tretet es mit Füßen. Diese Pläne, unterzeichnet durch eure Hand, besiegeln den Tod der MaKri, sobald ihr das letzte Orakel an euch gerissen habt."
   Mohab bebte. Inzwischen musste er erkannt haben, dass die Zukunft zum ersten Mal seit langem eine Überraschung für ihn bereithielt. Seine sonst so eiserne Selbstsicherheit schwankte. "Tötet die Unwürdigen!", befahl er mit eiskalter Stimme, in der dennoch der Zorn vibrierte.
   "Eines noch, Mohab.", unterbrach ihm Talaan und der König gebot seinen Mystikern zu warten.
   "Ich kam in der Gestalt eines Menschen, in der Hoffnung es würde der Annährung unserer Rassen förderlich sein. Bevor ich euch verlasse, sollt ihr mein wahres Gesicht erblicken. Vergesst es nicht!"
   Er trat einen Schritt vor, um sich Platz zu verschaffen, und fing an. Kaum begann er die ersten Worte der komplizierten Zauberformel auszusprechen, schrie Marten: "Das ist eine List! Schüler, vernichtet ihn!"
   Doch das drang kaum noch zu Talaan durch. Nur am Rande bekam er mit, wie die Zauberer des Königs einen Angriff wagten. Sorral trat vor ihn und machte sich bereit. Gleißende Energie schoss aus den Fingerkuppen der drei Magier und tasteten knisternd über Sorrals schwach leuchtenden magischen Schild.
   Die Mystiker sahen rasch ein, dass sie bei Sorral nichts ausrichten konnten und lenkten ihre tödlichen Strahlen auf Rerrena, Tonri und Reshero. Marten schleuderte einen Blitz nach Kirra. Jeder einzelne Angriff zerschellte an den Barrieren der MaKri.
   Fingernägel wurden zu Krallen, sein Mund dehnte sich zur Schnauze und dann war es vorbei. Wie ein süßes Versprechen konnte er die Magie durch seine Adern fließen fühlen. Mohabs Augen zeigten so etwas wie entsetzte Ungläubigkeit. Talaan streckte sich zufrieden. Zurück im eigenen Körper.
   "Mohab. Ihr seid Zeuge geworden, dass es mehr auf dieser Erde gibt, als es selbst für euer Auge sichtbar ist. Jeder eurer Vertrauten könnte einer von uns sein und ihr werdet es niemals wissen.
   Wir wollen den Frieden, Majestät. Überlegt es euch wohl, ob ihr einen Krieg gegen uns wagen wollt. Lasst uns ziehen, oder viele eurer Soldaten werden heute ihr Leben verlieren."
   Mohabs ganze Gestalt war sengender, schwefliger Zorn. "ICH BEUGE MICH NICHT AUF MEINEM GRUND UND BODEN!", brüllte er. "ICH BIN DER KÖNIG! MYSTIKER! WACHEN! ZEIGT IHNEN IHRE GRENZEN!"
   Talaans Kugelblitz traf den ersten Magier, bevor er auch nur den Gedanken an einen Schutzzauber haben konnte. Er lebte bereits nicht mehr, als sein Körper den Boden berührte. Sorral beschwor indessen einen Feuerball, der krachend zu Füßen der anderen beiden Zauberer einschlug. Der eine wurde von der Wucht der Explosion beiseite geschleudert, doch der letzte war schon gewappnet und holte zu einem Gegenschlag aus. Talaan konnte die Beschwörungsformel nicht verstehen, doch die krankhaft summende, violette Energie, die sich um die Fäuste des Mystikers ballte, verhieß nichts Gutes.
   Schlagartig schwoll das Summen zu einem irren Kreischen an, waberndes Violett glitt durch die Luft und durchschlug Kirras Schild geradezu mühelos. Mit einem schmerzerfüllten Stöhnen ging sie zu Boden.
   "Kirra! NEIN!" Seine Instinkte zerrten an ihm, riefen ihn, seiner Frau zu Hilfe zu eilen. Mühevoll drängte er sie zurück. Ob magischer Schild oder nicht, die Kraftkugel wirkte k\xF6rperlich und riss den verblieben Magier von den Füßen. Das Glimmen um ihn herum erlosch, als seine Konzentration brach.
