"Das Zweite Buch der Welten - Die Macht der Träume" von Jaquimo Talaan
veröffentlicht: 28.05.2002

"Das Zweite Buch der Welten" and contained characters \xA9 2001-2003 by Christoph Günther.
Verwendung, Änderung und kommerzieller Vertrieb nur mit meinem persönlichem Einverständnis. Dies gilt explizit (aber nicht nur) für die Charaktere Jaquimo Talaan, Ginuthal, Kirra, Jairree und Loma, an denen mein Herz hängt.
Ich habe eine Menge Arbeit in die Geschichte(n) gesteckt, auch wenn es mir Spaß gemacht hat. Wenn Du Zeit und Lust hast, schreib mir eine Email, ob Du die Geschichte mochtest oder nicht. Ich bin für jegliche ernstgemeinte Form von Kritik und/oder Lobeshymnen ;) zu haben.

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Und jetzt viel Spaß mit dem vierten Teil.
  

Die Macht der Träume

Er war sicher, das Paradies gefunden zu haben. Im Osten begannen vereinzelte Bäume die Vorläufer des Dschungels zu bilden, während in Westen die Savanne endlos und ehrfurchterregend zum Horizont strebte. Dort, wo er stand, mischten sich die beiden Welten und das Leben gedieh in unglaublich mannigfaltiger Pracht. Saftiges, hüfthohes Gras wiegte sich einem grünen Meer gleich im über die Ebene heranschwebenden Wind. Grillen zirpten, Vögel haschten sich zwitschernd in der Luft. Unweit von ihm machte es sich ein Gepard an einem Wasserloch gemütlich, aus dem gerade zwei Zebras tranken.
   Es war friedlich an diesem Ort. Eine unerklärliche Gelassenheit und Unbeschwertheit schien von ihm auszugehen und durchdrang alles und jeden hier. Talaan konnte die Harmonien des Friedens in seinem Herzen hören.
   Kirra stand bei ihm und streckte ihr Gesicht mit geschlossenen Augen dem Wind und der wärmenden Sonne entgegen. Auch sie konnte es hören, fühlen, genießen.
   "Was ist das für ein Ort?", fragte er leicht verwundert. Er hatte ihn nie zuvor gesehen, ja nicht einmal geahnt, dass es ihn geben könnte.
   "Erkennst du ihn nicht wieder?", fragte sie mit einem glücklichen Lächeln und sah ihn leicht verwundert an.
   Erneut schaute er sich um. Im Westen konnte er weit entfernt eine kleine Gruppe Büffel ausmachen, die gemütlich vor sich hin trabte. Sie kannten keine Eile. Eile stand jenseits des Friedens. "Nein. Ich habe diesen Ort noch nie zuvor gesehen. Ich könnte so etwas wunderbares nicht vergessen."
   Kirra kicherte und schüttelte gutmütig tadelnd den Kopf. "Lass Deine Augen aus dem Spiel, Geliebter. Höre auf Dein Herz."
   Also schloss er seine Augen und lauschte in sich hinein. Dieses Gefühl des Friedens kannte er. So hatte er sich das letzte Mal gefühlt, bevor Ginuthal gestorben war. Damals im... "im Jungen Wald", brachte er erstaunt hervor und schlug die Augen auf. Kirra stand dicht vor ihm, schüttelte wieder den Kopf und legte eine Hand auf seine Brust.
   "Dieser Ort ist in dir, Talaan. Nur hast du seit Ginuthals Tod nicht mehr den Weg hierher gefunden. Frieden kann nur der finden, der ihn in sich trägt."
   "Frieden..." Talaan kostete den Klang dieses Wortes aus, während er es bedachtsam über seine Lippen kommen ließ. Es tat gut. Aber...
   "Sch", flüsterte Kirra und legte ihm einen Finger auf die Lippen. "Sprich nicht darüber."
   Die Versuchung war groß. Die Versuchung sich dem Vergessen hinzugeben. Doch eben so kraftvoll war die Erinnerung, die mit einem Schlag wiederkehrte. Getrieben von einer unbekannten Kraft bemächtigte sie sich seiner. "Aber die Menschen. Wir müssen sie aufhalten!"
   Kirra wurde unsagbar traurig und ihr Gesicht verzog sich ungläubig. "Warum hast du das getan?", wisperte sie fassungslos und löste sich von ihm. Die Grillen gaben einen grässlich verstimmten Ton von sich und verstummten mit einem Schlag. "Warum?"
   "Kirra? Was ist hier los?" Der Wind verblasste zu einem Hauch und verschwand dann im Nichts.
   Kirra war nicht mehr nur traurig. Sie sah jetzt verängstigt aus. Schrecklich verängstigt. Ihre furchtsamen Blicke galten dem Westen. "Sie kommen.", flüsterte sie tonlos. "Wieso hast du ihnen Zutritt gewährt?" Tränen rannen ungehemmt ihre Schnauze hinab und bildeten eine feuchte Spur in ihrem Fell.
   Talaan spähte nach Westen. Doch die grelle Sonne blendete ihn und brannte nun erbarmungslos auf ihn herab. "Kirra, was..." Doch Kirra war fort. Dort wo sie gestanden hatte befand sich jetzt nur noch welkes Gras. Auch die Tiere waren fort, der Dschungel schien in weite Ferne gerückt.
   Von Westen her brandete etwas heran, das sich wie der Vorbote von etwas Furchtbarem anfühlte. Eine Ahnung des Schreckens.

Entsetzt riss Talaan seine Augen auf und stürzte kaltem Wasser gleich in die Realität. Kirra lag ihm gegenüber und stumme Tränen rannen durch das Fell ihres Gesichts. "Warum hast du ihnen Zugang zu deinen Träumen gewährt?", flüsterte sie traurig, ohne Vorwurf. Es war jetzt eine irdische Traurigkeit, nicht verzerrt durch das Fieber eines Alptraums. "Es war so wunderschön..."
   Auch Talaan war so sehr nach Weinen zu mute, wie lange nicht mehr. Wie hatte er es nur vergessen können? Jahrzehnte hatte er ohne diesen Ort in seinem Herzen gelebt. Nun, da er ihn für einen Wimpernschlag wiedergefunden hatte, schmerzte jedes einzelne Jahr davon.
   "Ich... konnte es nicht aufhalten.", brachte er mit gebrochener Stimme hervor. Trostsuchend schmiegte er sich an Kirra, schlang einen Arm um sie und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. "Es war, als hätte es sich in meinen Traum hineingedrängt, um meinen Frieden zu zerstören." Dann ließ er seinen stummen Tränen freien Lauf.

Die Stelle, von der Talaan diese Nacht geträumt hatte, lag nun einige Tage hinter ihnen. Natürlich hatte sie sich erheblich von seinem Traum unterschieden. Das Gras war bei weitem nicht so frisch und die Tiere waren nicht so friedlich. Sauber abgenagte Knochen hatten das bewiesen. Es war einfach nur jener Landstrich wo Dschungel und Savanne von jeher um die Vorherrschaft stritten.
   Jeder Schritt des heutigen Tages fühlte sich besser an, als der zuvor. Heute würden sie das letzte Mal im Dschungel übernachten, dann hatten sie es geschafft. Der weite Weg durch die Savanne und durch die Vorläufer des Waldes lag hinter ihnen.
   Sie hatten viel länger für den Rückweg gebraucht, als für den Weg nach Tullma. Das lag zum einen an den Menschen, die sie nun begleiteten. Zwar waren sie Soldaten und lange Märsche gewohnt, aber sie hatten auch Mägen, die es zu füllen galt. Für beinahe dreißig Menschen und Kri Beute zu finden war kein Leichtes und nahm Stunden in Anspruch.
   Zum anderen hatten sie es auch nicht eilig. Seit ihrem phänomenalen Sieg in der Stadt des Königs hatte sich schleichend aber stetig Euphorie unter den Abgesandten breitgemacht. Wenn allein eine Handvoll MaKri Mohab in seiner eigenen Thronstadt die Stirn bieten konnte, was sollte dann ein ganzes Volk von ihnen aufhalten?
   All zu schnell hatten sie vergessen, wie leicht Marten Kirra in seine Gewalt bekommen und Talaan beinahe vernichtet hätte. Talaan selbst war da keine Ausnahme. Er wusste um die Macht der Magie. Und die Möglichkeit Tausende, ja Zehntausende Magier gegen den Feind zu vereinen, berauschte ihn geradezu. Er war sich des Sieges gewiss.
   Es brauchte nur ein wenig Zeit, um die MaKri zu lehren. Und er war sich so sicher gewesen, dass sie diese Zeit hatten. In seinen Gedanken hatte er stets Mohab und Marten ratlos zögernd gesehen, nicht wissend, ob ein Angriff auf den Dschungel den begehrten Erfolg bringen würde.
   Doch seit heute Nacht war er sich da nicht mehr so sicher. Nun spürte er deutlich das Auge des nördlichen Orakels über sich schweben. In dem Moment, in dem Mohab den Krieg beschloss, würde er wissen, ob es für ihn einen Sieg geben würde.
   Blieb nur noch die Hoffnung, dass Mohab dem Orakel nicht mehr traute. Schließlich war es Talaan ja gelungen das Nördliche auszutricksen, mit Hilfe dessen östlichen Geschwisters.
   Obwohl die Heimkehr gleichzeitig auch bedeutete, wieder die Pflichten eines Maigan zu übernehmen, freute sich Talaan auf die Große Stadt. Freute sich auf die MaKri, die dort lebten, auf die Betriebsamkeit am Boden, die spielenden Kinder und die Baumhäuser. Selbst der Dschungel hier schien ihn willkommen zu heißen, war vertraut und faszinierend wie eh und je.
   Er freute sich darauf Girrad wiederzusehen und auch Rashek, die Männer, die ihn in diesem Leben die ersten Schritte gewiesen hatten. Und von der Großen Stadt aus würde es nur noch ein Spaziergang zu Kirras Dorf sein. Er vermisste die üppig grünen Hügel dort.
   Die Verlockungen eines normalen Lebens waren enorm.

