"Das Zweite Buch der Welten - Die Große Bestie" von Jaquimo Talaan
veröffentlicht: 26.03.2004

"Das Zweite Buch der Welten" and contained characters © 2001-2004 by Christoph Günther.
Verwendung, Änderung und kommerzieller Vertrieb nur mit meinem persönlichem Einverständnis. Dies gilt explizit (aber nicht nur) für die Charaktere Jaquimo Talaan, Ginuthal, Kirra, Jairree und Loma, an denen mein Herz hängt.
Auch wenn sich mein Selbstbewusstsein wegen meiner Schreiberei inzwischen ein wenig gefestigt hat, freue ich mich trotzdem immer noch über ernst gemeinte Kritik. Ich will besser werden und das kann ich nur, wenn IHR mir schreibt, was noch verbesserungswürdig ist.

Email an *
* aus Spam-Gründen nur als Bild zum abtippen, sorry

Und jetzt viel Spaß mit dem sechsten Teil.

Die große Bestie

„Der Feind ist auf dem Vormarsch.“ Häuptling Firrs Stimme lag schwer in der hitzegeschwängerten Luft im Haus des Rates. Das Feuer in der Schale war bereits Stunden vor dem Zusammentreffen entfacht worden. „Er überschwemmt die westlichen Ausläufer der Savanne und unsere Späher berichten, dass seine Zahl unvorstellbar ist.“
     „Wir haben Späher in der Savanne?“, fragte Talaan überrascht. Nach seiner Rückkehr vom Orakel war er direkt zum Ältestenrat geleitet worden.
     Firr nickte einer im Schatten sitzenden MaKri zu und sie ließ eine Sphäre der Sicht entstehen, welche die Stadttore Tullmas und das Land davor zeigte. Keine Menschenseele war zu sehen. Die Sphäre schimmerte kurz und zeigte den Flug eines Auges über die verlassene Savanne.
     „Unsere magischen Augen sind blind. Das konnten wir vor wenigen Tagen noch nicht wissen, wir hatten jedoch ein ungutes Gefühl. Unser Instinkt trügt uns selten uns so haben wir Späher entsandt, um im Verborgenen Wache über Tullma und die Savanne zu halten.“
     Tonri brummte verdrießlich: „Ich bin immer noch der Meinung, wir hätten Schamanen entsenden sollen. Dann hätte uns die Nachricht des Ausmarsches noch in der selben Nacht erreicht.“
     Firr hob beschwichtigend die Hände. „Sie hat uns früh genug erreicht, ehrenwerter Schamane. Mani hat uns versichert, dass solch große Truppen mehr als einen Mondzyklus benötigen werden, bis sie auch nur einen Fuß in den Dschungel gesetzt haben.“
     „Und diese Zeit werden wir nutzen!“, fügte Mahi, die Vertreterin der Frauen, mit Nachdruck hinzu.
     „Wo wir gerade von ihr sprechen. Wo ist Mani? Dies ist doch ein Kriegsrat?“, fragte Talaan verwundert nach.
     Jirr, der Repräsentant der Männer, deutete auf ein leeres Sitzkissen neben ihm. „Die Effenda spricht in diesem Augenblick mit jedem einzelnen Späher und versucht ihnen Details zu entlocken, die uns verborgen bleiben würden. Sie wird später zu uns stoßen.“
     „Was uns großes Grübeln bereitet, ist die Plötzlichkeit des Vorstoßes.“, nahm der Häuptling den Faden wieder auf. „Alle Soldaten, von denen uns berichtet wurde, rückten wie Eins vor drei Tagen zum Beginn der elften Stunde aus. Der Feind hat so lang gezögert uns anzugreifen und geht nun mit einem Mal so entschlossen vor. Mani sagte, dies wäre ein schlechtes Omen.“
     Mit einem bestimmenden Handzeichen erbat Talaan das Wort. „Das schlechtest überhaupt.“ König Mohab hatte keine Zeit verschwendet. „Ich habe vom Orakel in Erfahrung gebracht, was den König abhielt und was er nun seit genau jener Stunde nicht mehr zu fürchten braucht. Hexer des Feindes haben die Halle des Lichts in Schatten gehüllt und sie ist jetzt unerreichbar für unser Begehr.“
     Entsetztes Schweigen legte sich über die Ältesten. Also haben sie es noch nicht erfahren. Keiner konnte so recht glauben, was er eben gehört hatte. Wie sollten sie auch. Das Beständigste im Leben aller MaKrigenerationen war weggebrochen. So konnte selbst die Hitze der Feuerschale nicht bewirken, die Starre bald zu lösen.
     „Wie konnte das geschehen?“, fragte Shaila schwach.
     „Und bringst Du auch gute Neuigkeiten, oder ist unsere Hoffnung den Schatten zum Opfer gefallen?“, fügte Tonri noch finsterer als sonst hinzu.
     Also begann Talaan von seinem Kampf mit dem Schlachtenmagier zu berichten, von dessen Schutz vor dem magischen Auge und seiner Fähigkeit, unsichtbar zu werden. Und er erzählte ihnen, was er in der Halle des Lichts erfahren hatte. Dass er, Talaan, es sein würde, der das Orakel vielleicht vernichten würde, enthielt er ihnen nicht vor, doch vieles Wissen über die Macht der Weltenwandler behielt er für sich. Er sagte ihnen nur, dass Marten und er von der gleichen Art seien und es ihr Schicksal war, in dieser Welt Gegner zu sein. Als Talaan auf den unverhofften Beistand des Orakels und das Potential des vereinigten MaKri-Geistes zu sprechen kam, hellten sich die finsteren Minen der Ältesten kurzzeitig auf. Er schloss seinen Bericht mit der Verdunkelung der Halle des Lichts.
     Shaila war die erste, die etwas zu sagen vermochte. „Du bringst seltsamen Wandel mit Dir, Maigan.“ Talaan blickte ihr forschend in die Augen. Ahnte sie etwas? „Seit Du zu uns kamst ist viel geschehen – im Guten wie im Schlechten.“ Talaan versteifte sich. „Aber jeder von uns besitzt genug Verstand, um die Schuld nicht bei Dir zu suchen. Fürchte nicht, dass Dir einer von uns die Zerstörung der Halle des Lichts nachtragen wird, so lange Du es nicht getan hast.“
     „Ich...“, Jirr blickte in die Runde, „Wir kennen Dich gut genug, um Dir zu vertrauen. Du hast Dein gutes Herz und Deine Tapferkeit zur rechten Zeit bewiesen. Wir sind froh, dass Du an unserer Seite bist, um Marten die Stirn zu bieten.“
     Firr erhob sich und die anderen folgten seinem Beispiel. „Wir haben uns schon zuvor beraten und Dein Bericht hat uns in unserem Entschluss bestärkt. Maigan Talaan, für die Zeit des Krieges wirst Du in den Ältestenrat der Stadt berufen. Nimmst Du die Bürde auf Dich, die damit verbunden ist?“
     Seine Gedanken rasten. Erst in diesem Augenblick wurde ihm das Gewicht dessen bewusst, was für ihn eigentlich nie außer Frage stand: Er würde über die Geschicke des Krieges mitentscheiden. Und die Verantwortung über Leben und Tod – auf beiden Seiten – tragen müssen. Mühsam schluckte er den Klumpen in seinem Hals herunter, als er sich ebenfalls erhob und verneigte. „Ich nehme sie auf mich, Älteste. Möge ich sie nicht all zu lange tragen.“
     In diesem Moment wurden sie Manis gewahr, die ernst und selbstsicher an der Tür des Baumhauses wartete. Talaan wurde leichter ums Herz, als er sie sah, denn er wusste, dass eine fähige Strategin an ihrer Seite war.
     „Setz dich zu uns, Mani.“, bot ihr Firr beinahe väterlich den freien Platz an. „Was hast Du herausgefunden?“
     Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie Talaan entdeckte. „Gut, dass Du wieder da bist, Talaan.“, begrüßte sie ihn in der Sprache des Westens. „Die ganze Sache macht mir Angst.“
     Talaan umarmte sie kurz ermutigend und erwiderte ebenfalls in der Menschensprache. „Ich habe auch Angst. Aber zusammen werden wir bestehen.“
     Ein zaghaftes Lächeln war die Antwort. Auch wenn Firr ein wenig verwundert die Stirn runzelte, sagte er nichts zu dem Wortwechsel, der alle Ältesten ausgeschlossen hatte. Vielleicht verstand er nur zu gut, dass Talaan wie Mani gleichermaßen mehr Verantwortung auf dem Rücken trugen, als sie sich zutrauten.
     Mani wandte sich von Talaan ab und begann zu berichten, noch bevor sie Platz genommen hatte: „Die Größe von Mohabs Armee überrascht selbst mich. Zwar wusste ich zu meiner Zeit als Effenda, dass die Soldaten Tullmas nur Teil einer größeren Streitmacht waren, aber die Beobachtungen der Späher lassen ahnen, wie klein dieser Teil wirklich ist. Genaues vermag ich erst zu sagen, wenn ich es mit eigenen Augen erblicke.“
     „Von welcher Zahl sprichst Du, Effenda?“, brachte Mahi die Frage aller zum Ausdruck.
     „Fünfzigtausend.“, gab Mani vorsichtig zur Antwort. „Vielleicht mehr, aber kaum weniger. Mohab teilt seine Truppen in Fünfhundertschaften ein und die Beobachtungen der Späher legen nahe, dass es deren an die Hundert dort draußen gibt.“