   "Sorral, jetzt!" Der Maigan richtete seinen Blick auf den am Boden liegenden Mann. Ein Zittern durchlief den Boden, dann durchbrach ein Stalagmit die Steinplatten des Plateaus und durchbohrten den Zauberer.
   Kirra rappelte sich hoch und taumelte ein wenig benommen. "Es geht mir gut, glaube ich."
   "Oh wirklich?", höhnte Marten. Talaan schnellte zu ihm herum und erschrak. Der magischen Aura nach, welche Marten umgab, musste er ungeheuer mächtig sein. Ein Zauberbuch lag geöffnet in seiner linken Hand.
   "Diesen Kampf kannst du nicht gewinnen, Elfenfreund."
   "Du verschwendest Deine Stimme.", knurrte Talaan. Ein plötzliches Gefühl von Gefahr ließ ihn zur Seite springen und ein Dolch schnitt knapp an seinem Arm vorbei durch die Luft. Mordlust stand in Kirras Augen. Ein Band dunkler Magie verband sie mit Marten.
   "Kirra! Komm zu dir!" Marten kicherte sein beinahe wahnsinniges Lachen, als seine Geliebte erneut angriff. Behände wich er dem Dolch aus und schlug kurz entschlossen zu. Seine Faust traf ihr Kinn und schickte sie ins Reich der Träume. Hoffentlich war sie wohlauf, wenn sie aufwachte.
   Da musst du schon früher aufstehen, Marten. "Sorral, kümmere dich um die Soldaten, Marten gehört mir."
   "Nein, wie naiv.", spottete Marten und schleuderte ihm einen halbherzigen Energiestoß entgegen. "Wie ich schon sagte, du kannst nicht gewinnen." Er schloss sein Buch mit einem Knall und ein kraftvoller Blitz schoss daraus hervor. Knisternd entlud er sich an Talaans Schild, leckte gierig über ihn, tanzte. Und hörte nicht auf.
   Beim Schöpfer, diese Macht!, Talaans Abwehr begann zu flackern. Natürlich, das Buch! Mit zwei Sätzen war er bei Reshero, griff in eine seiner Taschen und zog sein Zauberbuch hervor. Es war nicht nur eine Sammlung von Zaubersprüchen, sondern auch eine Quelle der Macht. Keine Sekunde zu spät ließ Talaan die Magie des Buches durch seinen Körper fließen. Das Flackern seines Schildes verschwand.
   Als Marten erkannte, was Talaan in den Händen hielt, begann er wie ein verwundeter Geier zu kreischen. "Wie kann das sein?! Das Orakel hat mich betrogen!"
   Talaan achtete nicht auf sein weiteres Gejammer und wehrte Martens nächsten wütenden Angriff mit Mühe ab. Dann beschwor er eine Kraftkugel, verkleinerte sie, presste sie zusammen, bis sie schnell und klein wie das Herz eines Kolibris pulsierte. Vage konnte sich Talaan an das Konzept der irdischen Gewehre erinnern und ließ das Geschoss auf Marten los. Es durchschlug Martens Herz und hinterließ ein kleines, unscheinbares Loch in seiner Brust.
   Marten blickte ungläubig an sich hinab und begann zu lächeln. "Du bist gewachsen, Elfenfreund.", brachte er schwach hervor, während seine Knie allmählich nachgaben. "Aber du bist immer noch ein Narr. Glaub` nicht, dass es... vorbei... ist."
   Mit diesen Worten starb er. Talaan wollte zu ihm. Mit Sicherheit war er nicht endgültig tot, doch Sorral rief ihn zur Vernunft: "Zu mir, Talaan! Ich brauche Hilfe!"
   Nach einer Minute der Raserei waren die Soldaten niedergestreckt. Die Wachen weiter unten zögerten anzugreifen. Talaan webte die Levitation um Kirra und hob ihren schlaffen Körper vorsichtig an. "Auf, meine Freunde, wir gehen heim."
   "DAFÜR WIRST DU BEZAHLEN, MAKRI", fluchte Mohab drohend.
   Talaan ging zu ihm und blieb dicht vor ihm stehen. Er bohrte seinen Blick in das Gehirn des Königs. "Nur der Tatsache, dass wir als Friedensvermittler kamen, verdankt ihr euer Leben, Mohab. Und einen Rat habe ich noch für euch: Wendet euch von Marten ab. Er ist Gift für eure Zukunft."