Ein weiterer Grund, weshalb sie so langsam vorankamen, war der tägliche Unterricht, welchen Talaan den MaKri während der letzten hellen Stunde des Tages erteilte.
   Sorral war inzwischen vom Lernen zum Lehren übergegangen. Das lag nicht nur daran, dass er einen Vorsprung hatte und einen Großteil der Angriffs- und Abwehrzauber schon beherrschte. Der wahre Grund lag in Sorrals enormen Talent für die Kampfmagie.
   Wie sie es an jedem Abend taten, erklärten die beiden Maigan ein neues Geistessymbol, diesmal die recht schwierige Erdbeherrschung, und die MaKri lauschten konzentriert. Zum Nachdenken und Üben war dann während des nächsten Marsches genug Zeit. Als alle offenen Fragen beantwortet waren, gingen die Heimkehrenden zu ihrer allabendlichen Gepflogenheit über.
   Wie jeden Abend kam das Zwielicht früh, welches im Dschungel die Dämmerung ersetzte. Und wie jeden Abend wurde es irgendwann schlagartig dunkel. Einzig das Feuer des Lagers hielt die Dunkelheit davon ab, über die Delegation und ihre menschlichen Begleiter herzufallen.
   Und wie jeden Abend seit ihrer Flucht aus Tullma verzehrten Menschen und MaKri am selben Feuer das Fleisch, welches die MaKri während des Tages erbeutet hatten. Doch nach dem Essen auch das hatte sich so eingebürgert trennten sich die beiden Gruppen wieder und schlugen ihr Nachtlager auf der jeweils gegenüberliegenden Seite des Feuers auf.
   Wie jeden Abend ging Talaan zu der Gruppe der Menschen hinüber und erkundigte sich nach ihrem Ergehen. Er fühlte sich ihnen in einer seltsamen Weise verbunden. Schließlich war er selbst mal ein Mensch gewesen und erinnerte sich noch gut an sein anfängliches Befremden den MaKri gegenüber. Obwohl er bei den Soldaten keinen Unterschied machte, war es fast immer Mani, die ihm antwortete.
   "Es geht uns gut, wie immer, Talaan. Die Männer gewöhnen sich allmählich an das Leben als Kronenflüchtige. Oder sollte ich sagen als freie Menschen? Ich weiß nicht, ob ich mich jemals daran gewöhnen werde, kein Soldat mehr zu sein. Seit meiner Jugend kenne ich nichts anderes."
   Nachdenklich blickte Talaan in die Richtung, in der die Große Stadt lag. "Vielleicht musst du das auch nicht, Mani. Ich kann nicht für die Ältesten sprechen, aber... Wir werden einen Feldherren brauchen. Den MaKri ist der Krieg fremd, und wir brauchen jemanden, der etwas von Formationen, Taktiken und solcherlei Dingen versteht."
   Grüblerisch, ja geradezu besorgt, zog Mani ihre Augenbrauen zusammen. "Du willst, dass ich eure Schlachten befehlige?"
   "Was ich möchte zählt nicht, aber ich könnte mich im Rat dafür stark machen. Auch wird es weniger Tote auf unserer Seite geben, wenn wir wissen, wie der Feind denkt. Du kennst die Strategien Mohabs besser als sonst irgendwer.
   "Ich..." Sie verstummte nachdenklich und starrte den Boden an, als könne der ihr eine Antwort geben. "Ich muss darüber nachdenken. Euch vor einem Hinterhalt in Tullma zu retten war eine Sache. Einen Krieg gegen Mohab zu führen ist eine ganz andere."
   Talaan hob seine Hände zu einer beschwichtigenden Geste. "Das verstehe ich gut. Folge deinem Gewissen, das ist der beste Weg."
   Mani ließ ihre Blicke über die MaKri jenseits des Feuers gleiten und nickte dann. "Das werde ich, Talaan." Dann entdeckte sie Kirra, die abseits vom Feuer hockte. "Alles Wichtige ist besprochen, mein Freund. Kümmere dich jetzt lieber um deine Frau. Sie ist ein liebes Mädchen, aber in letzter Zeit scheint sie irgendwie nicht mehr so recht froh."
   Talaan nickte nachdenklich. Bisher hatte er Kirra nicht darauf angesprochen, sie ließen sich gegenseitig genug "Luft zum Atmen', aber allmählich machte er sich Sorgen. "Ich werde mal nach ihr schauen."
   Also ging er zu Kirra und kniete sich neben sie. Wie an den letzten Abenden saß sie ein wenig abseits und starrte gedankenverloren und traurig in das undurchdringliche Dunkel außerhalb des Feuerscheins.
   "Einen Flussopal für deine Gedanken.", flüsterte er in ihr Ohr.
   Wie aus einem Traum erwacht zuckte sie zusammen und sah ihn überrascht an. "Wie?"
   Er küsste sie sanft auf die Nase. "Nur eine dumme, menschliche Redensart. Was geht dir durch den Kopf, Geliebte?"
   "Ich..." Sie seufzte traurig und musterte ihn eigenartig forschend. "... will nicht darüber reden." Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, als er zu Protest anheben wollte. "Noch nicht. Keine Sorge, Liebster, ich will mein Herz nicht vor dir verschließen."
   Wie zum Beweis küsste sie ihn liebevoll und wusch seine leisen Zweifel weg, dass ihr gegenseitiges Vertrauen an Schwäche litt. "Dann sag mir wenigstens, warum du immer abseits sitzt. Weder die Ehrwürdigen noch die Menschen hätten etwas gegen deine Gesellschaft einzuwenden. Mani hat dich in ihr Herz geschlossen, glaub' ich."
   Sie warf einen flüchtigen Blick zu beiden Lagern. "Ich fühle mich unter all den Gelehrten fehl am Platze. Ich bin doch nur eine einfache Jägerin und will auch nicht mehr als das sein. Und die Menschen bleiben unter sich." Nach einiger Zeit gab sie noch verlegen zu: "Ich grusele mich auch ein wenig vor ihnen. Einige der Menschen sind so eignartig..." Sie suchte vergeblich nach Worten. "Ich weiß nicht. Eigenartig eben."
   "Sie sind Soldaten, Kirra. Die müssen so sein. Gehorsam und... unselbstständig im Denken. Dass die MaKri so etwas nicht kennen ehrt euch."
   "Es ist ihnen verboten selbstständig zu denken?" Kirra schmunzelte, als ob er sie auf den Arm nehmen wollte. Als er aber keine Anstalten machte, ebenfalls zu lächeln, wurde sie nachdenklich. "Es ist mir schon aufgefallen, dass die meisten Krieger erst zu Mani sehen, bevor sie sprechen, aber das..." Sie schüttelte den Kopf. "Ihr Menschen seid seltsam."
   Jetzt zog er eine gespielt beleidigte Grimasse. Sie wusste genau, dass sie ihn damit ärgern konnte. "Ich bin zutiefst gekränkt." Dann fing er an zu schniefen und wandte sich ein wenig von ihr ab. "Niemand glaubt mir, dass ich ein echter MaKri bin."
   Sie schlang ihre Arme um ihn und schnurrte in sein Ohr. "Du könntest ja versuchen, es mir zu beweisen. Starker Mann."
   Verschmitz blinzelte er ihr zu. "Du weißt wie schüchtern ich bin, wenn ich das vor Anderen tun soll."
   Als sie anfing zu lachen wusste er, dass er gewonnen hatte.
   Er konnte geradezu ihren Kampf mit sich selbst spüren, als sie versuchte wieder ernst zu werden. Seit sie sich kannten, spielte sie diese Spielchen mit ihm. Es war sogar noch schlimmer geworden, seit sie herausgefunden hatte, dass Talaans menschliche Prägung nach MaKri-Verhältnissen geradezu prüde war.
   "Wenn du mich schon verschmähst, könntest du mir ja einen anderen Gefallen tun."
   Er stahl seiner Liebsten einen Kuss. "Was immer du willst."
   Sie senkte... verschämt? ihren Kopf und blickte aus den Augenwinkeln zu ihm auf. "Nimmst du dir die Zeit und erklärst mir noch mal das Symbol für den Feuerball?"
   "Warum hast du nicht vorhin gefragt?", wunderte er sich.
   "Ich... wollte euch nicht aufhalten. Und du weißt doch, dass ich mich bei all den Ehrwürdigen nicht wohlfühle."
   "He, ich bin selbst einer! Ein Maigan, du erinnerst dich?", protestierte er mit einem Lächeln und erntete einen Rippenstoß.
   "Träum weiter, Jungspund."
   "Natürlich helfe ich dir. Es macht mich stolz, dass du nicht aufgibst."
   Talaan zog einige Schatten um sie beide zusammen und schirmte sie so vor den Blicken der Anderen ab. Sollten sie denken, was sie wollten. Dass sich Kirra ein wenig schämte, weil sie bisher nicht einen einzigen Angriffszauber gemeistert hatte, war ihm nicht entgangen. Ihre Erfolge im Erlernen von neutralen Zaubern wie Ruhe und Licht standen denen der anderen jedoch kaum in etwas nach.
   Talaan machte es sich hinter Kirra gemütlich und schlang seine Arme um ihren Bauch. Mit einem wohligen Seufzer lehnte sie sich an ihn, schmiegte sich in seine Umarmung. Nun fühlte sie sich geborgen, so als könnte ihr kein Übel widerfahren. Als könnte selbst ein Fehlschlag ihr nichts anhaben.
   "Gut, Kirra. Fang an."
   "Ich? Du sollst es mir erklären."
   "Du hast schon viel gelernt. Zeig mir, was du dir merken konntest." Mit einem humorvollen Unterton fügte er noch hinzu. "Und sieh dich vor, auf wen du damit zielst. Nicht dass am Ende jemand geröstet wird, den wir kennen."
   Darüber musste sie ein wenig schmunzeln. "Du bist sehr davon überzeugt, dass ich es schaffe, nicht war?"
   "Felsenfest."
   In diesem Moment glaubte sie beinahe selbst daran. Um sich Mut zu machen, atmete sie einmal tief durch und ließ dann ihre verkümmerte Version des Feuerballzeichens in der Luft erscheinen. Es leuchtete fast gar nicht und entbehrte auch der Ästhetik eines vollendeten Symbols.
   "Ich liebe es, wenn du das tust.", raunte er mit verführerischer Stimme in ihr Ohr und küsste es verspielt.
   "Schmeichler.", spöttelte sie liebevoll.
   Dennoch spürte sie so etwas wie Stolz. Ein Luftbild mit einem Schlag erscheinen zu lassen gelang nicht einmal Talaan. Sie hatte diesen Zauber instinktiv verändert, dass es ein Abbild ihres Geistes war. Sie liebte die kunstvollen Bilder, die sie heimlich damit malen konnte.
   Und sie freute sich über seine ehrliche Bewunderung für diesen Erfolg. Jetzt wollte sie ihm einen weiteren Grund geben, auf sie stolz zu sein. "Also? Was mache ich falsch?"
   "Siehst du diese Stelle dort? Sie kanalisiert die Kraft der Hitze. Feuer ist eigentlich nur..."
   Sie arbeiteten gemeinsam an ihren Fragen und zum Schluss hatte sie das gute Gefühl, alles verstanden zu haben. Voll und ganz, da war sie sicher. Es klappte dennoch nicht. Wann immer sie an einem Ende etwas verbesserte, so wie es seien sollte, verschob sich am anderen Ende wieder etwas. Nach einer fruchtlosen Stunde des Übens standen ihr beinahe Zornestränen in den Augen. Dieser Zauber hasste sie!
   "Lass es für heute genug sein, Kirra. Du kannst es nicht erzwingen."
   Am liebsten hätte sie ihren Zorn auf ihm niedergehen lassen, weil er nicht mehr glaubte, dass sie es schaffen konnte. Genau das hieß es nämlich, selbst wenn er es nicht böse meinte. Er hatte viel Geduld mit ihr bewiesen und dennoch fühlte sie sich gekränkt. Gedemütigt von ihrer eigenen Unfähigkeit. "Nur noch ein bisschen! Ich könnte mir in den Schwanz beißen!", knurrte sie mürrisch.
   "Kirra..." Er gebrauchte seine sanfteste Stimme und ließ ihre Wut auf sich selbst nicht mehr wichtig erscheinen und sie verrauchte. "Es ist gut. Lass uns schlafen."
   Sie machten es sich nahe des kleiner werdenden Feuers gemütlich und kuschelten sich aneinander. Doch Kirra fühlte sich trotz seiner Nähe traurig und irgendwie verlassen.
  

   Talaan hatte mit einem freudigen Empfang gerechnet, aber nicht mit solch einem Andrang, solch einer Begeisterung. Schon von weitem hatten sie ein unglaubliches Stimmenwirrwarr vernommen, das zu einem unglaublichen Jubelchor anschwoll, als sie den Westrand der Großen Stadt erreichten.
   MaKri saßen auf so ziemlich jedem Ast der Bäume, MaKri standen dicht an dicht auf Plattformen und Hängebrücken und MaKri drängten sich zu Tausenden auf dem Boden. Sie wirkten wie ein freudig brodelnder Vulkan, der kurz vor einem Ausbruch stand.
   Einzig die Ältesten der Großen Stadt schienen sie mit ihrer Würde davon abzuhalten. Sie standen ein wenig vor den versammelten Kri und erwarteten die Reisenden. Doch selbst auf ihren sonst so ehrwürdigen Gesichtern lag die Freude von Kindern.
   Firr trat mit einladend ausgebreiteten Armen vor. Das Gemurmel und der Jubel in der Menge erstarben rasch. "Ihr wurdet zu den Menschen gesandt, mit der schwachen Hoffnung auf Frieden. Der Frieden wurde uns verwehrt, aber was ihr brachtet ist dennoch mehr, als wir zu träumen wagten. Unsere Hoffnung ist dank euch zu einem Berg gewachsen, meine Freunde. Ihr habt die Bestimmung der MaKri gefunden."
   Mit einer ausschweifenden Geste seiner Arme holte Firr zu weiteren Lobpreisungen aus, doch eine Frauenstimme aus der Menge ließ seine Dramatik zu Staub zerfallen. "Passt auf, meine Helden, der ehrenwerte Firr scheint in den Klang seiner Stimme verliebt zu sein."
   Heiteres Gelächter brandete durch die Versammelten uns selbst Firr konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. "Sehera hat recht, fürchte ich. Wir sollten euch lieber mit einem Fest denn mit Worten ehren. Willkommen daheim."
   Er hatte noch gar nicht richtig zu Ende gesprochen, da strömten die Kri schon zu den Heimgekehrten und ehe Talaan es sich versah, hatte ihn die Menge auch schon geschluckt. Es folgte ein wildes Durcheinander aus freudestrahlenden Gesichtern, Händeschütteln, herzlichen Umarmungen und sogar hin und wieder Küssen von jungen Frauen.
   Sosehr Talaan den Trubel vor Monaten gehasst hatte, sosehr genoss er ihn nun. Diese Kri schienen sich beinahe noch mehr als er zu freuen, dass er wieder hier war. Es war eine wahre Heimkehr. Dieses Volk war seine Heimat.
   Irgendwann entdeckte er am Rande des Gedränges Mani und ihre Soldaten. Sie wurden größtenteils ignoriert und wirkten irgendwie verloren und sogar furchtsam. Die Angst konnte er ihnen nicht verdenken. Eine Horde entfesselter Kri wirkte einfach furchteinflößend.
   Talaan kämpfte sich fröhlich durch den Wust aus MaKri und gelangte schließlich zu den Menschen. "Komm mit, Mani, ich will dich dem Häuptling von dem wilden Haufen vorstellen." Ohne eine Antwort abzuwarten griff er ihre Hand und zog sie hinter sich her, als er sich seinen Weg zurück durch die Menge suchte.
   Es dauerte eine wenig, bis er Firr gefunden hatte. "Häuptling, dies ist Mani. Ihr haben wir alles zu verdanken. Unser Leben und unsere Zukunft. Ohne sie hätte ich das Zauberbuch nie gefunden."
   Mit einer ernsten Mine musterte Firr die ehemalige Effenda. Mani fühlte sich unter seinem Blick nicht so recht wohl, wie es schien. Firr hatte gelbe Augen und Talaan wusste, wie irritierend das war. "Tonri hat schon viel über dich berichtet, Kriegerin Mani. Dein Vater war mir wohl bekannt und es freut mich sehr, dass seine Tochter nach ihm geraten ist." Bei diesen Worten schenkte er ihr ein warmes Lächeln. "Ist es bei euch üblich sich aus Freude zu umarmen?"
   Mani hatte sich inzwischen ein wenig entspannt und lächelte ebenfalls. "Das ist etwas, an das ich mich gewöhnen kann, glaube ich."
   Firr schloss sie herzlich in die Arme und drückte sie kurz. "Willkommen bei unserem Volk. Du und deine Mannen werdet hier rasch eine neue Heimat finden."
   "Danke, Häuptling. Ihr... du kanntest meinen Vater? Wie..."
   Talaan beschloss, die beiden mit ihrem Gespräch allein zu lassen. Mani war sichtlich überrascht über die Wärme, die ihr entgegengebracht wurde. Es war ein guter Anfang und sie würde sich zurechtfinden. Wenn sich erst einmal herumsprach, dass Mani ein Freund des Häuptlings der Großen Stadt war, würden sich der Glauben, Menschen seien Dämonen, bald im Wind zerstreuen.

Der Abend brachte ein wunderbares Fest mit sich, an dem alles teilnahm, was auf den Beinen war. Den MaKri, die aus Tullma heimgekehrt waren wurden Ehrenplätze gegeben. Auch Mani und ihre Soldaten, die nun zum ersten Mal ohne Rüstung und Waffen zu sehen waren, wurden geradezu gedrängt, an der Feier teilzunehmen. Ihnen wurde beinahe genauso viel Aufmerksamkeit zuteil, wie Talaan und seiner Gruppe. Zwanzig friedliche Menschen auf einmal waren einfach eine riesige Attraktion.
   Das Fest dauerte bis tief in die Nacht war jene zwanglose Mischung aus Musik, Tanz und Plauderei, die Talaan so lieben gelernt hatte.