     Erneut wurden alle von bleiernem Schweigen ergriffen. Talaan sah so etwas wie erste Verzweifelung in den sonst ruhigen Gesichtern der Ältesten. Fünfzigtausend? Diese Zahl erschien ihm nicht derart groß. Er hatte in seinem ersten Leben Kriegsberichte zu Ohren bekommen, in welchen von Zweihunderttausend oder gar oder einer halben Million die Rede war. Dann aber dachte Talaan daran, wie klein die Städte dieser Zeit, dieser Welt, waren – auf beiden Seiten – und erschauerte. Mohabs Städte mussten jetzt ohne Männer sein, wenn er eine solche Armee unterhielt – oder sein Reich war derart groß, dass er so viele Männer ohne Sorge entsenden konnte.
     „Der König hatte Jahre, um diesen Schlag vorzubereiten, Soldaten auszuheben und alles sorgfältig geheim zu halten.“, sagte Mani ernst. „Das nördliche Orakel gibt ihm in der Tat viel Macht... Ich weiß ja nichts über die Zahl der Krieger, die ihr in die Schlacht führen könnt, aber selbst wenn ihr ein Dutzend Städte wie diese hier hättet und unzählige Dörfer, wäre das nicht genug. Mögt ihr nun Blitze schleudern können oder nicht.“
     „Die Große Stadt ist einzigartig.“, erwiderte Firr schwach. Jeder Stolz, der sonst seiner Stimme beiwohnte, wenn er über seine Stadt sprach, war verschwunden.
     „Und wir sind ein Volk von Jägern, nicht von Kriegern.“, fügte Jirr hinzu. „Wir wissen den Speer in der Schlacht weniger gut zu gebrauchen.“
     „Wir habe seit Jahrhunderten keine Kriege geführt.“, warf Shaila ein.
     Mani sah sie zunehmend bestürzt an. „Was ist mit eurer Magie?“
     „Wir könne vielleicht zweitausend MaKri der Kampfmagie fähig nennen.“, berichtete Tonri. „Die Zeit war zu kurz, um in unseren weitgestreuten Siedlungen diese Kunst zu verbreiten. Auch hat nicht jeder MaKri das Talent dafür.“
     Nach dem raschen Erfolg seiner Lehre in der Großen Stadt hatte Talaan sich eingebildet, die MaKri würden viel rascher Herr ihrer erwachten Kräfte werden. Aber erst zweitausend? Es musste sich noch zeigen, was diese Zahl wert war. „Wie steht es mit der Heilmagie?“ Talaan war besorgt.
     Shailas Augen leuchteten bei Talaans Frage auf. „Die ehrenwert Kirra hat Großes geleistet. Allein in der Großen Stadt hat sie einen erlesenen Zirkel von siebzig Heilern um sich geschart, die an einem Tag ein Vielfaches an Verletzten zu heilen vermögen, selbst wenn keiner von ihnen an die Fähigkeiten der ehrenwerten Kirra heranreicht.“
     „Das ist viel zu wenig!“, flüsterte Mani entsetzt, während Talaan dachte: Die ehrenwerte Kirra? „Wie sollen wir Mohabs Armee mit so wenigen entgegentreten können?“
     „Der erwählte Maigan wird noch Licht in dieses Dunkel bringen müssen. Das Orakel offenbarte ihm einen Weg, von dem sich noch zeigen wird, ob wir ihn beschreiten können.“, besann sich Firr der Worte Talaans und gewann wieder an Stärke. „Jetzt berichte uns bitte erst, was du noch von den Spähern erfahren hast, Mani.“
     „Da gibt es in der Tat etwas, das berichtenswert ist. Einige Späher haben Soldaten gesehen, die in Gruppen ein Artefakt auf einer Art Bahre trugen. Zwei der Späher beschreiben es als großen Kristall zwei Schritt im Maß und geschliffen wie ein Edelstein. Alle sind sich einig, dass eine mächtige magische Aura von ihm ausging.“
     Mahis Blick wanderte nachdenklich zu Talaan. „Können diese Kristalle Waffen sein?“
     Talaan dachte gründlich nach und schüttelte schließlich den Kopf. „Meine Erfahrung mit solchen Dingen sagt mir, dass immer nur ein Zauber an einen Gegenstand geknüpft werden kann. Je größer und reiner dieses Artefakt ist, um so mächtiger ist die Magie, die in ihm eingeschlossen ist. Nur Kristalle dieser Größe wären in der Lage, ganze Legionen vor dem magischen Auge zu verbergen. Das ist ihr Zweck.“
     „Die magischen Augen der MaKri...“ Mani wog nachdenklich ihren Kopf. „Es wäre von unschätzbaren Wert für unsere Sache, wenn sie sehen könnten, was der Feind tut. Mohab weiß dies und blendet sie aus diesem Grunde.“
     „Dann müssen wir die Kristalle zerstören!“, folgerte Firr entschlossen. „Die Frage ist nur, wie wir diese Aufgabe bewältigen können.“
     Tonri sah Firr finster und zweifelnd an. „Sie werden von einer ganzen Armee beschützt. Wir können nicht einfach in ihr waffenstarrendes Feldlager spazieren und mit einem großen Hammer diese Artefakte zertrümmern.“
     „Vor allem mit dem Letzten magst Du Recht haben, Schamane.“, grübelte Talaan.
     Das kluge Glitzern in Manis Augen verriet, dass sie dennoch eine Idee hatte. „Wenn wir bald zuschlagen, steht es nicht schlecht um unser Vorhaben. So früh werden die Feldherren mit keinem Angriff rechnen, zumal sie sich noch unentdeckt wähnen. Die Wachen des Nachts werden unvorsichtig sein, ganz gleich, wie viel Obacht ihnen befohlen wurde.“
     „Aber die Armee...“
     „... wird keine in Schatten gehüllte MaKri erwarten, die vom Nachthimmel herabsteigen, um Unheil zu bringen.“, brachte Talaan Manis Gedanken zu Ende.
     „Marten wird diese Kristalle doch nicht allein der Wachsamkeit der Wachen anvertrauen.“, gab Tonri zu bedenken. „Schützende Hexerei wird auf ihnen liegen.“
     In tiefes Nachdenken versunken nickte Talaan beiläufig zustimmend. „Es werden wohl Schutzzauber auf ihnen liegen, die gleichwohl Magie wie auch Gewalt abwehren sollen. Sie sind nicht sonderlich schwer zu wirken und Marten wäre ein Narr, darauf zu verzichten.“ Ein verborgenes Wissen, das sich wie ein Juckreiz in seinem Hinterkopf bemerkbar machte, brachte Talaan erneut zum Grübeln. Er durchforstete seine Erinnerungen nach diesem Juckreiz, drang immer weiter in seine Vergangenheit vor, bis er in seinem ersten Leben angelangt war. Dort stand in klaren Lettern das Wort ‚Resonanz’.
     Als er seinen Kopf lächelnd hob, wurde er der wartenden Blicke der Ältesten gewahr. „Ich habe da etwas in meinem Zauberbuch, das helfen wird. Noch heute werde ich ein paar Steine verzaubern, die ich jenen mitgeben werde, welche die Kristalle zerstören sollen.“
     Firr neigte zustimmend das Haupt. „Ich werde tapfere Frauen und Männer suchen, damit alles bereit ist, wenn Du bereit bist, erwählter Maigan. Wir müssen besser heute als morgen handeln.“
     Mani wirkte sehr zufrieden und ihre Entschlossenheit nahm zu. „Dieser Schlag muss gelingen, denn er wird den Feind mehr als eine Wunde schlagen. Den Feind zu sehen, bedeutet ihn an schwachen Stellen angreifen zu können. Und eine so frühe Attacke der MaKri wird an der Siegesgewissheit des Königs nagen. Ich habe vorhin gehört, dass die Augen des nördlichen Orakels blind sind. Das ist etwas, das Mohab seit Jahren nicht mehr ertragen musste – den Ausgang der Schlacht nicht zu kennen.“
     Tonri ergriff finster dreinblickend das Wort. „Wir kennen ihn auch nicht. Freut euch der zerstörten Kristalle erst, wenn der Sieg erzwungen ist.“
     Mani warf dem Schamanen einen vernichtenden Blick zu. „Wir dürfen es auch nicht dabei belassen. Über Magie zu gebieten, die euch fliegen, verborgen bleiben und großen Schaden anrichten lassen kann, gibt uns den Vorteil jederzeit angreifen zu können, während der Feind mühsam auf sein Ziel zumarschiert. Doch selbst diese Macht muss wohl überlegt genutzt werden.“
     „Und wir müssen unsere Heimat auf die große Schlacht vorbereiten.“, fügte Mahi hinzu.
     „Nahrungsvorräte müssen gehortet und Nachschub geregelt werden.“, gab Jirr zu bedenken.
     „Wir werden Heilkräuter in großen Mengen sammeln müssen.“, grübelte Shaila mehr für sich. „Die Kräuterfrauen des Hinterlandes sollten sofort aufbrechen, um den Siedlungen im Westen rechtzeitig zur Seite zu stehen.“
     Firr hob Einhalt gebietend die Hand. „Ihr habt Recht, ihr habt Recht. Doch Eines nach dem Anderen.“ Er warf dem Feuer in der Schale einen verdrießlichen Blick zu. „Dies wird ein langer Rat, meine Freunde. Es gilt, viele Pläne zu schmieden.“