   Mit diesen Worten ließ er Mohab stehen. "Rasch, Freunde, er wird uns nicht einfach so gehen lassen. Sorral, du bildest den Schluss." In einer langgezogenen Reihe rannten die Kri hintereinander die Treppe hinab. Talaan ließ um seine Hände unheilvolle Blitze tanzen, welche die meisten Soldaten beiseite treten ließ. Wer standhaft blieb, starb.
   Was von der gaffenden Menschenmenge auf dem Platz übriggeblieben war, stob nun panisch auseinander. Dennoch blieben die meisten und starrten ungläubig diejenigen Wesen an, die es gewagt hatten ihrem absoluten Herrscher die Stirn zu bieten. Sie bildeten eine breite, lebende Gasse.
  
Auf halben Weg zu den Stadttoren kam Kirra wieder zu Bewusstsein. "He, lass mich runter, Talaan. Was soll das?" Sie sah noch ziemlich mitgenommen aus. Behutsam löste er den Zauber von ihr.
   "Bist du in Ordnung?", fragte er aus sicherer Entfernung. Sie sah überhaupt nicht mehr gefährlich aus.
   "Dieser Mystiker hat mich ganz schön erwischt, nicht wahr?" Mürrisch rieb sie sich die Schläfen. Dann bemerkte sie die abschätzenden Blicke der anderen. "Warum schaut ihr mich so seltsam an?"
   Sie war wieder die Alte. Vermutlich war es besser, dass sie sich an nichts erinnern konnte. Er nahm sie einen Moment glücklich in die Arme und küsste sie innig. "Gut dass du wieder da bist. Rasch, wir sind auf der Flucht."
  
Talaan sollte Recht behalten. Mohab hatte eine letzte Überraschung für sie parat. Das Stadttor nach Westen war geschlossen. Und vor ihm und auf der Mauer verteilt standen mindestens hundert Soldaten, einige von ihnen mit Bögen bewaffnet. Ein einziger Pfeil konnte den Tod bringen.
   Einer der Soldaten, der in eine besonders prachtvolle Rüstung gehüllt war, trat vor und nahm den Helm ab. Es war Mani. "Ich habe den persönlichen Befehl des Königs, euch zu töten, Abgesandte der MaKri."
   Um Sorral herum erschien die magische Aura, doch Talaan gebot ihm mit einer unauffälligen Geste Einhalt. Diesen Kampf konnten sie nicht mit Gewalt gewinnen.
   Mani zog ihr Schwert und rief laut. "Meine Getreuen! Angriff!"
   Was dann geschah war unglaublich. Die Bogenschützen auf den Mauern ließen die Sehnen surren und Soldaten Tullmas gingen stöhnend zu Boden. Das vollkommene Chaos brach aus. Soldaten schrieen, Soldaten kämpften gegen Soldaten, Soldaten starben.
   Talaan kannte keinen außer Mani, also beschränkte er sich darauf, ihr den Rücken freizuhalten. Als die kurze, aber heftige Schlacht zu Ende war, erhoben sich Manis Anhänger siegreich über ihre ehemaligen Kameraden. Kaum mehr als zwanzig waren noch am Leben.
   Bekümmert sah Mani auf einen alten Soldaten hinab, der vor ihr auf dem Boden lag. "So habe ich das nie gewollt. Er... er war mein Freund, aber Mohab treu ergeben." Sie sah Talaan fragend in die Augen. Stumme Tränen liefen ungehemmt ihre Wangen hinab. "Warum tut es immer so verdammt weh, für die gute Sache zu kämpfen?"
   Talaan warf einen gehetzten Blick in alle Richtungen. "Darauf weiß ich keine Antwort, Mani. Bitte öffnet das Tor, damit wir fliehen können."
   Mani schlucke den Schmerz hinunter und wurde hart. "Ja, es ist Zeit für uns zu gehen."
   "Uns?" Er konnte unmöglich die ganzen Soldaten mitnehmen. "Ich kenne und traue euch, Mani, aber ich kenne diejenigen nicht, die an eurer Seite stehen."
   Einer der Soldaten, ein junger Bursche, von dessen Wange Blut rann, trat aufbrausend vor. "Wir haben für euch gekämpft, MaKri! Einige von uns sind sogar für euch gestorben!"
   Mani legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. "Talaan, bitte schick uns nicht fort. Meinetwegen streifen wir unsere Waffen und Rüstungen ab, aber bring uns fort von hier! Hier sind wir des Todes."