Am nächsten Tag versammelte sich der Rat der Räte. Die Ältesten aller Siedlungen waren auf und um den zentralen Platz der Stadt versammelt. Das war etwas, das es seit dem Bestehen der Ältestenräte noch nie gegeben hatte. Es galt über die Zukunft der gesamten MaKri zu entscheiden.
   Die Bürger der Stadt, die keinen Platz auf den Plattformen und Hängebrücken fanden, wurden von der Versammlung ausgeschlossen. Selbst die Große Stadt bot nicht genug Platz für ein solches Ereignis.
   Nach einer ausführlichen Rede Firrs, der diesmal nicht unterbrochen wurde, kam der Rat auf die im Dschungel verstreuten Truppen des Königs zu sprechen. Ein Häuptling einer im Herzen des Dschungels gelegenen Siedlung ergriff das Wort.
   "Was die in unserem Dschungel umherziehenden Soldaten des Königs angeht, können wir schon einige Erfolge melden. Seit wir von den Lagerplätzen der einzelnen Gruppen wussten, konnten wir gut die Hälfte von ihnen siegreich bekämpfen." Der MaKri schüttelte verständnislos den Kopf. "Jeder einzelne Kampf war aussichtslos, dennoch haben sie sich geweigert, sich zu ergeben. Die wenigen Soldaten, die schwer verwundet den Kampf überlebten, haben sich inzwischen das Leben genommen." Ein Raunen ging durch die Versammlung.
   Mani neigte sich zu Talaan herüber und flüsterte: "Mohab hat für diesen Plan nur äußerst loyale Männer ausgewählt. Und Marten hat ihnen solch einen Horror vor den MaKri in die Köpfe gepflanzt, dass sie euch jetzt mehr fürchten als den Tod."
   "Mohab hat schnell reagiert.", fuhr der Redner fort. "Wie er seine Truppen gewarnt hat wissen wir nicht, dennoch sind sie nicht mehr an den Stellen, die der ehrenwerte Reshero auf Mohabs Karte bestimmt hat. Für das Orakel stellen sie indes keine Gefahr mehr dar. Wir haben sehr viele Krieger zur Halle des Lichts geschickt. Erst ein richtiger Krieg könnte sie bezwingen."
   Das brachte dem Redner begeisterte Zustimmungsrufe ein.
   "Die übriggebliebenen Schlächter werden dennoch ein Problem sein. Sie können nach Belieben unsere Siedlungen angreifen. Sie aufzuspüren wird nicht leicht, wenn nicht sogar unmöglich werden, sollten sie in Bewegung bleiben und sich verstecken."
   Talaan erhob sich ein wenig nervös. All die Ältesten verunsicherten ihn. "Ich... ich arbeite an einem Zauber, um dieses Problem zu lösen. Er wird es uns auch ermöglichen die Savanne bis nach Tullma zu überwachen."
   Die Augen jedes einzelnen Kri waren auf ihn gerichtet, als er sich wieder setzte. Dass diese Blicke danach weiterhin auf ihm ruhten, machte ihm wieder bewusst, dass sie in ihm immer noch einen Maigan sahen. Selbst nach allem, was sie nun über die Natur ihres Volkes wussten.
   Als sich das peinliche Schweigen und erwartungsvolle Starren dehnte, fügte er noch kleinlaut hinzu: "Mehr wollte ich nicht sagen." Das brach den Bann endlich. Talaan seufzte innerlich. Ob er sich jemals daran gewöhnen würde, von diesem Volk als eine Art Erwählter betrachtet zu werden?
   "Es tut gut, das zu wissen, Maigan. Gerade die kleinen Dörfer könnten wir kaum gegen einen unsichtbaren Feind halten." Es folgte eine ausführliche Diskussion, wie eine Suche auf herkömmliche Weise erfolgen könne und wie viel Krieger dafür eingesetzt werden sollten, ohne den wichtigen Siedlungen eine Blöße zu geben.
   Von dort aus war es nur noch ein kleiner Gedankenschritt zum Krieg. Doch mit einem Mal war nicht mehr von Kriegern die Rede. "Ihr alle wisst von den Ereignissen in Tullma. Doch was wir nicht wissen ist, welche Veränderung sie mit sich bringen. Ist diese Magie denn derart mächtig, dass sie uns gegen die erdrückende Übermacht des Feindes wappnen kann? Der ehrenwerte Maigan Talaan hat das Wort."
   Kirra, die zur anderen Seite ihres Mannes saß, drückte ihm kurz aufmunternd die Hand. "Ich bin bei dir, habe Mut.', sagte diese Geste und Talaan war Kirra in diesem Moment unendlich dankbar dafür. Seine Liebste anlächelnd stand er auf, um in die Mitte des Platzes zu treten.
   "Ich bin kein Mann für große Reden, also werde ich versuchen, es kurz zu halten. Die Magie wird uns stark, aber nicht unbesiegbar machen. Sie wird uns helfen, durch Überlegenheit im Kampf unsere geringe Zahl auszugleichen. Ob dieser Vorteil genügen wird, hängt davon ab, wie groß das Talent unseres Volkes wirklich ist.
   Allein schon bei den fünf Schülern, die ich bisher hatte, gab es in einigen Belangen erhebliche Unterschiede. Deshalb sollten wir zunächst die hundert MaKri in der Großen Stadt ausfindig machen, deren Begabung für die Kampfmagie am größten ist. Wir, die aus Tullma kommen, werden sie diese lehren. Andere Zauber mögen auch wichtig sein, aber Heilung wird uns nichts mehr nutzen, wenn unser Volk vor dem Feind gefallen ist. Solche Magie mag später folgen.
   Diese Hundert werden dann zu den Siedlungen überall im Dschungel ziehen und dort selbst zu lehren beginnen. Auf diese Weise könnten die MaKri schon in wenigen Monaten für den Krieg bereit sein. Wenn unser Volk stark genug ist."
   "Monate?", fragte eine Älteste mit lauter Stimme. "Haben wir denn soviel Zeit?"
   Diese bedrohende Vorahnung, die Talaan seit seinem Traum in sich trug, hielt ihn von einer raschen Antwort ab. Eigentlich müsste das Nördliche Orakel doch wissen, dass die MaKri zu diesem Zeitpunkt leichte Beute waren.
   "Darf ich sprechen?", bat Mani geradezu schüchtern ums Wort. Der Ratsführer Firr nickte zustimmend. Die Soldatin entschied sich zu bleiben wo sie war und nicht in den Kreis zu treten. "Mohab war stets zögerlich, wenn es um Pläne zur Eroberung des Östlichen Orakels ging. Er ist sich eurer Schwäche durchaus bewusst, bildet euch nur nichts Anderes ein. Warum er zögert, weiß ich nicht. Ich habe Marten einmal hinter verschlossener Tür sagen hören, die Idee kleine, schnelle Truppen hier im Dschungel zu verteilen, gehöre zu dem einzigen Plan, der Früchte tragen könnte."
   "Das ergibt keinen Sinn!", widersprach ein Schamane lautstark. "Er könnte uns jederzeit vernichten, wenn eure Armee so stark ist, wie jeder behauptet. Wie sollten dann ein paar Hundert den Sieg bringen?"
   "Ich weiß, dass das keinen Sinn ergibt.", erwiderte Mani ärgerlich. "Mohab ist versessen auf das Orakel und er hätte nicht gezögert, euch bereits vor einem Jahr auszurotten, wenn es nicht doch einen Sinn geben würde zu warten."
   Dann wurde ihr bewusst, in welchem Ton sie mit den Hohen der MaKri gesprochen hatte. Mani räusperte sich verlegen und kam auf den Punkt. "Kurz: So knapp vor der Regenzeit wird er nicht angreifen, es sei denn Marten heckt einen neuen Plan aus. Ein Krieg während der Regenzeit währe sinnlos und reiner Selbstmord." So schnell sie konnte, ohne panisch zu wirken, setzte sich Mani wieder hin.
   Nach einer gedehnten Minute des Schweigens, in dem alle Versammelten wohl abwogen, ob Mani zu trauen war oder nicht, sprach eine Älteste eine andere Angelegenheit an. "Und nun wäre es gut, wenn Maigan Talaan uns sagen könnte, wie diese Magie aussieht, die unser Volk erlernen soll."
   Talaan, der sich nun erneut im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit wiederfand, bekam noch nicht einmal ein Wort heraus, als ein anderer MaKri schon rief: "Es uns zu zeigen wäre noch viel besser."
   "Muss das sein?", fragte Talaan niedergeschlagen. Er würde sich wie ein Angeber vorkommen, der billige Zaubertricks vorführte. Wenn man sie einmal beherrschte, stellten die meisten Zauber keine Herausforderung mehr dar.
   Firr war es, der wie so oft die richtigen Worte mit einem einleuchtenden Grund verband. "Es geht uns nicht um die Vorstellung eines Gauklers, Talaan. Die Ältesten jeder einzelnen Siedlung werden von ihren Einwohnern gefragt werden, wie sich die Zukunft unseres Volkes gestaltet wird. Sie haben ein Recht es zu erfahren."
   Resigniert seufzte Talaan. Firr hatte natürlich Recht.
   Also erklärte er kurz Sinn und Charakter jedes Zaubers und führte ihn dann einem staunenden Publikum vor. Feuer, Levitation, Schweigen... Und er kam sich dabei nicht wie ein Angeber vor. Vielmehr fühlte er sich wie ein äußerst talentierter Waffenhändler. Und eine ganze Rasse war sein Kunde.

Im Rat der Räte wurde noch viel mehr besprochen, denn die Umstände waren einzigartig und die Gelegenheit günstig. Der Tag war schon längst Vergangenheit, als die Versammelten endlich auseinander gingen.
   All das Reden und vor allem der rege Gebrauch der Magie hatten Talaan erschöpft und er war glücklich, als seine Wange endlich die Felle seines Betts berührten. Er hoffte auf einen erfrischenden Schlaf und erholsame Träume.

Er fand weder das Eine noch das Andere.
   In dem Moment, in dem seine Füße das verdorrende Gras am Rande des Dschungels berührten, wusste er, dass er den Kampf gegen den Albtraum schon verloren hatte. Er konnte das unterschwellige Grauen nicht aufhalten. Es war bereits da. Das Gefühl einer nahenden Bedrohung war nun ein spürbares Vibrieren im Boden der Savanne, in der Luft, in seinem Körper.
   Die Bedrohung lag im Westen. Er richtete seinen Blick in diese Richtung, ein Hügel versperrte ihm jedoch die Sicht. Er war froh darüber, wollte den Schrecken nicht sehen der jenseits lauerte, nicht die Dämonen, die dort hausten.
   Doch seine Beine verrieten ihn, lenkten ihn auf die Kuppe des Hügels zu, Schritt für erbarmungslosen Schritt. Und mit jedem einzelnen vermischte sich das tonlose Vibrieren mehr und mehr mit einem sehr wohl hörbaren Lärm.
   Noch bevor ihn der letzte Schritt über die Kuppe trug wusste er, was er dort sehen würde. Dennoch erstarrte er verzagend, als dieser Schritt getan war. Er hatte mit einer Armee gerechnet, groß und mächtig, nicht jedoch mit dieser Streitmacht. Die Armee Mohabs war mehr als riesig.
   Zusammen mit Talaan schien auch die Zeit zu erstarren und ein grausamer Moment der Klarheit brach an. Er bemerkte nicht die feinen Staubteilchen, die in der Luft schwebten, auch wenn er sie sah. Dafür erfasste sein Verstand jeden einzelnen Soldaten dort in der Savanne. Eine derart große Zahl hatte er noch nie, in keinem seiner drei Leben, gesehen.
   Sie überschwemmten die Savanne. Ein jeder trug den Hass auf die MaKri in seinem Herzen, war in einen stählernen Panzer gehüllt und mit stählernen Zähnen gerüstet. Auf vielen Rücken konnte Talaan Bögen ausmachen und sogar die Pfeile, die in Köchern an den Hüften ihrer Besitzer ruhten, konnte er sehen. Unter ihnen waren auch Brandpfeile, für die Hütten der MaKri bestimmt.
   Dieser Moment der Klarheit brachte außerdem eine Erkenntnis mit sich. Diese Armee war real. Was er sah war nur das Abbild in einem Traum, aber diese Armee existierte auch in der wachen Welt. Entweder jetzt oder in einiger Zeit würde diese riesige Horde aus Hass, Mensch und Stahl genau an dieser Stelle stehen.
   Und inmitten dieser Horde entdeckte er plötzlich Marten, wieder in seine verspottend weiße Robe gekleidet. Als ob dieser Talaans Aufmerksamkeit spüren könnte, drehte sich Marten überrascht um und ihre Blicke trafen sich.
   In diesem Moment starb der Moment der Klarheit und wich einer derartigen Konzentration, welche die gesamte Welt um Talaan herum auslöschte. Nur Marten und er selbst blieben zurück. Über Meilen hinweg sahen sie sich an.
   Die Entfernung zwischen ihnen verhinderte nicht, dass Talaan das unnatürlich freundliche Lächeln seines Feindes erkennen konnte. Diese lächelnden Lippen formten lautlose Worte: "Siehst du nun, was Macht bewirken kann?"

Kräftig zupackende Hände schüttelten ihn aus seinem Traum heraus. Kirra saß über ihn gebeugt und sah ihn besorgt an.
   "Kirra? Was ist los?", fragte er vollkommen orientierungslos. Stand die Armee des Königs bereits vor den Toren der Großen Stadt?
   Seine Geliebte hielt ihn sanft zurück, als er sich aufrichten wollte. "Du hattest einen Albtraum."
   Allmählich entspannte er sich und der Rest seiner Angst, die er aus dem Traum mitgenommen hatte, zerschmolz unter einigen zärtlichen Küssen. "Warst du wieder dort?"
   Kirra schüttelte den Kopf. "Das nicht, aber ich erkenne einen geplagten Ehemann, wenn ich einen sehe." Mit diesen Worten schmiegte sie sich eng an ihn und schloss ihn fest in ihre Arme.
   Trotz der Geborgenheit, die sie ihm schenkte, und der Gewissheit, dass ihre Nähe jeden Albtraum, jegliche Angst diese Nacht von ihm fernhalten würde, konnte er ewig nicht einschlafen. Dicht neben der Angst stand das Wissen um die Wahrheit dieses Traums. Eine Wahrheit die war oder seien würde.

Am nächsten Tag herrschte auf dem Stadtplatz rege Betriebsamkeit. Jeder MaKri, der halbwegs erwachsen war, stellte sich den Prüfungen, welche Talaan, Sorral und deren Schüler für sie bereithielten.
   Das Ergebnis überraschte Talaan gewaltig. Am Ende vielen ihm und Sorral die Auswahl der neuen Schüler so schwer, dass es letztlich hundertdreißig waren, welche die Kampfmagie später zu den anderen Siedlungen tragen sollten. Das Potential dieses Volkes war gewaltig.