Die glühende Energie zwischen seinen Händen verblasste. Talaan legte den letzten magischen Stein beiseite und schlug zufrieden das Zauberbuch zu. Die Verzauberung der marmordurchwachsenen Flusssteine war leichter ausgefallen, als er gehofft hatte. Der Spruch, den es zu binden galt war simpel und das Buch ein hervorragender Ratgeber gewesen.
     Ein erschöpftes Seufzen drang aus dem vorderen Teil des Baumhauses zu Talaans Studienecke und eine geradezu kindliche Freude durchflutete ihn. Behutsam erhob er sich. Bemüht, kein Geräusch zu machen, schlich er vorsichtig zum Stamm in der Mitte und dann langsam spähend um ihn herum, bis er endlich einen Blick auf Kirra erhaschen konnte, welche, ihm die Seite zugewandt, gerade eine verzierte weiße Robe abstreifte. Nun stand sie da, nur in ihr Fell gekleidet und sah nachdenklich durch ein Fenster nach draußen.
     „Beim Schöpfer, bist Du schön.“, seufzte er mit wonnig verliebter Stimme.
     Kirras Kopf schnellte herum, ihr Augen wurden groß und ein unglaublich zauberhaftes Lächeln lag auf ihren Lippen. „Talaan!“ Sie tat einen zaghaften Schritt auf ihn zu und streckte ihre Hand aus, als ob sie es nicht glauben konnte. „Du bist endlich wieder da?“ Mit einem frohem Juchzen sprang sie ihn an, riss ihn von den Beinen und bald kullerten sie käbbelnd über den Boden, bis Kirra siegreich auf ihm zu liegen kam.
     Sie koste seine Schnauze mit der ihren, sah ihn wieder freudig funkelnd an, koste erneut, strich mit ihrer Hand über sein Kinn, seine Augen. „Du bist endlich wieder da.“ Ihr Kuss war der süßeste, köstlichste seit dem Tag ihrer Hochzeit. Talaan schlang seine Arme fest um sie, zog sie dicht an sich, sog ihren vertrauten Geruch ein, umarmte sie fester, wollte in sie hineinkriechen.
     „Kirra... Meine Liebe.“, flüsterte er zwischen ihren Küssen. „Von allen Dingen der Pilgerschaft war die Entfernung zu Dir das Schlimmste.“
     „Und das soll ich Dir glauben?“ Kirra rümpfte drollig ihre Schnauze. „Was ist mit dem Regen?“
     Talaan mimte kurzes Grübeln und erwiderte dann zweifelnd. „Darüber muss ich nachdenken...“
     „Du!“, rief sie lachend und gab ihm einen strafenden Schnauzenstüber, den Talaan verspielt in einen Kuss verwandelte.
     „Drei Monate Regen sind mir lieber als zwei Wochen ohne Dich, Geliebte meines Herzens.“, sagte er ernst und Kirra nickte bedächtig mit geschlossenen Augen.
     „Ich liebe Dich, Talaan.“
     „Ich liebe Dich, Kirra.“
     „Du musst mir etwas versprechen.“
     „Was ist es?“, fragte er schmunzelnd. „Ich bin ein verliebter Narr – Du kannst alles haben.“
     „Verspricht mir, dass Du mich ab jetzt mitnimmst auf deine Reisen.“
     In diesem Augenblick klopfte es am Türrahmen und Rashek trat ein. „Störe ich euch?“
     Kirras bohrender Blick verbot es Talaan, die Gelegenheit auszunutzen, um einer Antwort zu entgehen. Sie wusste, wie besorgt er um ihr Leben war. „Wir sind Eins, Kirra. Ich verspreche es nur zu willig und wider meiner Vernunft.“
     Glücklich küsste sie ihn überschwänglich und sagte dann zu dem Krieger: „Bleib nur, Rashek, Du bist willkommen.“ Sie lösten sich voneinander und standen auf.
     „Kommst Du wegen der Steine?“
     Rashek nickte nur.
     „Unser Häuptling ist ein wenig ungeduldig, nicht wahr?“
     Talaan verschwand im hinteren Teil der Hütte, verstaute die magischen Steine in einem Leinensack und brachte ihn Rashek. „Kommt nicht auf die Idee, sie zu erproben. Ich tat es mit dem Ersten und kann von Glück reden, nicht ertaubt zu sein.“
     Rashek kramte einen Stein hervor und betrachtete ihn neugierig. „Was sind das für Dinger?“
     „Ich nenne sie Kreischer.“, antwortete Talaan mit einem gefährlichen Grinsen. „Marten wird sich wünschen, niemals einen davon zu Gesicht bekommen zu haben. Sind Firrs Krieger bereit?“
     Mit einem Achselzucken tat Rashek den Stein zurück. „Wir sind bereit. Ich werde eine der Gruppen führen.“
     Talaan wandte seine Aufmerksamkeit von Kirra, an die er sich angeschmiegt hatte, mit hochgezogenen Augenbrauen auf Rashek. „Du hast auf Deine alten Tage noch fliegen gelernt?“, stichelte Talaan gutmütig.
     „Du hast wohl zu gute Laune, hm?“, brummte der Krieger. „Kirra, Du solltest diesem Jungspund mal den Kopf zurechtrücken.“ Dann konnte er sein Schmunzeln nicht mehr unterdrücken. „Es gibt nichts anderes, was mich wieder derart jung fühlen lässt. Du hast uns ein großes Geschenk mit diesem Zauber gemacht, junger Freund.“
     Talaan legte dem Krieger eine Hand auf die Schulter. Deutlich konnte er die festen Muskeln unter dem Fell spüren. „Wenn Du einer der Anführer bist, habe ich keine Sorge um das Gelingen, Rashek. Du wirst Deine Sache gut machen.“
     „Lebt wohl ihr beiden und hoffentlich sehen wir uns wieder. Ich mache mich jetzt auf den Weg, die Zeit drängt.“
     Talaan hielt ihn noch kurz zurück. „Übereilt euch nicht. Es ist den Ältesten lieber, wenn ihr einen Tag länger auf dem Weg zum Feind braucht, als euch wegen Fehlern aus Erschöpfung zu verlieren.
     „Keine Sorge, Talaan.“ Rashek blinzelte ihm zu. „Ich alter Mann werde mich schon nicht überanstrengen.“
     Als Rashek schließlich gegangen war, sah Kirra Talaan mit neugierig schiefgelegtem Kopf an. „Wovon habt ihr eigentlich die ganze Zeit gesprochen?“
     Talaans Fröhlichkeit flackerte unruhig wie eine sterbende Kerzenflamme. „Der Krieg hat begonnen, Kirra, und mit ihm der Kampf gegen den Feind. Heute führen wir unseren ersten Schlag.“
     Kirras Mine wurde ernst, aber nicht ängstlich. „Ich werde der großen Bestie jedes Leben entreißen, das ich retten kann.“, schwor sie mit entschlossener Stimme.
     „Die große Bestie?“
     „So nennen ihn die MaKri. Was ist der Krieg, wenn nicht das? Er wütet blind und hungrig und verschlingt dabei Leben auf beiden Seiten. Die Bestie wird der einzig wahre Sieger sein.“
     „Du bist gewachsen, seit ich fortging.“, musste Talaan bewundernd erkennen.
     Kirra schmunzelte verlegen. „Ich sehe jetzt einfach, was du vor Jahrhunderten begriffen hast. Wie wertvoll das Leben ist. Es ist das größte und wertvollste Wunder des Schöpfers.“
     Talaan neckte sie aufmunternd mit dem Schwanz. „Die ehrwürdige Kirra, ja?“
     Beschämt blickte sie zu Boden. „Du hast schon davon gehört? Es mag ja sein, dass ich eine große Heilerin geworden bin, aber sie übertreiben. Ich will diese Ehrung nicht, ich will nur das Leben hüten.“
     Zärtlich liebkoste Talaan ihr Ohr mit seiner Zunge. „Ich bin stolz auf Dich, Geliebte. Ich kann mir nichts wunderbareres vorstellen, als dass Du Deine Berufung in der Heilung gefunden hast. Ich würde gerne sehen und von dir lernen, was Du erreicht hast. Dann kann ich selber urteilen, ob sie übertreiben.“
     Schüchtern lächelnd nickte sie. „Ich zeige es Dir gerne.“ Und das tat sie dann auch und eine ganze Weile lang kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Er erwachte aus einem gesichtslosen Traum, der eine dumpfe Benommenheit in seinem Kopf zurückließ, welche das Denken auf fiebrig anmutende Bahnen lenkte. Kirra lag neben ihm, einen Arm um seine Hüfte geschlungen. Ihr Anblick beruhigt ihn, ihre Nähe gab ihm Halt.
     Kirra, dachte er froh und lächelte glücklich. Sie hatte in den letzten dreißig Tagen viel gelernt und viel Neues entdeckt. Und sie hatte ihn in einer Stunde mehr über die heilenden Kräfte gelehrt, als er in dreihundert Jahren herausgefunden hätte. Sie war von Bestimmung her eine Heilerin, ihr Können, ihre Macht war unglaublich. Das machte ihn froh. Und dennoch war sie die Alte geblieben, so liebend, so anschmiegsam, so zärtlich wie am ersten Tag. Das machte ihn auch glücklich.
     Der Gedanke an sein Lernen brachte ihm eine Ahnung an seinen Traum ein, doch so sehr er sich auch konzentrierte, war es ihm unmöglich, etwas Klares zu fassen. Eine Vermutung jedoch blieb zurück. Oft, wenn er schlecht träumte, kreisten seine Gedanken um Marten und ihn selbst. Dem musste er sich stellen. Ohne zu wissen warum, rieb er sich einen Punkt über der linken Schläfe.
     Zärtlich nahm Talaan ihren Arm beiseite, streichelte sanft ihre Stirn und schlich sich davon.