   Talaan fürchtete eine letzte List Mohabs. Wenn er die MaKri nicht im offenen Kampf besiegen konnte, versuchte er es vielleicht mit einem Attentat. Ein Soldat nur, mit einem Dolch in der Nacht, konnte sie alle das Leben kosten.
   "Ihr sagt, ihr vertraut diesen Männern?"
   Die Effenda hob eine Hand zum Schwur. "Diese Männer stehen nicht auf der Seite Mohabs oder Martens. Ich habe meine Wahl mit äußerster Vorsicht getroffen, sonst wären es jetzt mehr, die hier stünden."
   Was sollte er jetzt tun? Die Vorsicht gebot die Männer hier zu lassen, die letzte Brücke zu Mohab einfach abzubrechen. Aber er brachte es nicht übers Herz. Wenn er sie hier zurückließ, würde ihr Tod ihn verfolgen.
   "So sei es. Behaltet eure Waffen, ihr werdet sie wohl brauchen. Mani, ihr seid für eure Leute verantwortlich."
   Mani stieß ein erleichtertes Seufzen aus. "Ich danke dir, Talaan. Sollte einer von ihnen dennoch ein Verräter sein, werde ich zehn von ihnen jede Nacht die restlichen bewachen lassen. Ihr sollt euch um eure Sicherheit nicht sorgen."
   Dann schwieg sie einen Moment nachdenklich. "Talaan? Wie wird man uns bei euch aufnehmen?"
   "Es wird nicht leicht für euch, denke ich, aber es ist nicht die Art der MaKri, Vorurteile lange zu pflegen.", antwortete er so ehrlich wie möglich.
   Ein Horn schmetterte irgendwo in der Stadt. Talaan brauchte nicht erst fragen, was das Signal bedeutete. "Wir müssen fort! Beeilt euch!"
  
Die Sonne gleißte genauso heiß wie auf ihrem Weg nach Tullma, aber es machte Talaan nichts mehr aus. Die MaKri waren die Eingeborenen dieses Kontinents und die Hitze war seit Anbeginn der Zeit ihr Begleiter.
   War es wirklich erst wenige Tage her, dass sie in die entgegengesetzte Richtung unterwegs waren? So recht konnte er es nicht glauben. Viel war seit dem geschehen. Ein alter Feind, Orakel, Lügen, Verrat und Fallen im Dunkeln... Er hatte sein Zauberbuch wieder und neue Verbündete liefen an seiner Seite. Die MaKri waren erwacht und hatten Mohab in seiner Thronstadt eine Niederlage beschert. Und jetzt ging es heim.
   Heim? Wie lange war es denn her, dass er auf dieser Welt weilte? Kaum mehr als vier Monate. Vier Monate, in der er von einem verirrten Mensch in einem Fell zu einem verheirateten MaKri geworden war, der das Schicksal eines ganzen Volkes in den Händen gehalten hatte. Oder es immer noch hielt.
   "Was ist, Talaan?", fragte Kirra, die neben ihm ging. "Du siehst schon wieder aus, als versuchtest du die Probleme der Welt durch Grübeln zu lösen."
   "Wir lassen einen mächtigen Feind zurück, Kirra. Mohab wird sich nicht von seinem Ziel abbringen lassen, fürchte ich. Erst recht nicht, wenn ihn Marten weiter anstachelt."
   "Du hast Marten doch getötet, oder nicht?"
   "Ich habe lange darüber nachgedacht, Kirra. In meinem letzten Leben bin ich das eine oder andere mal getötet worden, ohne endgültig zu sterben. Ein kurzer Moment der Dunkelheit und dann lebte ich wieder. Ich wusste nie warum das geschah, oder warum es nicht geschah, als Marten mich tötete...
   Er hat etwas über meinen letzten Tod gesagt, von dem ich glaube, dass es die Wahrheit ist. Seinesgleichen..." Er schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn es länger zu leugnen. "Unseresgleichen verlässt eine Welt, ein Leben nicht, solange uns hier etwas Bedeutsames hält."
   Kirra wusste darauf nichts zu sagen und schwieg.
   Nicht alles war düster. Vor ihnen lag die Heimat. Und vor ihnen lag die Hoffnung.
   Hoffnung.
   Und der Schatten des Krieges.