Kirra stand am Rande der Plattform, die um ihr Haus herumführte, und starrte gedankenverloren in die Dunkelheit. Und sie fühlte sich unendlich traurig dabei. Die ganzen Tage über hatte sie dieses Gefühl im Griff gehabt, obwohl sie schon damals bemerkt hatte, dass ihr die Magie nicht lag. Mit jedem Tag, an dem die anderen MaKri der Delegation mehr und mehr Fortschritte machten, ließen sie Kirra immer weiter hinter sich und machten ihr deutlich, wie anders sie war.
   Dennoch war es erträglich geblieben. Schließlich waren sie Gelehrte, Älteste oder gar Maigan. Und Talaan hatte Kirra immer wieder versichert, dass die Kampfzauber nicht leicht waren und hatte gemeint, dass sie es auch noch schaffen würde. Seine Zuversicht tat manchmal weh. Sie wollte ihn nicht enttäuschen, tat es aber dennoch jeden Tag.
   Heute war der Bruch endgültig. Jeder MaKri in dieser Stadt war zu der Talentprüfung gegangen um seine Begabung in Kampfmagie zu beweisen. Kirra wollte es gar nicht erst versuchen. Sie wusste, dass sie nicht den Hauch einer Chance gehabt hätte. Diese Demütigung hatte sie sich erspart.
   Kräftige Arme schlangen sich um ihren Bauch und Talaans Stimme raunte in ihr Ohr. "Was suchst du so angestrengt, wenn du in die Dunkelheit schaust?"
   Sie schmiegte sich in seine Umarmung und seufzte traurig. Obwohl es in seiner Nähre nicht mehr so schwerwiegend schien, sagte sie: "Eine Antwort. Wie ist es gelaufen?"
   "Phantastisch, Kirra, einfach fabelhaft. Es ist unglaublich wie viele MaKri eine Stärke für Angriffszauber haben. Wir mussten die Aufgaben schwerer gestalten, um eine engere Auswahl treffen zu können. Wenn das in unserem ganzen Volk so ist, dann Gnade Mohab der Schöpfer!"
   Die Begeisterung in seiner Stimme tat weh. Die meisten MaKri waren von Natur aus begabt für etwas, das sie mit viel Lernen nicht zu Stande brachte! Eigentlich sollte sie sich freuen, schließlich bedeute es, dass die MaKri überleben konnten. Aber ihre Traurigkeit ließ diese Tatsache verblassen und unwichtig erscheinen.
   "Du musst schrecklich enttäuscht von mir sein.", brachte sie mühsam heraus. Talaan hatte es nie erwähnt, geradezu so, als wolle ihr in dieser Hinsicht ausweichen.
   "Warum..." Talaan stutzte, als er merkte, was sie meinte. "Oh." Danach schwieg er ratlos.
   "Ausgerechnet die Frau des Maigan ist in der Magie ein Versager.", sprach sie es endlich aus.
   "Das ist nicht war!", protestierte ihr Mann. Er klang entsetzt. "Ist es das, weshalb du in den letzten Tagen so traurig bist? Du hast doch den magischen Schild gelernt. Und das Licht, die Levitation und die Ruhe."
   Geradezu trotzig und herausfordernd, ja sogar ein wenig wütend wand sie sich aus seiner Umarmung und drehte sich zu ihm um. "Und ich habe oft am längsten von allen gebraucht! Und mein Schild war der schwächste von allen. Das hätte uns in Tullma das Leben kosten können!"
   "Kirra..."
   "Und was ist mit dem Blitz?! Und dem Feuerball oder der Kraftkugel? Bei all diesen Symbolen habe ich versagt, egal wie viel Mühe ich mir gegeben habe." Sie musste jetzt mit sich kämpfen, damit sich ihre Wut und ihre Enttäuschung nicht in Tränen entluden. "Ich bin nutzlos.", flüsterte sie.
   Sanft, aber bestimmt ergriff er ihre Schultern und ignorierte ihre Versuche, sich ihm zu entziehen. "Warum sagst du so etwas?"
   "Ich habe nicht einen Zauber gemeistert, das uns im Kampf gegen die Menschen von Nutzen wäre! Und egal was du behauptest, ich werde es auch nie lernen."
   Voller Ernst fing er ihren Blick ein und fragte dann mild: "Willst du das denn?"
   Kirras Trotz wurde jetzt endgültig zu Ärger. Er übertrieb es mit seiner verdammten Führsorglichkeit! "Natürlich will ich für die MaKri kämpfen. Was für eine dumme Frage!"
   "Das meinte ich nicht.", sagte er bedächtig. "Schau in dein Herz Kirra. Willst du lernen, Menschen zu töten? Leben auszulöschen?"
   Diese Frage hatte sie sich noch gar nicht gestellt. Ein Moment der Konfusion und dann verpuffte Kirras Zorn. Zurück blieb ihre Traurigkeit. Bisher hatte sie eine selbstverständliche Pflicht darin gesehen, sich aber nie gefragt, ob sie es wollte. "Nein.", haucht sie schließlich.
   Behutsam nahm er sie in die Arme und sie war unglaublich froh darüber. "Damit bist du mir die liebste Kri auf der Welt. Dieser Krieg wird alle die kämpfen verändern, das erkennen die Meisten noch nicht. Es gibt Momente, da hasse ich mich dafür, diese Veränderung herbeizuführen."
   "Ich verstehe es trotzdem nicht.", seufzte sie immer noch enttäuscht. "Die anderen MaKri haben es alle geschafft. Sie sind Gelehrte und Älteste, klüger als ich. ... Ich bin zu dumm, um die Magie zu lernen."
   "Ich mag es überhaupt nicht, wenn jemand meine Frau als dumm bezeichnet.", tadelte er sie mit einem Schmunzeln. Sie war zu traurig, um über seine Antwort auch nur zu lächeln. Hartnäckig half er mit ein wenig Kitzeln nach. Sie war ungemein kitzlig und das wusste er. Hilflos entkam ihr ein quiekendes Kichern. "Dass du kein Talent für die Magie besitzt, bedeutet nicht, dass du dumm bist, Kirra. Sie liegt dir einfach nicht. Warum ist es dir so wichtig?"
   Er sagte das so gutmütig, beinahe beiläufig. Sie löste sich sanft und mit einigem Zögern aus seiner Umarmung und musterte ihren Mann eindringlich. Machte es ihm wirklich nichts aus? "Ist es dir denn nicht wichtig?"
   Er stutze. Dieser Gedanke schien ihm bisher nicht gekommen zu sein. "Nein." Dann erhellte sich sein Gesicht, als er sie durchschaute. "Ist es das? Der Grund, weshalb du so traurig bist und mir so selten in die Augen blickst?
   Kirra, Ginuthal hat sich nicht einmal für meine Magie interessiert, nicht so richtig jedenfalls. Sie hat immer darüber gelacht und gescherzt, dass es wohl in der Natur des Menschen läge mit Kräften herumzuspielen, die auch ohne sein Zutun wirken. Und dennoch waren wir Jahrhunderte lang glücklich."
   Und sie hatte die ganze Zeit geglaubt, sie wäre eine Enttäuschung für ihn! Sie sah eingehend in seine wunderbaren Augen und war sich wieder einmal im klaren, warum sie diesen Mann so sehr liebte. Er nahm die Wesen, mit denen er zu tun hatte, so wie sie waren. Mit einem unerklärlichen Verständnis anstatt Gleichgültigkeit.
   "Außerdem stimmt es nicht ganz, dass du in der Magie unbegabt bist. Den Lichtzauber hast du beinahe ohne mein Zutun erlernt."
   "Er war... schön. Es hat mir gefallen, wie er sich in meinem Kopf angefühlt hat. Licht ist etwas wunderbares." Sie konnte sich eines verträumten Lächelns nicht erwehren, als sie das sagte.
   "Und der Luftbildzauber? Du hast ihn intuitiv verändert. Kirra, das ist kreative Magie!"
   Kirra sah erneut verlegen zu Boden und rang mit sich, ob sie es ihm sagen sollte. Sie würde ihm so gerne ihr letztes Werk zeigen, das sie geschaffen hatte. Aber es war so unbedeutend im Vergleich zu den magischen Symbolen.
   "Talaan?" Sie musste es tun. Sie wolle es mit ihm teilen. "Ich zeichne Bilder damit... Einfach nur Bilder."
   Neugierig neigte er seinen Kopf zur Seite und Kirra musste grinsen. Diese Eigenart hatte er unbewusst von ihr übernommen. Anstatt etwas zu sagen, sah er sie einfach nur lächelnd an. Und nahm ihr alle Scheu damit.
   Sie schloss die Augen und besann sich noch einmal auf die Formen, die sie Talaan zeigen wollte. Alles war in ihrem Gedächtnis noch so, wie sie es haben wollte. Dieses neuste Werk war etwas, auf das sie richtig stolz war.
   Sie ließ das Geistessymbol in ihrem Kopf erstrahlen und lenkte seine Energie in das Bild.
   Als sie die Augen wieder öffnete, erblickte sie einen ungläubig verzückten Talaan, der mit vor Staunen geöffneter Schnauze das Bild vor sich betrachtete. Seine Augen glitten unentwegt über die geschwungenen Linien, in allen Farbschattierungen leuchtenden Flächen und eingestreuten kleinen Sonnen. Das letzte Mal hatte sie einen derart von Schönheit verzauberten Gesichtsausdruck bei ihrer Hochzeit an ihm erlebt.
   Er ließ nicht von ihrem Bild ab, als er anfing zu sprechen. "Beim Schöpfer, ist das schön. Wie kannst du etwas derart schönes erschaffen und dann noch glauben, du wärest nicht von Wert für unser Volk?"
   "Kunst wird nutzlos und vergessen sein, wenn der Krieg ausbricht."
   "Es gibt auch noch ein Leben neben und nach dem Krieg, Kirra. Etwas derartiges wird uns nach dem Krieg daran erinnern, wofür wir ihn gekämpft haben."
   Nun wandte er sich doch von ihrem Bild ab uns sah Kirra dafür an. In seinen Augen lag Liebe und Ernst gleichermaßen. "Kirra, es ist mir wichtig, dass du mir das Folgende glaubst." Sanft ergriff er ihre Hand und legte sie zwischen die seinen. "Ich liebe dich, egal was du zu tun vermagst oder nicht. Ich würde dich nicht mehr oder weniger lieben, wenn du die Fähigkeit hättest, tödliche Magie zu lenken. Zerstören ist leicht, etwas zu erschaffen, so etwas", er nickte in Richtung ihres Luftbildes, "zu erschaffen ist schwer. Aber ich liebe dich auch nicht dafür mehr. Ich liebe dich für das, wie du bist, für deine innere Schönheit die in dir wohnt. Dass du einen solchen Weg gefunden hast sie mit mir zu teilen, macht mich natürlich glücklich.
   Glaubst du mir das?"
   Jetzt hatte sie etwas drückendes im Hals, den sie auch mit mehrmaligen Schlucken nicht fortbekam. Sie suchte nach irgend einer Antwort, fand aber keine, die nicht irgendwie plump geklungen hätte. Also küsste sie ihn mit all ihrer Liebe.
   Ohne ein weiteres Wort zu verlieren sanken sie auf den Boden und liebten sich zärtlich und innig.

Er stand auf dem Hügel unterhalb dessen die Armee des Königs lagerte, um am nächsten Tag in den Dschungel einzumarschieren. Ihr Anblick besorgte ihn immer noch, seine Hoffnung und Zuversicht aber waren viel, viel stärker.
   Kirra stand neben ihm und hielt seine Hand. "Das ist es also?", fragte sie bedacht. "Ist es das, was uns erwartet?"
   Talaan nickte ernst. "Sieh dich um, Kirra."
   Er selbst brauchte nicht hinter sich zu schauen, denn er wusste, dass dort tausend und abertausend MaKri standen und für den Angriff der dort kommen würde bereit waren.
   Doch Kirra hegte Zweifel. "Diese Wenigen soll das da aufhalten?" Sie deutete auf die dicht gedrängten Lager. Es waren mindestens zehnmal so viele Soldaten vor wie Kri hinter ihnen. Vielleicht auch zwanzig mal soviel.
   "Er kommt.", sagte Kirra nur, doch Talaan wusste sofort, wen sie meinte. Dieser grauweiße Schatten dort unten konnte nur Marten sein.
   "Es ist vielleicht besser, wenn du gehst, Kirra. Kein Grund, dich in Gefahr zu bringen." Dies hier war zwar nur ein Traum, doch war er anders, als alles, was er bisher kannte. Ob dieser Marten dort nun der echte oder nur ein Abbild seiner Fantasie war - gefährlich konnte er in beiden Fällen sein.
   Kirra ergriff seine Hand und stellte sich dicht zu ihm. "Ich bleibe."
   Schon bald erklomm Marten die letzten Meter des Hügels und musterte sie beide herablassend lächelnd. "Hast du mein kleines Geheimnis also entdeckt, Talaan.", bemerkte Marten mit betont gekünsteltem Bedauern und warf dabei einen Blick über seine Schulter. Dennoch drängte sich Talaan das Gefühl auf, dass er nicht die Armee meinte. Marten verbarg etwas anderes.
   Talaan zweifelte nun, da der Mann vor ihm stand, keinen Moment mehr an seiner Echtheit. Dies war Marten. "Dein Versteck war nicht gerade zu übersehen.", versuchte Talaan ihn aus der Reserve zu locken.
   Martens Mundwinkel zuckten kurz beleidigt. Es blieb bei dieser Reaktion. Vielmehr interessierte er sich für das, was hinter Talaan war. "Soll das deine Armee sein, Talaan? Das ist enttäuschend."
   Gelassen nahm Talaan all seine Zuversicht und schickte sie zu Marten. Sein Widersacher hob zynisch anerkennend die Augenbrauen. "Netter Trick, Talaan. Du lernst schnell, dich den Gegebenheiten in einem Traum anzupassen. Aber ich habe dieses Spiel bereits gespielt, da war an Deine Existenz noch gar nicht zu denken."
   Schrecklich starke Emotionen des Hasses, des Siegesbewusstseins und des Hohns brandeten über ihn hinweg. Kirras Hand schloss sich fester um die seine. Das schrecklichste Gefühl aber, das Talaan erreichte, war ein Gefühl der Freude. Es sagte "Ich weiß, dass ihr noch schwach seid."
   "Mohab zu einem Krieg herauszufordern war keine gute Idee, Talaan.", verkündete Marten nach einem beinahe irren Kichern. "Früher wollte er nichts davon hören, als ich ihm Vorschlug die MaKri einfach aufzureiben. Mitsamt Greisen und Kindern. Aber seit ihr ihn vor seinen Untertanen bloßgestellt habt..." Mit berechnender Absicht überließ er Talaan die Vollendung des Satzes.
   "Weshalb hasst du uns so? Weil ich ein MaKri bin?", fragte Talaan ungläubig. Er konnte nicht nachvollziehen, wie man derart verkommen seien konnte.
   "Du?" Marten lächelte mitleidig. "Überschätze nicht deine Bedeutung, unwissender Weltenwandler. Es geht mir um die Sache an sich. Der Tod einer ganzen Rasse! Welch großartige Verheerung des Schicksals das doch ist.
   Und da glaubst du doch nicht, dass ich Rücksicht auf "dein' Volk nehmen würde, wenn es einen Krieg braucht, um das Orakel zu erlangen?"
   Kirra konnte Marten nicht mehr ertragen. Zitternd trat sie einen Schritt zurück und aus dem Traum heraus und riss Talaan mit sich.

Als sie erwachten, war die Welt draußen bereits in das Zwielicht des erwachenden Morgens getaucht. Diesmal gönnte sich Talaan nicht den Luxus des genüsslichen Faulenzerräkelns der Traum der Nacht war viel zu deutlich zurückgeblieben.
   "War es der wirkliche Marten?", fragte Kirra besorgt, welcher der Sinn auch nicht nach Gemütlichkeit stand. Leicht verlegen fügte sie hinzu: "Ich verstehe nichts von diesen Dingen, aber... kann er in unsere Träume dringen?"
   Talaan antwortete nicht sofort, er konnte es nicht. Im Traum war er felsenfest überzeugt davon, aber jetzt... "Mein Kopf sagt nein, mein Herz sagt ja. Vielleicht war er sogar die Ursache für diese Träume... Oder er verändert sie. Es schien mir wie ein ständiges Kräftemessen zwischen den Bildern und Ängsten, die er mir schicken will, und dem Traum, den ich herbeisehne." Er versuchte seinen Kopf freizubekommen, indem er ihn schüttelte. Es half nichts. "Wenn wir doch Gewissheit hätten."
   "Tonri. Er kann uns helfen."
   "Der Schamane?", wunderte Talaan sich. "Wir haben es nicht mit einem Geist zu tun. Marten lebt noch, da bin ich sicher."
   Erneut nahm Kirra die Rolle seiner Lehrerin an. Es würde Jahre brauchen, die MaKri vollständig zu kennen. "Die Schamanen haben nicht nur eine Verbindung zu den Geistern unserer Ahnen. Sie wandeln auch in den Traumreichen, um Visionen zu erlangen oder einfach nur, um sie zu ergründen. Ich kenne Tonri inzwischen gut genug, dass ich ihm unserer Träume offenbaren und anvertrauen kann."
   Talaan wusste auch, dass Tonri hinter seinem düsteren Gebaren eine gute Seele war. "Einverstanden. Am besten, wir gehen gleich zu ihm, bevor die Lehrstunden beginnen."
   Kirras Humor blitze wieder durch, als sie lächelnd fragte: "Ohne Frühstück?"

Also gingen sie wie besprochen zum Schamanen, den sie gerade mit seiner fünfköpfigen Familie beim Morgenmahl vorfanden. Er lud sie ein, verlangte aber, ihr Anliegen nicht bei Tisch vorzubringen. Danach widmete er sich ihnen voller Ernst und mit zunehmender Besorgnis. Er schickte sie mit den Worten fort, er würde sich der Sache annehmen.
   Welche Spuren der Traum hinterließ, bemerkte Talaan dann während des Tages. Er trieb seine Schüler zu mehr Leistung an und musste sich zwingen, sie nicht über ihre Fähigkeiten hinaus zu belasten. Er brachte ihnen ferner ein paar Kniffe bei, ihre bisher einstudierten Zauber stärker und schneller wirken zu lassen. Sie lernten gut und machten ihn stolz. Am Ende des Tages lobte er sie als die Hoffnung der MaKri, denn das waren sie für ihn.
   Dennoch war er innerlich unruhig, geradezu unzufrieden. Schließlich verstand er auch, warum. Er hatte einfach zu wenig Zeit für seine eigenen Studien. Seine Verpflichtungen nahmen ihn zu sehr in Anspruch. Dabei machten ihm die Träume deutlicher denn je, wie nötig sein Suchzauber war. Er arbeitete bis tief in die Nacht, bis ihn der Schlaf in die Knie zwang.
   Wenigstens kehrten die Träume in dieser und den folgenden Nächten nicht zurück. Der Schlaf wurde wieder etwas erholsames und unter dem Druck seiner Arbeit vergaß Talaan bald, welche Bedrohung im Reich der Träume auf ihn wartete.