Als ihre Hände wie viele Nächte zuvor vergeblich nach Talaan tasteten, dachte Kirra zunächst, sie hätte seine Heimkehr nur geträumt. Dann sah sie jedoch eine dunkle Silhouette im Rahmen der Tür stehen.
     Wäre er doch nicht zum Orakel gegangen. Ich mag es nicht, wenn er von sorgevollen Gedanken geplagt wird. Sie hatte schon andere MaKri erlebt, die vom Orakel in Gedanken versunken heimkehrten – und das, obwohl sie bereits den langen Weg zurück gegangen waren, anstatt zu fliegen.
     Leise, um ihn nicht zu stören, stand sie auf. Wie viele Stunden sind es wohl bis zum Morgen? Als sie sich ihm nährte, bemerkte sie, dass mit Talaans Schattengestalt etwas nicht stimmte. Sie war menschlich. Und mehr als das – es war eine menschliche Gestalt, die sie nicht kannte. Doch in keinem Augenblick kam ihr in den Sinn, dass es nicht Talaan sein könne. Sie spürte es sicher und unverrückbar in ihrem Herzen. Was hat ihm das Orakel nur alles erzählt?
     Mit behutsamer Stimme sprach sie ihn an: „Geliebter?“
     Überrascht drehte er sich zu ihr um und lächelte dieses vertraute Lächeln, welches ihm in jeder Gestalt eigen war. „Ich habe Dir noch nie etwas über mein erstes Leben erzählt, oder?“, fragte er. Kirra schüttelte den Kopf. „Das will ich auch jetzt nicht tun. Ich habe im Jungen Wald viele Tränen verloren über das Leiden der Welt, die ich damals verlassen hatte. Und dennoch liegen dort meine Wurzeln, bin ich immer noch mit ihr verbunden.“ Neugierig hob er seine rechte Hand und betrachtete sie eingehend. „Obwohl ich mich nicht an alles erinnern kann.“ Er ballte seine Hand zur Faust und sah zu, wie die Knöchel dabei hervortraten. „Wer bin ich? Das Orakel hat mir begreiflich gemacht, dass dies die wichtigste aller Fragen ist. Gleich, ob ich gegen Marten bestehen mag oder nicht. Ich darf mich nicht von mir entfernen oder mich gar verlieren.“
     Kirra nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und sah Talaan eingehend an. Das Fell auf seinem Haupt war kurz, beinahe so wie das eines Kri, braune Augen sahen sie zweifelnd an, eine dreizackige Narbe zeichnete sich blassrot über seiner linken Schläfe ab. An sonst sah er aus wie jeder andere Mensch auch – sie konnte sie nicht auseinanderhalten.
     „Wer Du bist?“, sie schüttelte schmunzelnd den Kopf und küsste einen sehr überraschten Talaan. „Du hast die dumme Angewohnheit, über den großen Fragen der Gelehrten zu grübeln.“ Sie kostete erneut von seinen weichen, nackten Lippen. „Es gibt so viele Antworten auf diese Frage. Eine davon könnte lauten: ‚Du bist der Mann, den ich liebe.’ Eine andere wäre: ‚Du bist der Weltenwandler Talaan, der Großes für unser Volk tut.’ Aber niemals wird sie lauten: ‚Du bist, was Du nach außen zu sein scheinst.’“ Zärtlich streichelte sie seine Wange, bevor sie einen Kopf losließ. „Du hast es selbst zu mir gesagt: Dein Kern, du nanntest es Dein Ich, bleibt Dir treu, ganz gleich, welche Gestalt du trägst.“
     Ein wenig erleichtert wirkend lächelte er sie an. „Es ist gut, dass Du mich an meine eigenen Worte erinnerst, Kirra, aber dennoch... Menschen verändern sich, das ist ihre Natur. Und egal, was ich jetzt auch bin – meine Wurzeln sind menschlich. Menschen verändern sich im Laufe ihres Lebens. Sie verfolgen ihre Träume bis diese entweder erfüllt oder meist bis sie wieder vergessen sind. Sie werden hart durch andere harte Menschen, teilnahmslos durch andere Gleichgültige, lassen sich einfangen durch Geld und Besitz oder verbittern an einer harten, gleichgültigen, neiderfüllten Welt.“
     „Nicht alle Menschen können so sein.“
     „Nicht alle Menschen, nein. Aber kann ich von mir behaupten einer der Wenigen zu sein?“ Traurig schüttelte er den Kopf. „Nicht ganz und gar, vielleicht sogar weniger, als ich mir eingestehen mag. Hat die Sehnsucht nach Stärke aus mir einen Blitze schleudernden Maigan gemacht oder war es das Schicksal? Ich stehe auf schmalem Grad, Kirra, denn Macht verführt die Menschen. Wie kann ich über Jahrtausende meinen Weg gehen ohne zu straucheln, ohne mir fremd zu werden?“
     „Die weise Rerrena hat uns einmal, als sie in unserem Dorf lehrte, von einer Suchenden berichtet, die dem Orakel eben jene Frage stellte: ‚Wer bin ich?’ Das Orakel antwortete nur: ‚Ich kann Dir diese Frage beantworten, aber sobald Du die Antwort vernommen hast, werden meine Worte schon nicht mehr ganz richtig sein.’“ Ich habe nicht so recht verstanden, was diese Worte bedeuten sollen, Rerrena sagte nur, wir sollten wie die Suchende auch darüber nachdenken.“
    
Talaan nickte bedächtig. Jene Worte waren die bessere Antwort gewesen. „Ich verändere mich. Alles, was ich erfahre, selbst meine Gedanken, bedeuten Wandel. Das ist es, was das Orakel meinte. Zu leben bedeutet, sich zu verändern.“ Er zerraufte sich grübelnd seine Haare. „Die Frage ‚Wer bin ich?’ muss ich mir wohl immer wieder aufs Neue stellen.“
    
Kirra neigte ihren Kopf zur Seite und musterte ihren Mann eingehend. „Wie kommt es, dass Du das nach einem Jahrtausend bei den Elfen noch nicht gelernt hast? Sie waren ein weises Volk, sagst du.“
    
Verträumt lächelte Talaan, als er an das Schöne Volk dachte und ihm die Erkenntnis in den Sinn kam. „Ich habe mich nicht verändert. Nicht so jedenfalls, wie man das sonst tut. Ich wurde verändert. Die Veränderung floss in den Jahrhunderten durch mich hindurch, könnte man sagen.“
     „Das verstehe ich noch weniger.“, murrte Kirra verwirrt. Sie mochte es gar nicht, wenn sie sich dümmer als Talaan vorkam.
     “Ich auch nicht. Aber es ist die Wahrheit. Das sagt mir mein Herz. Der Junge Wald war ein Ort des alles durchdringenden Friedens. Veränderung war nicht nötig, nehme ich an. Sie kam unmerklich einfach mit der Zeit. Friedlich, sozusagen.“ Er verstummte kurz, um über seine Worte nachzudenken und nickte schließlich. „Die Elfen würden mich für diese simpel geratene Erklärung vermutlich sanftmütig belächeln und mir an den Feuern vieler Abende erzählen, wie es wirklich ist, aber mir will sie genügen.“
     „Und was tust du nun?“
     „Weiter nachdenken, nichts anderes bleibt mir übrig. Dass Veränderung auf immer ein Teil des Lebens ist bringt wieder nur die Frage hervor: Wie werde ich wissen, welche Veränderung zum Guten und welche zum Schlechten gereicht? Denke ich an Marten, so schaudert es mich. Wie soll ich verhindern, Schritt für Schritt wie er zu werden? Große Ziele erfordern manchmal Opfer und wenn es nur Teile meiner alten Überzeugungen sind. Ist es denn derart unmoralisch das Geschick eines Volkes durch die Figur eines Königs zu lenken?“
     „Um Gutes zu tun vielleicht nicht.“, erwiderte Kirra nach reichlichem Nachdenken. „Marten hingegen hat klar offenbart, was er im Schilde führt.“
     Talaans Blick wanderte ins Leere, als sein inneres Auge zu einem von ihm beherrschten Land reiste. „Selbst bei guten Absichten kann so leicht Leid entstehen, nur weil mein Verstand das Wohl eines Bauern angesichts des großen Ziels als unwichtig erachtet.“
     Die Stimme Kirras war weich und nachsichtig, als sie antwortete: „Der Unterschied zwischen Marten und Dir sind jene, die Dich auf Deinem Weg begleiten, Talaan. Marten hat niemanden, der ihm hilft, andere Pfade als die seines Verstandes zu sehen. Niemanden, der ihm hilft jedes mal aufs neue einen Wandel zum Schlechten zu bemerken, niemanden um dessen Willen er diesen neuen Zug seines Wesens ändern bräuchte. Es ist niemand da, der ihn von Verbitterung, Missgunst und zu großer Härte fern hält.“
     Gedankenverloren kratzte Talaan seinen Nacken. Was Kirra sagte, ergab Sinn, selbst in Bezug auf das, was sie noch nicht wissen konnte: dass er durch Träume und Wünsche seine kommenden Leben beeinflusste. Er hatte nicht Stärke jenseits jeder Kontrolle gewählt, sondern schöpfte seine innere Stärke, seinen Rückhalt und seine Macht gegen Marten aus der Gesellschaft der MaKri. Er hatte sich bewusst für aterbliche Schwäche entschieden und so seinen Weg gewählt, sich nicht an zu viel Macht zu verlieren.
     Und eines mehr wurde ihm bewusst: Jene Veränderung, welche ihm im Jungen Wald widerfahren war, gab ihm ein wertvolles Fundament, auf das er in diesem und kommenden Leben den rechten Weg bauen konnte. Das Wunder des Lebens und der Wert der Freiheit hatten über die Jahrhunderte seine Seele durchdrungen.
     Er hatte Frieden gefunden, tiefen, in sich selbst hatte er ihn entdeckt und wie eine seltene Orchidee gehegt und gehütet. Doch wo war dieser Frieden jetzt? Wie sollte er ihn wiederfinden?
     Kirras Arme schlossen sich um ihn und waren für den Moment Antwort genug. „Hör auf zu grübeln, Geliebter, und komm’ ins Bett.“ Ihre Stimme war Balsam, lockender, wohltuender Balsam. „Ich habe einen Monat lang ohne Deine Nähe schlafen müssen. Jetzt will ich nicht noch eine Nacht allein verbringen.
     Lächelnd küssend schmiegte Talaan sich in ihre Umarmung und schnurrte. Aus seiner menschlichen Kehle klang das ein wenig seltsam, aber das entlockte Kirra wenigstens ein Lächeln. „Du hast Recht, lass uns schlafen.“


Als Talaan am nächsten Tag mit Sorral zusammen saß, um mit ihm gemeinsam eine Möglichkeit zu suchen, Geistessymbole zu vereinen, fiel es ihm nicht leicht, sich darauf zu konzentrieren. Immer wieder musste er an jede Frauen und Männer denken, die an diesem Tag dem Feind entgegen gingen.
     „Die Zeit ist nahe, da sich deine Worte als wahr erweisen werden, mein Freund.“, durchbrach Sorral seine wandernden Gedanken und holte ihn zurück ins Hier.
     „Verzeih, ich war...“
     „...abgelenkt.“ Sorral wandte seinen Blick nach Westen. Von dem Holzweg um Talaans Hütte herum konnte man freilich nicht weit sehen, aber Talaan wurde bewusst, dass auch Sorral an jene dachte, die in den Kampf zogen. In den Kampf... befremdliche Worte einer befremdlichen Zeit.