Doch sie schlummerte nur, sammelte Kraft, um dann um so härter zuzuschlagen.

Die Schlacht war verloren, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Als Talaan die Streitmacht Mohabs einem gewaltigen Tsunami gleich auf sich zubranden sah, wusste er, dass keine Magie der Welt sie aufhalten konnte.
   Kugelblitze hagelten auf die hassgepeitschten Soldaten nieder und rafften unzählige von ihnen fort. Fließend ersetzten Andere die gerissenen Schneisen. Feuerbälle explodierten krachend und versengten abermals Tausende. Und so ging es weiter, doch die Flutwelle war nicht zu stoppen.
   Die ersten Soldaten erreichten die Reihen der MaKri und wurden von Speeren aufgehalten. Dann prallte die geballte Macht tausender und abertausender Schwerter auf sie und das Gemetzel nahm seinen Lauf.
   Mit erbarmungsloser Deutlichkeit hörte Talaan die dumpfen Geräusche der in ungeschützte Leiber eindringenden Klingen, hörte die Schreie der Sterbenden, sah den Schmerz in ihren Augen, sah den Tod.
   Eine Unendlichkeit später erstarrte all das, als der letzte MaKri fiel.
   "Ist das alles, was du zu bieten hast?", fragte Marten mit verächtlichem Mitleid in der Stimme. "Ich hatte mehr erwartet."
   Nur mühsam schüttelte Talaan das Grauen ab, das sich eben in seinen Kopf gefressen hatte. Es war nur ein Traum, der Schrecken jedoch war unfassbar real. War Tonri in der Nähe? Es war schon solange her, dass sie ihn gebeten hatten... Vielleicht hatte er aufgegeben.
   "Was bezweckst du damit?", brachte Talaan mit gezwungen fester Stimmer hervor. "Versuchst du mich in die Verzweiflung zu treiben? Selbst wenn das hier die Zukunft ist, werden wir dennoch kämpfen. Du kannst unseren Freiheitswillen nicht brechen."
   Marten begann mit einer gemächlichen Wanderung um Talaan herum. Mal beäugte er ihn, mal die toten MaKri, dann wieder die siegreichen Soldaten. "Wirklich!", höhnte er mit beiläufigem Tonfall. "Ist das so." Ohne jede Hast nahm er einem Kämpfer das Schwert ab und trieb es in den Körper eines gefallenen Kri. Mit sichtbarer Genugtuung registrierte er Talaans Zusammenzucken. "Sie bedeuten dir so viel. Und dennoch führst du sie ins Verderben. Tzt, tzt. An ihrem Kampfeswillen zweifle ich nicht, Elfenfreund. Aber wie steht es mit deinem? Du musst einsehen, dass jeder Kampfzauber den du sie lehrst kaum mehr ist, als ein besserer Speer."
   Betroffen neigte Talaan sein Haupt. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, hatte Marten Recht. Diese Schlacht hier war nicht übertriebenes Blendwerk seines Widersachers. Es war das, was sie erwartete.
   "Es gibt einen Ausweg, Talaan.", erklang plötzlich Martens Stimme direkt in seinem Ohr. Talaan konnte seinen Atem im Nacken spüren. Ein Ausweg. Wie verführerisch, aber Talaan wusste, dass der Preis zu hoch war. Egal, was der dunkle Weltenwandler von ihm verlangte.
   "Sprich."
   "Es gibt nur eines, was mich mehr reizt, als "dein' Volk zu vernichten." Er kam noch näher, so dass seine Lippen beinahe Talaans Ohr berührten und seine Stimme schwand zu einem Flüstern. "Diene mir. Sei mein Adjutant, das Schicksal dieser Welt nach meinem Maß zu verändern."
   "Das ist nicht sein wahres Anliegen.", erklang unvermittelt eine finstere Stimme. Tonri!
   Keine drei Meter von ihnen stand der Schamane und hielt seine Augen auf Marten geheftet.
   "Was weißt du Sterblicher schon von meinem Anliegen?", murmelte Marten missfällig.
   Tonris Augen erglommen in einem kalten, blauen Feuer und er entblößte seine Fangzähne. "Du kannst mich nicht täuschen, Dämon. Dies ist mein Reich!"
   "Dämon?" Marten kicherte sein fast wahnsinniges Kichern. "Dies mag dein Reich sein, Geisterhascher, aber ich bin hier Kaiser." Mit einem Mal erwachten alle Soldaten aus ihrer Starre und wandten sich Tonri zu.
   Plötzlich brachen die bläulichen Flammen aus Tonris Augen auch an seinem ganzen Körper aus. Sie waren kalt, geradezu eisig. "Dieser Thron gebührt dir nicht!", donnerte er mit all durchdringender Stimme. Eine unsichtbare Welle der Macht durchdrang Talaan, brandete über alles hinweg und riss jeden Soldaten mit sich. Auch die Traumbilder der toten MaKri wurden von ihr fortgespült.
   Zurück blieben Tonri, Talaan und Marten. Der wirkte zum ersten Mal beunruhigt.
   "Talaan, du sagst, der Tod kann ihm nichts anhaben?", fragte der Schamane gelassen. Er wirkte wieder vollkommen normal. Talaan nickte.
   Traurig schüttelte Tonri den Kopf und sah Marten bedauernd an. "Du wirst nie den Frieden finden, der uns andere willkommen heißen wird. Du weißt nicht, was dir entgeht."
   Bei diesen Worten riss Marten mit einem Mal entsetzt die Augen auf und fasste sich an die Brust. Krampfadern bildeten sich auf seinem Gesicht und seinen Händen, als er unter qualvollem Stöhnen zu Boden ging. "Netter Trick, Schamane.", lächelte er gepresst. "Ich wusste nicht... verdammt... das man durch Träume den Träumer..." Einen Moment schwieg er mit konzentriert zusammengezogenen Augenbrauen. "töten kann." Seine Gestalt begann zu verblassen.
   "Woher auch, Weltenwandler? Du hast nichts als Missachtung für Träume übrig."
   Dann war Marten verschwunden.

Talaan schlug die Augen auf und sah nur Dunkelheit. Kirra lag neben ihm, atmete ruhig und schlummerte friedlich. Dem Schöpfer sei Dank, sie hatte die Schlacht nicht mit angesehen. Zärtlich küsste er ihre ledrige Nasenspitze und befreite sich behutsam aus ihrer Umarmung. Sie murrte kurz ungehalten, schlief aber weiter.
   Auf leisen Pfoten schlich er auf die gegenüberliegende Seite der Hütte. Dieser Traum war zu real gewesen, als dass er diese Nacht noch hätte schlafen können. Er befahl die Schatten zu sich, um Kirra nicht zu stören und entfachte ein Licht in einer Schale. Dann schlug er sein Zauberbuch auf und begann zu lesen. Er musste den Suchzauber finden, er war sicher, ihn im letzten Leben einmal überblättert zu haben. Vielleicht stieß er dabei ja auch auf irgend etwas, dass die Armee aufhalten konnte, die den Dschungel überfluten würde... Aber das war Wunschdenken... Keine Magie der Welt konnte so stark sein.

Als Kirra erwachte, durchfuhr sie ein ungutes Gefühl, als sie Talaan nicht neben sich fand. Sie konnte sich an Schattenbilder einer gewaltigen Schlacht erinnern und ihr Mann war mitten unter den Kämpfenden. War es ein Ohmen? Rasch richtete sie sich auf und ließ ihren Blick durch die Hütte schweifen. In diesem irrationalen Gefühl von Panik übersah sie ihn beim ersten Mal, wie er, offenbar über seinem Zauberbuch eingeschlafen, am Boden kauerte.
   Erleichtert seufzte sie und ging zu ihm. Das hereinströmende Licht und die Gedämpften Geräusche der Stadt verrieten ihr, dass der Morgen nicht mehr ganz so jung war. Talaan würde noch seinen Unterricht versäumen, wenn er weiterschlief.
   Sie kniete neben ihm nieder und streichelte zärtlich seinen Kopf. "Wach auf, Geliebter.", hauchte sie in sein Ohr und er regte sich.
   "Der thaumaturgische Fluss...", murmelte er verschlafen, bevor er erkannte, dass er über seinen Studien eingeschlafen war. "Oh." Dann stahl sich ein verliebtes Lächeln auf sein Gesicht, als er Kirra sah. "Guten Morgen, Geliebte."
   "Wieso bist du nicht im Bett, wie jeder vernünftige Kri auch.", fragte sie mit gespielter Strenge. Sein besorgter Blick daraufhin trieb ihr jegliche Fröhlichkeit aus. "Du hattest wieder einen Traum." Er nickte nur stumm und seine Augen verfinsterten sich. "Eine Schlacht?"
   Er nickte erneut. "Wir können diesen Krieg nicht gewinnen, Kirra.", sagte er düster und sah beschämt zu Boden. "Sie sind einfach zu viele. Aber wir müssen es dennoch versuchen." Talaan sah zu dem Buch vor ihm. "Ich dachte, ich könnte eine Antwort finden. Dieser verflixte Unterricht... Er stielt meine Zeit und wird uns doch nichts bringen..."
   Kirra war zu Tode erschrocken. Noch nie zuvor hatte sie ihn in einer solch verhängnisvollen Stimmung erlebt. Das waren diese Träume! Sie ergriff sanft aber bestimmt seine Schnauze und drehte seinen Kopf zu sich. "Was redest du da für einen Unsinn, Maigan Talaan! Du wirst dich doch nicht von diesem Marten einwickeln lassen? Es sind nur Träume, Geliebter, nur Träume. Er mag sie verändern, aber sie sind nicht das Jetzt."
   Niedergeschlagen schüttelte ihr Mann den Kopf. "Es geht nicht nur um das, was er mir zeigt. Es ist die Wahrheit, daran wage ich nicht zu zweifeln. Diese riesige Armee... Ich habe die Kasernen Tullmas gesehen, sie boten vielen Tausenden Platz und das war nur die Hauptstadt! Er kann die Kräfte von Dutzenden Königreichen gegen uns schicken.
   Es geht um das, was ich ihm gezeigt habe. Ich war so ein Narr! Ich dachte erst, er wolle mich in diesen Träumen verunsichern und demoralisieren... Aber Marten ist viel zu schlau, nur ein offensichtliches Ziel zu verfolgen. Er hat nun genau in Erfahrung gebracht, wozu unser Volk in der Lage ist und hat keinen Grund mehr, uns nicht anzugreifen."
   "Die Regenzeit steht kurz bevor.", erinnerte sie ihn. Was war nur mit ihm los? "Und diese Macht aus seinen Reichen muss er erst einmal um sich scharen."
   Einen Moment lang sah er sie nur verwirrt an und schlang dann plötzlich verzweifelt seine Arme um sie. "Aber ich habe trotzdem solch eine Angst. Marten ist unglaublich mächtig... seine Magie, seine Erfahrung... Wie soll ich dagegen bestehen?", murmelte er in das Fell ihrer Schulter.
   Tröstend legte sie ihre Arme um ihn und liebkoste seinen Kopf mit ihrer Schnauze. "Marten hat Angst vor der Macht in diesem Buch.", raunte sie sanft. "Lerne sie zu nutzen und zeige ihm seine Grenzen, Geliebter. Ich glaube an dich." Und das tat sie. Sie trug ein warmes Gefühl unerschütterlicher Zuversicht in ihrem Herzen, dass er es irgendwie schaffen würde.
   Seine Umarmung wurde ein wenig entspannter und er seufzte laut. "Da sind immer noch meine Schüler, die auf mich warten. Ich habe keine Zeit zum Lesen."
   "Kannst du deine Schüler nicht zu den anderen Lehrern schicken? Maigan Sorral ist ein hervorragender Lehrer und auch Reshero, Rerrena und Tonri sind fähig."
   "Es sind jetzt schon mehr in einer Gruppe als gut ist.", brummte er nur und massierte sich die Schläfen.
   "Dann lass den Unterricht ausfallen. Du glaubst sowieso nicht, dass uns diese Magie hilft."
   Sofort schüttelte Talaan energisch den Kopf. "Sie hilft uns, nur eben nicht genug. Und was glaubst Du wird geschehen, wenn sich herumspricht, dass ich, der die Magie zu den MaKri brachte, sein Vertrauen in sie verloren hat?"
   Niedergeschlagen musste Kirra eingestehen, dass es fatal für ihr Volk wäre. Indes kam ihr sofort eine andere Idee, auch wenn diese ihr überhaupt nicht schmeckte. "Ich... ich könnte ja den Unterricht übernehmen."
   "Du?" Mit einem freudigen Lächeln löste er sich von ihr und musterte sie neugierig. "Das wäre phantastisch. Willst Du das wirklich auf Dich nehmen?"
   Kirra graute es bei der Vorstellung, den talentiertesten der Kri Unterricht erteilen zu sollen. Sie war doch keine Gelehrte! Aber sie hatte verstanden, worauf es bei den einzelnen Zaubern ankam. Nur bei der Ausführung versagt es bei ihr, aber das sollten ja die anderen machen. Schließlich nickte sie zustimmend.

Der Tag verlief bei weitem nicht so schlimm, wie sie es befürchtet hatte. "Ihre" Schüler zeigten sich mehr als verständig für ihre Situation und gaben ihr zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dumm zu sein. Uns sie stellte fest, dass es ihr Freude bereitete, ihr Wissen zu vermitteln. Als die ersten Schüler das Erlernte anwandten, war sie glücklich. Am Ende des Tages ging sie frohen Herzens nach Hause.
   Sie wollte gerade ihre Hütte betreten, als Tonri heraus kam. Er trug ein noch finstereres Gesicht als sonst und begrüßte sie nur mit einem brummenden Nicken. Sie musste von Talaan unbedingt in Erfahrung bringen, was letzte Nacht genau vorgefallen war.
   Doch als sie das Haus betrat, waren erst einmal alle Fragen vergessen, wegen des Anblicks, der sich ihr bot. Das gesamte Haus schien vollgestopft mit eigenartigen, leicht durchsichtigen Kugeln, die vielleicht eine Armlänge durchmaßen und die unterschiedlichsten Bilder zeigten. Da war der Platz der großen Stadt mit seinem großen Steinkreis. Da war ein sich ständig bewegendes Bild der Savanne, so als würde man durch die Augen eines Vogels auf sie herabschauen. Kirra sah die bewaldeten Hügel nahe ihrer Heimat. Und vieles mehr: Dschungel, Dörfer, MaKri.
   Eine der Sphären zeigte sie selbst von schräg oben, so wie sie gerade in der Tür stand. Als sie erstaunt die Augen aufriss, tat es ihr die Kirra in der Kugel gleich. Sie winkte sich zaghaft zu, die andere folgte ihrem Beispiel. Kirra blickte nach oben und entdeckte eine weitere Sphäre, klein und matt blau schimmernd.
   "Ein herrliches Spielzeug, nicht wahr?", erklang die amüsierte Stimme ihres Geliebten. "Und dabei so nützlich."
   Die blaue Kugel kam näher und hielt kurz vor ihrem Gesicht an. Auf der großen Sphäre sah Kirra sich nun ebenfalls aus der Nähe. Sie wollte die Blaue anstupsen, doch ihr Finger glitt durch sie, wie durch Luft. "Ist das eine Art Auge?", fragte sie ehrfürchtig.
   Talaan erschien zwischen den großen Bildkugeln, das hieß, er schritt eigentlich einfach durch sie hindurch. Sie sah ihn zum ersten Mal seit Tagen so fröhlich. Er umarmte sie stürmisch und gab ihr ein paar schrecklich verliebte Küsse. "So viele Augen ich will, Geliebte." Er deutete auf die Sphären im Haus. "Ich gebe zu, viele davon dienen nur meinem Spieltrieb." Mit diesen Worten verschwanden mehr als die Hälfte von ihnen. Nur die mit Bildern des Dschungels und das fliegende der Savanne blieben.
   Erleichtert atmete sie auf und küsste ihn ihrerseits. "Dann hattest du Erfolg."
   "Ich hätte den Zauber schon längst finden können, stell dir das mal vor. Ich muss ihn übersehen haben, während ich zu müde war, um klar zu denken."
   Dann tauchte auf einmal ein verschmitztes Lächeln in seinen Augen auf. "Ich hatte sogar mehr als nur einen Erfolg. Ich wollte den Sicht-Zauber eigentlich irgendwie dauerhaft machen, damit ich oder ein anderer Kri ihn nicht ständig im Kopf bewusst halten muss. Die Sicht war zu komplex, aber der Zauber den ich fand hat dennoch etwas Gutes."
   Mit diesen Worten holte er einen faustgroßen, rundgeschliffenen und wunderschön marmorierten Stein aus einer Gürteltasche und hielt ihn Kirra hin. "Berühr ihn und konzentriere dich auf das Bild, welches Du mir gezeigt hast."
   Kirra tat wie ihr geheißen, doch zunächst schien nichts zu geschehen. "Sollte irgend etwas passieren?"
   Talaan schenkte ihr ein strahlendes Lächeln und nahm den Stein fort. Plötzlich erschien ihr Gemälde in der Luft, obwohl sie schon längst nicht mehr daran dachte. "Jeder Kri, der von nun an diesen Stein berührt, wird deine Kunst bewundern können. Wenn Du es willst." Mit diesen Worten drückte er ihr den Stein in die Hand.
   Mit verzücktem Staunen betrachtete sie das Ding in ihrer Hand. "Das wäre phantastisch.", freute sie sich. "Wann hast Du die Zeit gefunden, diesen Stein zu verzaubern?"
   "Ich wollte, dass Du auch was zu freuen hast.", schmunzelte er. "Wie war Dein Tag?"

Die Soldaten Mohabs kämpften sich ihren Weg durch den Dschungel. Die Schlacht würde nicht auf dem offenen Feld der Savanne geschlagen werden, sondern hier, auf dem Boden der MaKri.
   Eine krachende Explosion raffte zwei Dutzend Menschen dahin, als einer von ihnen eine magische Feuerrune auslöste. Die Soldaten waren nervös. Sie hatten mit glorreichen Kämpfen gerechnet, nicht aber damit, einem unsichtbaren Feind gegenüberzutreten. Einem Gegner, der töten konnte, ohne sich zu zeigen.
   Und wenn er doch einmal sein Gesicht offenbarte, brachte er Tod. Knisternd schwebten Kugelblitze herab, durchschlugen Rüstungen und die Körper darunter, flogen weiter und suchten wie von Geisterhand neue Opfer.
   "Wo ist er?", rief der Kommandant aufgebracht. "Findet den Bastard und holt ihn runter!" Ein Feuerball schlug in einer Gruppe Bogenschützen ein, ein zweiter tötete den Befehlshaber und die Männer um ihn herum. Drei weitere Flammenkugeln sausten herab, bevor die Menschen den Angreifer entdeckt hatten. Der Kri war in dem Gewirr der Blätter jenes Baumes, auf dem er stand, kaum zu sehen. Die Pfeile, die ihn hätten töten sollen, verfingen sich im Geäst und der Kri zog sich ohne Eile aus dem Blickfeld der Menschen zurück.
   "Nun, Marten, du hattest doch nicht geglaubt, dass wir es dir so einfach machen würden, oder?", fragte Talaan. Er war sich sicher, dass sein Widersacher in der Nähe weilte und wurde nicht enttäuscht. Marten trat aus dem Stamm des Baumes heraus. Unter ihnen tobte der ruhmlose Krieg weiter.
   Dieses irritierende Kichern erklang. Talaan verabscheute ihn und diese wahnsinnig machende Verhöhnung des Frohsinns. Neben dem Respekt vor der Macht Martens war nur noch Platz für Verachtung. "Talaan, Talaan. Denkst du ernsthaft, dass ihr uns damit aufhalten könnt?" Mitleidig schüttelte er seinen Kopf. "Tz, tz. Schwächen vielleicht, aufhalten niemals."
   "Du unterschätzt die Größe des Dschungels, Marten."
   "Und du unterschätzt eure Achillesferse, mein närrischer Elfenfreund. Selbst wenn ihr eure Städte aufgebt, um weiter aus dem Verborgenen angreifen zu können: An einem Ort müsst ihr euch dem Kampf stellen."
   Die Veränderung seines Traumes war diesmal geradezu körperlich zu spüren. Es fühlte sich an, als würde jemand in seinem Gehirn herumkneten. Talaan wurde übel.
   Er hatte das östliche Orakel nie zuvor gesehen, aber dieser mächtige Bau, der sich nun vor ihm in den Himmel erhob, musste seine Stätte sein. Der Schrecken durchfuhr ihn eiskalt. Wenn sie die Halle des Lichts nicht halten konnten, war der Krieg verloren! Sollte Mohab irgendwie in Erfahrung bringen, wo sie lag, brauchte er nur direkt darauf zu marschieren und all seine Kraft auf dieses zu Ziel werfen.
   Die Schlacht tobte. In der Luft surrten Pfeile, knisterten magische Geschosse und fauchten mächtige Feuerbälle. Tausende Soldaten starben und wurden durch andere ersetzt. Hunderte von MaKri kamen um und hinterließen große Lücken in der Verteidigung. Das Massaker würde sich wiederholen.
   Talaan konzentrierte seinen Willen, lenkte ihn auf den Traum.
   Die überlebenden MaKri zogen sich zurück, bildeten einen engeren Kreis. Energie knisterte, als sich magische Ströme vereinten. Selbst an der Stelle, an der sich Marten und Talaan befanden, konnte man noch das gewaltige Potential spüren, welches die MaKri um sich sammelten.
   Die Magie entlud sich mit einem widerlichen, summkreischenden Ton, der einem die Knochen im Leibe vibrieren ließ. Ein Gewitter ging von der Gruppe der Verteidiger aus. Blitze zuckten in alle Richtungen, fraßen sich ohne Unterschied durch Mensch und Pflanzen, tasteten gierig nach neuen Opfern und verbrannten auch sie zu Asche. Die Welt versank in einem Inferno aus Energie.
   Als sich die Sicht wieder klärte, war die Landschaft nicht mehr wiederzuerkennen. Alles was übrig blieb war verbrannte Erde in einer Meile Umkreis. Und in der Mitte dieses Gebiets der Vernichtung erhob sich die Halle des Lichts unbeschadet und strahlend im Sonnenschein.
   Marten hob kurz die Augenbrauen und wiegte bedächtig den Kopf. "Deine Phantasie ist jämmerlich, Elfenfreund und Freund der Katzen. Wenn Du schon versuchst, mich im Traum zu täuschen, such dir etwas besseres. Etwas mit mehr Stil. Über solch eine Magie verfügt ihr nicht."
   Mit einem Mal ging ein tiefes Grollen durch die Erde und ließ die Überreste der verkohlten, mächtigen Bäume zu Staub zerfallen. Das Grollen schwoll immer mehr an, bis es die gesamte Welt zu erfüllen schien. Es vermischte sich mit einem unheilvollen Knirschen, eher ein Reißen. Dann taten sich Risse im Boden auf, die in wenigen Augenblicken zu Abgründen anwuchsen und viele MaKri verschlangen. Einige retteten sich in die Luft, doch dann brach Lava hervor und ergoss sich in gewaltigen Eruptionen über die Übriggebliebenen.
   Marten betrachtete all dies mit amüsierter Genugtuung. "Ich gebe zu, dass selbst ich nicht über diese Macht verfüge. Aber in unserem kleinen Kräftemessen der Lügner habe ich klar gewonnen, Katzenfreund."
   Talaan wusste nicht, was er sagen sollte. Er war Marten stets unterlegen gewesen und das war auch in seinen Traumbegegnungen mit ihm nicht anders geworden.
   Dieses halb verrückte Kichern Martens riss ihn aus seiner Grübelei. "Und richte deinem Freund, dem Schamanen, meinen Dank aus. Ich habe durch ihn eine mächtige Waffe erhalten." Mit diesen Worten wurde der Blick seines Feindes hart und kalt und bohrte sich in Talaans Kopf. "Das Herz zum Stillstand zu bringen erscheint mir allerdings ein wenig beleidigend simpel. Lass uns etwas anderes versuchen."
   Talaan zeigte sich wenig beeindruckt. "Wohin soll das führen, Marten? Du tötest mich, ich töte dich, bis einer von uns beiden dieses Spiels überdrüssig wird?"
   "Talaan, Talaan, Talaan..." Die Stimme eines tadelnden, strengen aber gerechten Herrschers drang in seine Ohren. "Das ist kein Spiel. Du hast immer noch nicht begriffen, was unsereins die Unsterblichkeit verleiht. Nur soviel will ich Dir verraten: Der Wille oder der Zwang zurückzukehren allein vermag dich nicht vor dem Tode zu retten.
   Du hast es in diesem Leben noch nicht versucht, Katzenfreund. Du wärst gescheitert."
   Etwas schien in Talaans Innern zu reißen und ein wahnsinnig machender Schmerz schoss durch seinen Körper, durch sein Bewusstsein. Und Talaan schrie.

Während ihn der Schmerz aus dem Traum riss und zum Wachsein peitschte hallte die Stimme eines alten Mannes durch seinen Kopf: "Bedenke, Weltenwandler. Du hast ein sterbliches Leben gewählt."

Ein gequälter Schrei zerriss das Gewebe ihrer Träume mit brutaler Heftigkeit. Es dauerte keinen Wimpernschlag, bis sie erkannte, dass es ihr Mann war, der da schrie, und sie war sofort wach. Ihr Geliebter wandte sich neben ihr in Schmerzen und ein dünner Rinnsal aus Blut floss aus seiner Schnauze an seiner Wange hinab.
   Sie brauchte nicht erst fragen, was geschehen war. Das konnte nur Martens Werk sein. Behutsam packte sie ihn bei den Schultern und versuchte vergeblich ihn ruhig zu halten. "Was ist geschehen?", fragte sie äußerlich ruhig, obwohl die Panik in ihr zu toben begann.
   "Marten... ich sterbe... Wunde..." Kaum hatte er zu sprechen angefangen wurde aus dem Rinnsal ein kleiner Bach. "Innerlich zerrissen.", brachte er noch heraus, bevor der Schmerz ihn übermannt und das Wort abschnitt.
   Sofort war Kirra aufgesprungen und eilte zur Tür. "Ich hole Sorral. Er kann dich heilen!"
   Sie war schon halb zur Tür hinaus, als Talaans schwache Stimme sie zurückhielt: "Kirra... bleib' hier." Ein glucksender Husten zerschnitt ihr fast das Herz. "Ich bin tot, bis er hier ist."
   Alles in ihr trieb sie, Sorral zu holen, aber sein Blick war so flehend und gleichzeitig voller Liebe, dass sie nicht gehen konnte. Langsam nahm sie wieder neben ihm Platz und ergriff seine Hand. Sie war so furchtbar kalt. Warum tust du mir das an? Ich will Dich nicht sterben sehen.
   "Du wirst doch wieder... aufwachen, Geliebter.", versuchte sie ihn und gleichzeitig sich ein wenig zu trösten. Doch Talaans trauriger Blick verschlang diese Hoffnung bereits im Ansatz. Ihre Stimme zitterte, als sie nachfragte: "Das wirst du doch, oder? So wie Marten auch!"
   Talaan schloss kurz die Augen um Kraft zu sammeln. "Ich bin nicht wie Marten, Kirra."
   Ein trotziger Zorn flammte in ihr auf und sie schloss ihre Finger fest um die seinen. "Du kannst nicht von mir verlangen dich hier sterben zu lassen!", schrie sie ihn beinahe an. "Ich muss wenigstens versuchen, Sorral rechtzeitig hierher zu bringen!" Mit diesen Worten wollte sie erneut aufstehen, doch Talaan hielt sie mit erstaunlicher Kraft zurück.
   "Ihr werdet es niemals rechtzeitig schaffen." Er drehte den Kopf beiseite und spie eine Mundvoll Blut aus, um den Hals freizubekommen. "Aber bei meinem Buch... liegt ein... Stein."
   Sein Blick ermahnte sie, wirklich den Stein und nicht Sorral zu holen, als er sie losließ. Kirra war mit zwei federnden Sätzen bei dem Buch, ergriff einen faustgroßen Marmorbrocken und rannte zu Talaan zurück.
   Ihr war klar, dass in ihm ein Zauber eingeschlossen seien musste und sie ließ Energie in den Stein fließen. Doch statt der erhofften Heilung erschien nur ein Geistessymbol in der Luft.
   "Heilung.", gurgelte Talaan. "Zu komplex, sie... arg verdammt! ... selbst einzuschließen."
   Ungläubig starrte Kirra den komplexesten Zauber an, den sie je gesehen hatte. Wieso tat Talaan das? Sie würde es niemals schaffen, sie war in der Magie ein Versager! Und nun würde sie sich ein Leben lang vorwürfe machen, weil ihr Geliebter wegen dieser Unfähigkeit...
   Ehrfürchtiges Staunen erfasste Kirra und dieses Erstaunen schob für einen Moment alles andere beiseite. Das Geistessymbol war groß, kraftvoll in jeder Linie und von Grund auf gut. Sie hatte noch nie etwas derart schönes gesehen und gefühlt.
   Doch so groß und verschlungen es auch war, ergab doch jedes Stück davon einen Sinn. Es war, als würde sie die ausschmückenden Worte einer Geschichte lesen, deren Kurzform sie schon kannte. Das Symbol der Heilung...
   Alles begann... mit diesem einen Teil dort. Ein Symbol in dem ganzen Symbol. Es wirkte klein und unbedeutend im Vergleich zum Rest, ergänzte das Heilungssymbol aber perfekt. "Schmerzen."
   Talaan sah erstaunt zu ihr auf und nickte schließlich.
   "Es hat etwas mit Schmerzen zu tun, nicht wahr?" Daran bestand kein Zweifel, die Linien sprachen eine deutliche Sprache.
   Das kleine Symbol erstrahlte in ihrem Geist. Instinktiv berührte sie Talaan an der Stirn und zuckte mit einem schwachen Aufschrei zurück. Was war das? Sie nahm allen Mut zusammen und berührte ihn wieder, diesmal zwang sie ihre Hand an Ort und Stelle zu bleiben. Sie spürte Talaans Schmerzen. Es war, als wäre sein Körper eine Verlängerung ihres eigenen. Nur das seine Wunden ganz klar zu erkennen waren, durchtrennte Blutgefäße bis hin zu winzig kleinen... Zellen.
   Entschlossen unterbrach sie die Verbindung. Talaan blickte sie matt lächelnd an. "Ich musste es dir nicht einmal... erklären.", stellte er zufrieden fest. Verwirrt musste sie ihm Recht geben. Es war zu einfach gewesen, dieses Symbol hatte sich von alleine erklärt.
   Nun nahm sie sich den Rest der "Geschichte" vor, welche ihr das Heilungssymbol erzählte. Eine gewisse Euphorie erfasste sie, als nach und nach jede der Linien und Kurven einen Sinn ergaben, sich zusammenfügten und in ihrem Kopf zu erstrahlen begannen.
   Als sie Talaan erneut berührte wäre alles vor Schreck beinahe wieder zusammengebrochen. Wie schwach er geworden war! Wie lange hatte sie gebraucht um zu lernen? Panisch tastete sie sich zu seinen inneren Wunden vor und verschloss sie spielend leicht. Die heilenden Ströme flossen durch seinen Körper und verbanden sich mit ihm. Und mit jeder geheilten Stelle wurde ihr leichter ums Herz, da mit ihnen auch Talaans Schmerz abnahm, der an ihrem Verstand zerrte. Sie spürte den Fluss seiner Lebensenergie kräftiger werden, strahlender und wunderschön.
   Sie spürte das Leben selbst.
   "Es ist gut Kirra.", hörte sie von fern Talaans Stimme zu ihr dringen. Das Leben selbst war soviel mächtiger als diese Stimme. Schöner, reiner. "Ich bin geheilt. Lass los."
   Loslassen? Wieso sollte sie... es war wunderbar auf diese Weise eins zu sein mit Talaan, eins zu sein mit seinem Leben...
   "Es ist gefährlich, Kirra. Lass los."
   Wie Recht er hatte merkte sie daran, wie schwer es ihr fiel, den Zauber und somit die wunderbare Verbindung zum Leben fahren zu lassen.
   Es war wie eine Sucht.
   Sie schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht ihres sichtbar geschwächten, aber glücklichen Mannes. "Wie konnte das sein?", fragte sie schließlich verwundert. "Es ging wie von alleine."
   Talaan hob mit einiger Anstrengung die Hand uns streichelte ihre Schnauze. "Du bist eine Heilerin, Kirra. Das ist die Antwort auf all deine Fragen. Das Leben erhalten und nicht zu vernichten ist deine... Bestimmung."
   Mit einem glücklichen Lächeln sank seine Hand zurück und er war auf der Stelle eingeschlafen.