     „Viele von uns werden töten, doch kaum einer wird ein Held sein wollen, selbst wenn er tapfer das Leben anderer verteidigt hat. Nur Narren dienen der Großen Bestie mit Freude.“
     Talaan seufzte bedrückt. „Es will mir nicht aus dem Kopf gehen, dass ich es war, der sie aussandte. Und ein Irrtum könnte sie alle das Leben kosten.“
     Ernst und nachdenklich saß ihm Sorral gegenüber und Talaan war froh, einen erfahrenen Mann an seiner Seite zu wissen, mit dem er seine Sorgen teilen konnte. „Um diese Bürde beneide ich Dich wahrlich nicht, Talaan. In Zeiten wie diesen aber brauchen die MaKri jene, die solche Last ertragen, denn ohne starke Führung kann unser Volk nicht einig handeln.“ Sorral hielt einen Moment inne und fragte dann einfühlsam: „Weißt Du, warum Du einer jener bist, die diese Verantwortung tragen?“
     Es brauchte nicht viel Zeit, eine Antwort zu finden. „Es ist Schicksal.“, erwiderte Talaan voller Überzeugung.
     „Ja, es ist Schicksal. Sicherlich hast Du Dich niemals gefragt, weshalb die MaKri uns weiterhin Maigan nennen, obwohl nun jeder über Magie gebieten kann.“
     Talaan schüttelte mit dem Kopf. „Ich hielt es für einen Brauch.“
     „Maigan bedeutet stets ‚vom Schicksal erwählt’, denn das sind wir.“ Ein nahezu väterliches Lächeln huschte über Sorrals Gesicht. „Obgleich Deine Rolle ohne Frage größer als die meine ist. Aus diesem Grund sind wir beide es, die hier sitzen, um eine neue Waffe gegen den Feind zu schmieden. Da wir Maigan sind, verlässt sich unser Volk auf uns.“
     Ermutigt straffte Talaan seine Haltung. „Recht hast du. Sie verlassen sich auf uns. Lass uns weitermachen.“ Und nach einer Zeit des einvernehmlichen Schweigens: „Danke, Sorral.“
     Zunächst versuchten sie eine Verbindung durch einen Heilzauber, doch so ähnlich sich die Ströme der Magie und die des Lebens auch waren, konnte keiner das Geistessymbol des Anderen sehen oder gar berühren. Ein Versuch, genau zeitgleich den Kältezauber zu beschwören, führte nur dazu, dass ihnen sehr kalt wurde, brachte aber nicht die erhoffte Verstärkung des Zaubers. Als Talaan mit einer leichten Form der Geisteskontrolle Sorral dazu brachte, Magie zu wirken, konnte er seine Energie dennoch nicht mit Sorrals vereinen. Letztlich mussten sie einsehen, dass wildes Ausprobieren nicht fruchtete, nachdem Sorral von einem völlig unkontrollierten Blitz getroffen wurde - sie hatten sich beim Formen der Zauber zu intensiv aufeinander konzentriert.
     „Das bringt so nichts.“ Sorral richtete sich mit einem matten Stöhnen wieder auf. „Sollte jemand beobachten, wie ein Maigan den anderen einfriert oder brät, ist es vorbei mit unserem Ruf der Weisheit.“
     Talaan lächelte halb belustigt, halb zerknirscht und wirkte einen Heilzauber auf seinen Freund. „Du meinst, wir sollten lieber unseren Verstand gebrauchen?“
     „Unbedingt.“ Sorral rieb die Stelle, an welcher der Blitz seine Schulter durchschlagen hatte. „Die Zeit zum Spielen ist vorüber. Du, der einst Mensch warst und dich auf ihre Zauberkunst verstehst, solltest besser als jeder andere sonst ergründen können, was unsere Magie von ihrer unterscheidet. Was an ihr bewirken soll, was das Orakel offenbarte und was den Menschen aber verwehrt bleibt.
     „Wir sprechen die Zauber nicht, wir formen sie in unserem Geist. Das weißt Du.“
     Sorral lehnte sich zuversichtlich an die Wand der Hütte. „Da ist noch mehr, denk nach.“
     „Wir formen die magischen Ströme so, dass sie ihre Macht entfalten können.“
     „Aber die Menschen können das nicht? Wie formen sie die Ströme?“ Sorral klang bemerkenswert entspannt.
     Talaan überlegte sich die Antwort reiflich. Es war alles andere als leicht, das zu erklären. „Es ist am ehesten so, das sie den Strömen der Magie Befehle erteilen. Sie zwängen ihr ihren Willen durch Worte, Gedanken und Gesten auf. Sie befehlen ihr, was sie bewirken soll.“
     Sorral richtete sich hellwach auf. „Die Menschen formen die Magie nicht? Sie...“, er schmunzelte ungläubig, „... sagen ihr, was geschehen soll?“
     So recht vermochte Talaan seine Begeisterung nicht zu verstehen und nickte nur verhalten.
     „Diese... rohe, ungeformte Magie... Was ist sie? Wo ist sie, bevor wir sie uns Untertan machen?“
     Lächelnd schüttelte Talaan seinen Kopf. „Niemand kann sie sich Untertan machen, Sorral, außer der Schöpfer vielleicht, denn sie ist gewaltig und allgegenwärtig. Sie durchdringt alles, deshalb kann sie so viel bewirken. Stell sie Dir wie einen gewaltigen Stoff vor, von dem du winzig kleine Fädchen kurze Zeit in andere Bahnen lenkst.“
     „Ha!“ Begeistert schlug Sorrals linke Faust in seine rechte Hand. „Das ist die Antwort: Wir müssen lediglich an den gleichen Fäden knüpfen.“
     „Sorral, es ist nur...“ ...ein Sinnbild? Diese Worte blieben in seinem Hals stecken. Natürlich war die Magie mit einem Gewebe zu vergleichen nur ein Sinnbild, doch waren die Geistessymbole nicht genau das Gleiche? Ein Symbol für das Formen der Magie, wie fremdartig die Wahrheit hinter den Bildern, hinter den Grenzen des Verstandes auch aussehen mochten? „Sorral, um den Ruf Deiner Weisheit brauchst Du Dich nicht zu sorgen. Lass es uns versuchen. Wenn jeder von uns an diesen Fäden zieht, können wir vielleicht ein Tau anstatt einer Schnur knüpfen.“

Es war die vierte Nacht ihres Aufbruchs und Rashek wusste insgeheim, dass sie zu sehr geeilt und zu wenig geruht hatten. Die MaKri unter seiner Führung waren erschöpft. Erschöpft, aber dennoch entschlossen, noch heute Nacht zuzuschlagen. Darauf hatten sich alle Führer geeinigt, als sie den Feind erblickt hatten.
     Es war schon bei Tage schwer gewesen, ihn zu übersehen, doch jetzt, in der Nacht, verbreitete seine Zahl einen viel größeren Schrecken. Die unzähligen Lichtflecken der Lagerfeuer verwandelten die nachtschwarze Savanne in ein Sternenmeer, welches die Gestirne weiter oben erblassen ließ - vor Neid, wie es schien. Die Herren der Feuer blieben indes verborgen und überließen es den Flammen, die Botschaft ihres Kommens zu verkünden.
     So schwebten Rashek und seine Krieger weit über den Sternen der Menschen, verborgen im Nachthimmel unter echten Sternen und warteten auf ihre Zeit. Die Zeit, um hinabzusteigen und die Zeichen ihres eigenen Kommens zu hinterlassen. Er blickte auf den sanft pulsierenden Opal in seiner Hand hinab. Wenn er erlosch, in den Händen aller Führer zur selben Zeit, war es soweit.
     Sein Blick glitt von dem schwachen magischen Glimmen in seiner Hand hinab in die Tiefe zu dem arkanen Leuchtfeuer im Lager des Feindes. Die Kristalle, für Menschenaugen in Schatten gehüllt, wiesen den MaKri strahlend, flammend blau ihren Weg.
     Bald. Ein guter Jäger verstand es zu warten. Mit einer stummen Geste holte er die MaKri seiner Gruppe zu sich heran. „Ein letztes Mal. Wir steigen im Ring hinab. Tötet alle Wachen des Kristalls. Sind noch mehr Menschen in der Nähe, greift sie an, lenkt sie ab. Grrish und Schauurri, schlagt auf das Kristall ein und zaubert ein wenig, ohne euch zu verletzen. Der Feind muss unter allen Umständen glauben, dass dies unser eigentlicher Angriff ist.“
     Alle nickten ernst, nur Schauurri konnte ihren vorlauten Mund nicht halten. „Und was, wenn ich den Kristall mit meinem Speer in Stücke haue?“
     „Dann bekommt Dein wundersamer Speer einen Platz in unserer Ruhmeshalle, Flauschohr.“
     Alle lachten, selbst die zurechtgewiesene grünschnäblige und es war gut so.
     „Keine Heldentaten.“, ermahnte sie Rashek ein letztes Mal. „Sobald ich das Zeichen gebe, gibt es nur noch den Weg nach Hause.“
     Der Opal in seiner Hand erlosch. „Auf, Krieger des Waldvolks! Lasst unsere Feinde die Nacht fürchten lernen!“

„Effendi! Effendi!“
     Beim zweiten Anruf seines Titels saß der Befehlshaber bereits hellwach in seinem Bett. Eine Störung mitten in der Nacht konnte nur Ärger verheißen. „Nun sprich schon.“, knurrte er den Soldaten an, der am Eingang seines Zeltes aufgeregte Unruhe verbreitete.
     „Ein Angriff auf das Artefakt des Hofzauberers, Herr. Die zehn Wachen sind tot, doch wir konnten die Angreifer vertreiben. Es ging aber viel zu leicht - ich bin beunruhigt!“
     „Schäden?“ Es graute ihm vor der Vorstellung, er würde dem König den Verlust eines Kristalls zu verantworten haben.
     Der Soldat wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als ein seltsam heulender Laut einsetzte. Der Effendi sprang auf, warf sich ein Gewand über die Schultern und eilte hinaus. Das Heulen wurde immer höher, während er sich dem Kristall näherte und dann begann etwas absonderlich schönes - der Kristall begann zu singen.
     Das hohe Heulen wurde reiner, klang in Harmonie mit dem Kristall und dieser sang immer klarer, immer Lauter. Es war ein vollendet schöner Ton, voll Freude und Reinheit, wie es der Effendi noch nie zuvor aus der Kehle einer Frau oder dem Bauch eines Instruments gehört hatte. Er konnte die Ohren davor nicht verschließen, obwohl die Stärke des Klanges schmerzte.
     Und dann zerbarst der gewaltige Kristall vor den Augen des entsetzten, entzückten Generals und der gewaltig schöne Ton mit ihm.
     Erst nach einiger Zeit wurde ihm bewusst, dass der Klang nicht nur in seinen Ohren nachhallte, sondern immer noch an sie drang. Seine Augen entdeckten einen Stein, vermutlich von viel Wasser rund geschliffen, von dem der sterbende Ton ausging. Teufelswerk der Dämonen!, dachte er zornig. Er versuchte das Geheimnis des unscheinbaren Unglücksbringers mit bohrenden Blicken zu ergründen, während er nachdachte, wie er das dem König, viel schlimmer noch - dem Hofzauberer des Königs selbst - erklären sollte.
     Die Toten ganz in seiner Nähe sah er nicht.