Kopfschmerzen, die ihn an eine durchzechte Nacht zu erinnern scheinen wollten, hießen Talaan am nächsten Morgen willkommen. Zumindest dachte er, dass es Morgen wäre, bis er Kirras und Tonris gewahr wurde, welche neben seiner Ruhestätte hockten und ihn sorgevoll und ernst musterten.
   Überfallsgleich holten ihn die Erinnerungen wieder ein, wobei ihm alles wie ein seltsamer Traum vorkam. Von all dem, was ihm einfiel, war der eigentlich Traum um Tod und Vernichtung noch das, was am klarsten aus dem Nebel hervorstach. Doch ab dieser fremden, uralten Stimme "Bedenke, Weltenwandler, du hast ein sterbliches Leben gewählt." begann alles zu verschwimmen.
   War er verletzt gewesen? Gar dem Tod durch die Finger geglitten? Kirra hatte... "Du hast..."
   Sie legte ihm einen Finger auf den Mund und brachte ihn so zum Schweigen. "Ja, ich habe Dich geheilt." Ihr Lächeln war so bezaubernd, so froh wie seit Wochen nicht mehr, dass ihm viel leichter ums Herz wurde.
   "Eine Heilerin.", murmelte er bewundernd und ergriff sanft ihre Hand. "Nichts könnte mich glücklicher machen."
   Sie nickte bedächtig mit einem gewissen Stolz in der Mine. "Ich weiß, wie sehr du diese Gabe schätzt. Aber ich habe erst jetzt begriffen, weshalb."
   Tonri räusperte sich vernehmlich. "Ich muss bald gehen. Jetzt, wo du erwacht bist, gibt es für mich keinen Grund mehr, hier zu sein."
   "Warum bist du denn hier?"
   "Um über Deinen Schlaf zu wachen, denn einen zweiten Angriff Martens würdest du nicht überleben. Und ich bin hier, um dich zu warnen. Seine Macht über die Träume hat bedenkliche Ausmaße angenommen. Er hat mich diesmal aus deinem Traum aussperren, so dass ich nicht eingreifen konnte. Aber ich habe seine Absichten erkannt. Er treibt etwas mit dir, was Mani als "Planspiele" bezeichnet hat. Er probt den Krieg in deinen Träumen, Maigan. Und mit jedem eurer Kräftemessen weiß er mehr darüber, wie der Krieg für ihn ausgehen wird." Tonri schwieg einen Momentlang lang mit finsterem Blick. "Siegreicher als heute Nacht kann er nicht werden. Der Krieg wird kommen."
   "Er weiß nicht, wo das Orakel lebt.", widersprach ihm Talaan halbherzig.
   "Wir können es nicht auf ewig vor ihm verbergen, Talaan. Das weißt du."
   Talaan ließ schwermütig den Kopf hängen. Diese Träume hatten noch einen anderen Nutzen für Marten. Sie nahmen Talaan die Kraft zu kämpfen. Nach und nach versickerte sie in den Niederlagen, die er gegen seinen Feind einsteckte. "Aber was soll ich tun?"
   Als hätte sie auf diese Frage gewartet, reichte Kirra ihm sein Zauberbuch. "Suche und finde, was uns retten kann. Wenn es eine Antwort auf die Bedrohung durch den Westen gibt, dann findest du sie hier."
   Kaum hatten seine Finger den ledernen Einband berührt, durchströmte ihn Zuversicht. Einmal mehr wurde ihm bewusst, dass seine Niedergeschlagenheit nur ein finsterer Zauber Martens seien konnte, der sich nun an der Macht des Buches brach. Er schaute zu seiner Frau und seinem Freund auf und lächelte zuversichtlich. "Das werde ich."

Die Tage vergingen schnell und ohne bedeutende Ereignisse. Viele Stunden des Tages verbrachte er mit dem Studium der Magie, lernte viel Interessantes und Nützliches, aber nicht das, was die MaKri retten konnte. Er nahm sich Zeit für Kirra, um ihr die Kunst der Heilung bis hin zum letzten Zauber beizubringen. Seine magischen Augen überwachten die Savanne und den Dschungel und er hatte sie bei allem, was er tat im Blick. Eine Stunde am Tag verbrachte er mit Tonri und lernte von ihm viel über die Welt der Träume. Des Nachts versteckte er sich vor Marten, wich ihm aus, bis zu dem Zeitpunkt, da er ihm gewachsen seien würde.
   So flossen die Tage mit ihrem gleichmäßigen Gang dahin. Die Kampfmagier der Großen Stadt beendeten ihre Lehre und machten sich auf den Weg, um die MaKri aller Städte und Dörfer zu unterrichten. Kirra begann die Heilmagie ausgewählten Schülern zu lehren. Sie sollten mit diesem Wissen dann ebenfalls durch die Siedlungen ziehen und ihre Fähigkeiten weitergeben. Ein Volk stand vor dem Umbruch, doch für Talaan blieb alles gleich.

Bis zu dem Tag, an dem er das Tor zur Hölle entdeckte.

"Tor der Niederen
   Von den Künsten der Dunkelheit habe ich mich stets ferngehalten. Aber es sind Zeiten angebrochen, da ich alter Mann mich einem finsteren Feind stellen muss. Das Forschen nach den bösen Mächten ist unausweichlich geworden.
   Heute ist mir ein Erfolg vergönnt gewesen, der mich beinahe das Leben gekostet hätte. Ein Dämon trat aus einer von mir erschaffenen Spalte und durchbrach meinen Bannzauber mühelos. Die Narben, welche dieser Kampf in meiner Seele hinterlassen hat, werden nur langsam verheilen.
   Ich muss einen Weg finden, diese Kreaturen aufzuhalten. Der Feind meines Reiches vermag diese Höllenwesen in großer Anzahl zu beschwören und seinem Willen zu unterwerfen. Eine Armee wartet auf uns."
   Talaan lief ein kalter Schauer über den Rücken und sein Fell sträubte sich, als er den Bericht des alten Zaubermeisters las. Dämonen... Wenn Dämonen existierten, dann gab es auch eine Hölle, aus der sie kamen. Nie zuvor hatte er wirklich an die Existenz einer Hölle geglaubt. Wesen einer bösen Macht?
   Talaan schüttelte seine ersten Zweifel entschlossen ab. Böse, missgestaltete Wesen mochten von vielen als Dämonen bezeichnet werden, aber in seinem Weltbild gab es keinen Platz für eine Hölle. Er glaubte an den Schöpfer, nicht an eine Gegenmacht.
   Diese "Dämonen" konnten sich allerdings als wertvolle Verbündete herausstellen... Wenn jeder MaKri auch nur ein einziges dieser Wesen beschwören könnte, wäre das eine Macht, die dem gierigen König und seiner Schlange von Berater durchaus Einhalt gebieten konnte.
   Magie war niemals böse. Es kam immer auf den Zaubernden an.

Die Vorboten der Regenzeit machten sich allmählich bemerkbar. Die Luft wurde feuchter, schmeckte viel intensiver nach der Wildnis. Die MaKri begannen vermehrt zu jagen und Früchte zu sammeln, um noch fehlende Vorräte aufzustocken. Und die Kri wurden ruhiger. Mit jedem Tag, da der langerwartete Regen näher kam, schwand die Furcht vor einem Angriff Mohabs mehr.
   Talaan setzte inzwischen kaum noch einen Fuß vor die Tür. Sein Zauberbuch hatte ihn vollkommen in seinen Bann gezogen. Das Ritual zur Beschwörung der niederen Wesen begriff er bereits nach drei Tagen, aber das war erst der Anfang.
   Viel wichtiger als die Herbeirufung waren die Zauber, welche den "Dämon" in Zaum halten und schließlich bannen konnten. Ihr Studium wurde für Talaan zu einen fieberhaften Drang. Er ertrug es nicht mehr, keine Träume haben zu dürfen, so dass er gerade nur soviel schlief, wie sein Körper von ihm erzwang. Wenn er erst einmal Macht über solch mächtige Wesen hatte, konnte er auch Marten in den Träumen begegnen und ihn vielleicht sogar von einem Krieg abhalten.

An dem Tag, bevor der erste Regen fiel, war jegliches Treiben auf dem zentralen Platz der Großen Stadt erstorben. Vielmehr drängten sich unzählige schaulustige MaKri auf den Brücken und um den Platz herum. Doch keiner von ihnen wagte einen Fuß auf das große, steinerne Rund zu setzen.
   Talaan machte sich diesen perfekten Steinkreis, der Ring für Ring mit der Größe der Stadt gewachsen war, für sein Ritual zu Nutze. Kreise waren Grenzen für die Niederen und Steinkreise nahezu unzerstörbar. Es bedurfte ihrer nicht, jedoch waren sie eine Absicherung gegen ein mögliches Scheitern.
   Er begann mit dem Beschwörungsritual. Er murmelte komplizierte Zauberformeln, die sich nicht in Symbole pressen ließen, lenkte magische Energien in wohlüberlegte Bahnen, errichtete Barrieren. Er rief die Mächte an, welche über die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und die der Niederwelt wachten. Mal verfiel er in einen monotonen Singsang, mal stieß er gutturale Laute aus.
   Es war ein schwieriges Ritual. Und es war hässlich.
   Etwas geschah. Etwas fremdartiges, nicht so recht fassbares. Der alte Zuabermeister hatte es eine Spalte genannt, aber das war nur eine unzureichende Bezeichnung. Die Öffnung, die sich dort inmitten der Luft auftat, wirkte seltsam... flach und dabei unstetig im Anblick. Sie schien einen Rand zu besitzen, doch wenn man ihn anblickte, konnte man ihn nicht fokussieren er zuckte weg. Es war vielmehr ein nicht klar abgrenzbarer Bereich einer verzerrten Realität.
   Die Spalte wurde langsam immer größer und gab so den Blick auf das frei, was dahinter war. Dort lag eine ölige, zähe Dunkelheit, die in ungleichmäßigen Abständen zu einem ekelhaften Rot anschwoll um dann wieder in dieses verstörende Schwarz abzugleiten. Immer und immer wieder. Es wirkte wie ein langsamer, kranker Herzschlag. Kleine Blitze zuckten aus dem Spalt, wenn das rote Glimmen seinen Höhepunkt erreicht hatte.
   Dann begann diese Dunkelheit herauszufließen. Schwarzen Zungen gleich leckte sie über den Rand der Realität, packte zu und... zog sich heraus. Stetig und unaufhaltsam kämpfte sich eine große, massige Gestalt in diese Welt. Schwarz-rot pulsierend wie die Ebene, aus der sie kam.
   Und Talaan konnte sie in seinem Geist hören, mehr noch, er konnte sie spüren. Seelenlose, finstere, niedere Bosheit sickerte in seinen Verstand, durch seinen Körper und in sein Herz. Und dieses Wesen war kalt, so unsagbar kalt!
   Als es vollständig aus der Spalte herausgetreten war und sich diese zu schließen begann, witterte das Dunkelwesen die Luft. "FREI!' grollte eine eindrucksvolle Stimme in seinem Kopf. Bilder ewiger Finsternis brandeten zu ihm herüber. Und verzweifelte, irrsinnige Wut.
   "Das glaube ich nicht, Kreatur!", erwiderte Talaan und wappnete sich. Der Blick des Wesens nicht sichtbar, aber dennoch sehr wohl spürbar traf ihn mit der Wucht eines gewaltigen Rammbocks.
   Die Kreatur entzog sich dem Auge des Betrachters genauso wie die Spalte hinter ihm. Aber es war eindeutig mehr als mannshoch, grobschlächtig und ohne jeden Zweifel mit Unmengen von kraftvollen Muskeln versehen. Sei Gesicht wirkte hart geschnitten, wenn auch die Konturen hin und herwaberten. Sein Aussehen wirkte ganz einfach brutal.
   "StERbLiChE?!? BEsuDeLT NIcHt dEN weG, AUf DeM ich GEhE!' Seine Stimme wirkte so kraftvoll und gleichzeitig unstetig wie sein Äußeres. Begleitet wurden diese Worte durch Bilder des gesamten Weges, den er hinter sich hatte und Talaan verzweifelte. Noch nie hatte er solche Abgründe gesehen. Eine Ewigkeit aus Qual, Quälen, Dunkelheit, Schmerzen, Vernichtung, Tod und Verderben.
   Einen Moment lang konnte er den Dämon nur fassungslos anblicken. Jegliche Zweifel, dass ein wahrhaftiger Dämon vor ihm stand, waren in diesem Moment zerschmettert worden.
   Diesen Augenblick der Schwäche nutzte das Höllenwesen sofort. Es holte zu einem kräftigen Schlag aus und rammte seine Faust in die erste magische Barriere, die Talaan um den Beschwörungspunkt errichtet hatte. Knochen splitterten, doch die Barriere zerbrach ebenfalls.
   Dumpf blickte der Dämon auf seine Faust hinab und dann erstaunt zu Talaan auf. "WEr BiSt DU? Ein WeLtEnWAnDLeR?'
   Beinahe hätte er Talaan damit wieder aus der Bahn geworfen. Vor ihm stand eine Kreatur, ohne Zweifel verabscheuungswürdig böse, aber mit Wissen über Weltenwandler! Den nächsten Schlag des Dämons erwartend, fing Talaan ihn mit seinem Geist ab und brach ihm dabei beinahe die zweite Hand. "Du wirst meinen Weg gehen, Dämon. Keinen andren."
   Dann ballte er seine Konzentration um das Wesen zusammen, sprach die richtige Zauberformel und verschmolz sie mit einem Geistessymbol, das in seinem Kopf glomm. Der Dämon schrie. Sein Äußeres... schälte sich. Es wirkte, als würde der Dämon eine ölige, schwarze Haut abstreifen und darunter eine irdischere Hülle freilegen. Ledrig, dunkelrot und vernarbt, aber auch sehr viel... realer. Es tat dem Auge nicht mehr weh, den Dämon anzusehen.
   Ungläubig sah der Dämon an sich herab. "DieSe HüLLe! WAS HasT dU GeTaN!?! ICh HasSe dIcH! iCH ZerMAlMe DiCh! ICh BiN gEFaNgEN!'
   Talaan atmete erleichtert auf und betrachtete den Dämon mit abschätzenden Blicken. Er hatte ihn an diese Welt und gleichzeitig an sich gebunden. Der Dämon könnte ihn immer noch töten, würde damit aber auf ewig an den Ort gebunden sein, an dem sein neuer Meister gestorben war. Und das Höllenwesen spürte das.
   "Du weißt, was Der Preis für eine Rückkehr ist."
   "RüCkKehR?', heulte der Dämon und schwieg einen Moment. Leise konnte Talaan die wütenden, boshaften Gedanken der Höllenkreatur in seinem Kopf zischeln hören. Es machte ihn beinahe wahnsinnig. Dienen, um in die Niederwelt zurückgekehrt erneut entkommen zu können stand gegen die Aussicht einer ewigen Gefangenschaft in der Welt der Lebenden. "JA! ICH wErDe DIeNen!'
   Talaan nickte, wenn auch ohne viel Begeisterung. Dieses Wesen war ein mächtiger Krieger. Eine Armee von ihnen würde die Soldaten Mohabs auf ewig vom Land der MaKri vertreiben. Vereinzelte Jubelrufe drangen von den MaKri auf den Brücken und vom Rand des Platzes herüber. Sie sahen, wie nahe ein Sieg mit Dämonen an ihrer Seite seien konnte. Andere wiederum blickten voller Abscheu.
   Er befahl ein magisches Auge zu sich, welches eine kleine Gruppe Soldaten im Dschungel aufgespürt hatte. Er deutete auf die in ihrem Versteck schlafenden Menschen. "Geh zu ihnen und halte sie auf. Wenn möglich, töte sie nicht. Und richte sonst keinen Schaden an."
   "JA!' bellte der Dämon. Talaan senkte die verbliebenen Barrieren. Ohne einen Augenblick zu zögern, drehte sich das Wesen um und rannte mit großen Schritten in Richtung seiner Ziele davon. Eher wiederwillig wich er dabei den MaKri aus, die zum Teil panisch davon stoben. Innerhalb kürzester Zeit war der Dämon verschwunden.
   Einer der MaKri trat an Talaans Seite und starrte mit finsterer Mine in die Richtung, in die das Wesen gerannt war. "Eine machtvolle Kreatur, Maigan. Aber dennoch... Hältst du das für eine gute Idee?"
   Darauf konnte Talaan ihm keine Antwort geben.

Es war keine gute Idee. Es war eine grauenhafte Idee. Die seltsam unstetigen, bösartig irrsinnigen Gedanken des Dämon zischelten ununterbrochen in seinem Kopf. Leise, aber nur schwer zu ignorieren.
   Er wagte es nicht zu schlafen. Die Angst, diese finsteren Gedanken könnten seinen Geist vergiften, war stärker als der Drang nach Ruhe. Der Dämon brach mit müheloser Leichtigkeit durch das Buschwerk des Dschungels und bahnte sich einen direkten, unaufhaltsamen Weg zu den Soldaten des Königs.
   Im ersten Morgenlicht erreichte er sie dann. Talaan brauchte sein magisches Auge nicht, um das folgende Geschehen zu beobachten. Die Gedanken des Dämonen wurden von Bildern begleitet, verzerrt durch den Kampfesrausch, in den er verfiel.
   Talaan sah, wie der Dämon die Soldaten dabei überraschte, als sie ihr Tagesversteck aufbauten. Der erste Soldat war tot, bevor er Zeit hatte sich umzudrehen. Ein Gefühl dumpfer... Lust brandete zu Talaan herüber. Es war widerlich.
   Er sah das ungläubige Entsetzen in den Augen der Menschen, als sie sich ihrem unnatürlichen Angreifer zuwandten.
   "ErGeBT eUch MeiNeM HerReN',, befahl ihnen der Dämon unwillig. Kaum zog der erste Mann sein Schwert, griff er an. Mit grotesker Hemmungslosigkeit schlug er zu, zertrümmerte Knochen, riss Wunden mit seinen Klauen. Der Dämon raste. Die Gegenwehr seiner Opfer war geradezu fanatisch aber dennoch aussichtslos. Die wenigen Verletzungen, welche sie dem Dämon zufügten, entfachten nur einen Blutrausch in ihm, der ihn noch zügelloser töten ließ. Er sog den Schmerz der Männer in sich auf, weidete sich an ihm und aß sich daran satt.
   Als das Grauen ein Ende hatte und alle Menschen tot danieder lagen, saß Talaan wie erstarrt da. Dieses Wesen war zum Kämpfen geschaffen, aber die Bosheit, diese irrsinnige, grenzenlose Bosheit war krankhaft. Dieses Lustgefühl beim Töten war widerlich, das Aufsaugen des Leids verachtenswert.

Der einsetzende Regen hielt keinen der MaKri davon ab, die Rückkehr des Dämons mitzuerleben. Die meisten von ihnen jubelten Talaan zu, als sie sahen, wie er das Wesen nach seinem Willen zum Steinkreis lenkte und es verkündete, dass der Spähtrupp Mohabs tot war. Als er es dann scheinbar mühelos in seine Niederwelt entließ, wurde der Jubel zu lautstarker Begeisterung.
   Talaan für seinen Teil war nicht begeistert. Er ahnte schon, welche Entscheidung ihm nun bevorstehen würde und er ahnte auch, wie sie letzten Endes ausfiel. Aber er hielt alle Gedanken davon fern. Diese Wahl durfte nicht fallen, bevor er Marten in seinem Traum gegenübergetreten war.

Ein Unwetter tobte am Himmel, hoch über ihren Köpfen. Doch es war kein gewöhnliches Unwetter. Die Wolken brodelten in einem dunklen, pulsierenden Rot, wie kochendes Blut, doch die Luft bewegte sich nicht einen Hauch. Die Savanne hinter ihm glomm in eben dieser Farbe. Es war drückend heiß, lebensfeindlich, widerlich.
   Es war ein Unwetter, das sie entfesselt hatten. Die Tore zur Niederwelt hatten das Diesseits verändert.
   Und unweit von ihnen, unter dem Zentrum dieses Tobens der Macht lag Tullma. Die Stadt war nicht wiederzuerkennen. Große Klüfte taten sich in der einst so mächtigen Stadtmauer auf, die Tore lagen herausgerissen und mit roher Gewalt verbogen im Sand. Gelegentlich schlugen Flammen in der Stadt empor, donnerten Blitze herab und schürten das Inferno noch mehr. Die Stadt Tullma starb.
   Überall um Talaan herum lagen tote Soldaten. Dämonen weideten sich an ihren Kadavern oder trotteten zur Stadt, um frische Opfer zu suchen. Gebrochene Augen starrten ihn aus vor Entsetzen verzerrten Gesichtern an. Keiner von ihnen war durch ein Schwert oder einen Speer gestorben. Sie alle, die sie hier lagen, waren durch das was am Himmel und auf Erden wütete dahingerafft worden.
   "Eine gute Schlacht, Talaan.", sagte Sorral hinter ihm. Seine Stimme war verändert. Härter. Eine vor Macht strotzende Aura, wie sie Talaan noch nie gesehen hatte, umgab den Maigan. Seine Augen glühten im magischen Feuer. "Wir haben nur drei unseres Volkes verloren. Diese Menschen waren keine ernstzunehmende Gefahr für unsere Macht. Die niederen Wesen bilden eine wahrhaft großartige Armee."
   Ein beinahe irres Kichern erklang hinter Talaan und er wirbelte herum. Da stand Marten, Hände und Füße in Ketten, aber nicht im Geringsten von seiner Gefangenschaft gebeugt. "Ich habe dich unterschätzt, Freund der Elfen, und ich neige mein Haupt vor dir. Ich strebte nach der größtmöglichen Verformung des Schicksals, durch langjährige Planung und viele kleine und große Intrigen.
   Aber du, Talaan!" Jetzt war der Wahn in Martens Augen, seiner Stimme nicht mehr zu leugnen. "Du, Talaan, hast eine so unglaublich große Macht entfesselt, von der ich nicht einmal zu träumen wagte! Die MaKri werden das Angesicht der Welt verdunkeln mit ihrer Magie!"
   Hinter Marten brachen die letzen Gebäude Tullmas mit dumpfen Grollen zusammen, als er sich ehrfürchtig vor dem Werk Talaans verbeugte. Von der einst so schönen Stadt blieb nur ein Haufen Trümmer.
   Talaan war nicht im Geringsten von diesen Worten beeindruckt. "Sie sind nicht so wie du, Marten. Macht bedeutet ihnen nichts, und Macht zu haben bedeutet nicht gleichzeitig, dass man sie missbraucht."
   Marten glitzerte ihn auf eine bösartige Weise verschmitzt an. "Ach wirklich? Glaubst du, nur weil du den Einflüsterungen eines Dämonen widerstehen kannst, wird es allen MaKri gelingen? Sieh doch genauer hin."
   Und das Land wurde weit, so als würde er durch ein göttliches Auge die Welt überschauen. Und überall, wo er hinblickte sah er das gleiche Chaos. Städte der Menschen in Schutt und Asche, unter einem blutrot wütenden Himmel.

Talaan schreckte einmal mehr aus seinen Alpträumen empor. Es war knapp gewesen. Beinahe zu knapp. Die Entscheidung war gefallen. Niemals, in keinem seiner Leben, würde er sich der Macht einer Dämonenarmee bedienen. Und niemals würde er den MaKri diese Macht in die Hand geben. Sie würde sie korrumpieren und auffressen, bis nichts mehr von dem ursprünglichen Wesen der MaKri übrig blieb.
   Daran hatte er keinen Zweifel. Aber was sollte er dann tun?
   Etwas anderes konnte er nicht denken. Es gab nur diese eine Frage.
   Was sollte er tun?
   Was sollte er
   nur tun?
   Was...

... sollte er tun?
   Ohne all zu große Verwunderung stellte er fest, dass er wieder eingeschlafen war. Er stand vor der geborstenen Stadtmauer Tullmas und wusste, dass dieser Traum nur ein Nachhall war. Ein neuer Traum hatte sich den Ort seines verstorbenen Bruders als Bühne gewählt. Es würde kein durch Dämonen zerstörtes Tullma geben.
   Tatsächlich konnte er keine niederen Kreaturen sehen und auch die Stadt wirkte trotz ihrer Zerstörung seltsam friedlich. Da er nicht wusste, was er sonst machen sollte, trat er in die Stadt. Die toten Menschen, die einst dort gelegen hatten, waren den Leichen von MaKri gewichen.
   Sein Herz wurde schwer. Eine Entscheidung für das Licht würde das Leben seines Volkes kosten. Und wenn Mohab erst einmal das Orakel kontrollierte... Es lag noch mehr Verzweiflung auf der anderen Seite dieses Gedankens.
   Das Bild der Zerstörung war in steinerne Ruinen gemeißelt und dennoch sah er in ihnen die brennenden Baumhäuser der MaKri. Sie würden den Preis bezahlen. So oder so.
   Was konnte er nun tun? Er hatte Tausende Fragen, jede einzelne wog so schwer wie ein Berg. Jegliche Versuche, sie zu lösen, waren gescheitert.
   Er kam an der verkohlten Leiche einer Frau vorbei, die ihre Arme um ein kleines Kind geschlungen hielt. Mit grausamer Klarheit erkannte er Kirra und ihren gemeinsamen, ungeborenen Sohn.
   Anstatt dem Gedanken nachzugeben, doch Dämonen zu rufen, wurde seine Trauer nur schwerer. Es würde so seien, wie es seien würde. Er würde eine andere Antwort finden müssen.
   Aber...
   Was war, wenn er die Antwort niemals fand, weil er die Fragen nicht lösen konnte? Wer würde ihm die Antworten geben, nach denen ihm verlangte?
   Er wanderte tiefer in die Ruinen der Stadt, bis er an den Platz kam, der vor den Palasttoren lag. Ein gewaltiges Monument erhob sich an der Stelle, an welcher eigentlich eine Statue des Königs stehen sollte. Talaan erschrak vor seinem eigenen Ebenbild. In Obsidian gemeißelt stand er da: hart, ewig, tiefe Qual in seinem Antlitz.
   Zu Füßen des Kolosses konnte er kleine, unbedeutende Gestalten ausmachen. Eine davon war Ginuthal, so wie er sie auf ihrem Totenbett in Erinnerung hatte. Eine andere stellte Loma dar, wie sie mit eingedrücktem Brustkorb das Leben aushauchte. Eine dritte zeigte eine Gargoyle, der eine Streitaxt im Rücken steckte.
   Jede dieser Steinfiguren starb oder war bereits tot und jede einzelne lag Talaan am Herzen. Dies war eine Antwort: Er selbst würde Tot, Leid und Elend hinter sich lassen, während er durch die Leben schritt, die ihm neue Welten offenbarten. Jede dieser Welten würde mehr als einen Verlust bedeuten.
   "Nur weil das dort eine Wahrheit ist, muss es nicht die Wahrheit für dieses Leben sein, junger Weltenwandler.", sagte jemand hinter ihm.
   Talaan schnellte herum und stieß beinahe mit einem kleinen, alten Mann zusammen. Er kannte diesen Greis nicht, aber er kannte seine Stimme. Er hatte ihn vor der Sterblichkeit seiner Existenz gewarnt.
   "Wer..."
   "Keine Zeit für dumme Fragen, Weltenwandler, dein Erwachen ist nahe. Dies alles hier sind nur Träume. Du magst hier Wahrheiten, aber keine Antworten finden. Marten blendet dich nach wie vor. Suche mich auf und erfahre, was du wissen musst."

Friedlich. Zum ersten Mal seit langer Zeit erwachte er friedlich aus seinem Schlaf. Er brauchte nicht fragen, was dieser letzte Traum zu bedeuten hatte oder wer der alte Mann war. Alle Antworten, die er brauchte waren die ganze Zeit vor seiner Nase gewesen. Der gesamte Krieg kreiste um jenen Ort! Das Ende aller Zweifel lag greifbar nahe: Die Halle des Lichts.