„Beim Schöpfer.“, hauchte Firr entsetzt. „Wie sollen wir gegen solche Übermacht bestehen?“
     Die Ratsmitglieder verfolgten ernst und besorgt den Flug des magischen Auges, welches seit geraumer Zeit von Süden kommend die Truppen des Königs überflog. Stumm zählte jeder von ihnen die Fünfhundertschaften, die in ordentlich getrennten Lagern rastend leicht zu erkennen waren. Der nächtliche Angriff hatte die Feldherren einen Tag lang aufgehalten, doch die Freude darüber erstickte in den Herzen der MaKri unter der Last dessen, was sie sahen.
     Keiner wagte es laut auszusprechen, als die Zahl in ihren Köpfen die Hundert überschritt und so ihre Befürchtungen noch übertraf. Eigentlich war sie auch bedeutungslos. Was sagte schon das Wort „Fünfzigtausend“, wenn man die schiere Masse aus Mensch und Stahl mit eigenen Augen erblickte?
     Plötzlich hoben sich hoffnungsvoll alle Köpfe, als das Auge nur noch das satte, grüne Gras der Savanne zeigte. „Einhundertund...“, brachte Jirr gerade noch hervor, bevor weitere Soldaten erschienen.
     „Ein Kristall hat überdauert.“, brummte Tonri.
     „Haben wir eine Gruppe verloren oder waren es nicht genug?“, grübelte Mahi laut.
     „Ich habe genug Kreischer für fünfzig Kristalle erschaffen.“, warf Talaan ein, während er in seinem Kopf weiterzählte und die drei Fünfhundertschaften hinzunahm, die in der Lücke wohl verborgen blieben. „Ich hoffte allerdings, dass es viel zu viele sein würden.“
     „Lasst das Raten.“, beendete der Häuptling die Diskussion mit knappen Worten. „Wenn unsere Männer und Frauen heimgekehrt sind, werden wir es wissen.“
     „Der König hat den besten Zeitpunkt für seinen Angriff gewählt.“, lenkte Mani das Gespräch in eine vollkommen andere Richtung. Die ehemalige Effenda des Königs wirkte von allen am wenigsten beeindruckt von der Armee dort draußen. „Die Savanne ist nach der Regenzeit bei weitem nicht so lebensfeindlich wie in den restlichen Monaten des Jahres. Geringe Hitze, reichlich Nahrung und vor allem Wasser. Ich hätte ahnen sollen, dass er jetzt angreift.“ Ihr Blick driftete davon, als ihr etwas in den Sinn kam. „Das Wasser...“ Sie sah Shaila zunächst abschätzend, dann zunehmend hoffnungsvoll an. „Ihr versteht euch doch auf Kräuter. Giftige wie heilende, nicht wahr, ehrwürdige Shaila?“
     Das Gesicht der Kräuterfrau verzog sich zu einem ablehnenden Ausdruck. „Ich werde mein Wissen NIEMALS missbrauchen, um auch nur einen Soldaten, sei er Mensch oder nicht, zu vergiften, Mani. Dieser Gedanke allein ist unehrenhaft.“
     „Aber versteht ihr nicht?“ Mani war in heller Aufregung. „Mit einem langsam wirkenden Gift ließe sich ein nicht auszudenkender Teil dieser Armee aus dem Weg räumen.“
     „NEIN!“ Shaila war nun wahrhaftig zornig.
     Der Effenda ging es genauso. „Es könnte euer Sieg sein! Euer Überleben!“, rief sie inbrünstig.
     „NEIN!“
     „Warum nicht, verdammt?!“
     Mani wie Shaila waren halb von ihrem Kissen aufgestanden, als Firr mit samtigweicher Stimme sagte: „Weil wir MaKri sind, Mani.“
     Die Effenda stutzte, seufzte und setzte sich wieder. „Verzeiht, ich habe vergessen, wie anders ihr seid.“, sagte sie beschämt. Talaan staunte im Stillen, welchen Einfluss Firr auf seinen Schützling hatte. Offenbar hatte er sich viel Zeit genommen, ihr von den MaKri zu erzählen.
     Doch Mani ließ sich nicht so einfach abweisen, selbst wenn ihr die Enttäuschung deutlich anzusehen war. „Lieber sterbt ihr?“
     Shaila glättete einige der Zornesfalten auf ihrer Stirn. „Wenn wir unsere Feinde feige vergiften sterben wir auch.“
     Mani nickte niedergeschlagen. „Auf eine andere Weise.“ Traurig schüttelte sie den Kopf. „Ich kann euch sogar verstehen...“
     Abwägend wiegte Shaila ihren Kopf und vertrieb dann die letzten ihrer Falten.
     „Wer will die Zahl wissen?“, fragte Tonri finster. Das magische Augen überflog jetzt nur verlassene Savanne und zeigte auch nach einigem Warten nichts als Gras.
     Es wunderte niemanden, dass keiner antwortete.

Und der Krieg ging weiter. Jenseits der Blicke der meisten MaKri ging Angriffswelle um Angriffswelle auf dem Feind nieder, säten Angst und Tod. Mani hatte eine wirkungsvolle Strategie entwickelt, die Menschen zu schwächen. Sie nannte es ‚den Schlangen die Köpfe abschlagen’. Viele Effendis starben, bevor die restlichen lernten, sich nicht mehr durch prächtige Zelte und glanzvolle Rüstungen von den gemeinen Soldaten abzuheben. Der Vormarsch des Königs geriet in Unordnung, geriet ins Stocken.
     Dennoch machte sich unter den daheimgebliebenen keine Begeisterung über die Siege breit. Viel zu deutlich sprachen die Gesichter der zurückkehrenden Krieger vom Tod. Viel zu deutlich machten ihre Worte klar, dass es der Menschen dort draußen in der Savanne einfach zu viele gab, um sie aufzuhalten. Ihr Kampfeswille war ungebrochen, doch sie waren keine Narren, sich ihrer Mückenstiche gegen den stahlbewehrten Riesen zu sehr zu freuen.
     Immer mehr zauberkundige MaKri trafen in den Siedlungen am Rande des Dschungels ein und machten durch ihre Zahl immer deutlicher, dass Krieg herrschte. Einige von ihnen wurden dem Schutz der Grenze zugeteilt, andere eilten jenen zur Seite, welche die nächtlichen Angriffe führten.
     Talaan bekam von all dem nicht viel mit. Er arbeitete zusammen mit Sorral verbissen an der Vereinigung der Geistessymbole. Am neunten Tag gelang ihnen das Wunder.

Unzählige MaKri hatten sich auf der großen Lichtung am Rande der Großen Stadt versammelt. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Neuigkeit verbreitet, dass der erwählte Maigan und einige andere Zauberwirker eine neue Waffe gegen den Feind erdacht hätten und an diesem Nachmittag zum ersten Male erproben wollten. Es schien beinahe, als wären es sogar mehr als bei der Heimkehr der Friedensgesandten vor der Regenzeit, die nun freudig lärmend auf ein Spektakel warteten. Sehnsüchtig dachte Talaan an jene schöne Zeit.
     „Könnt ihr beginnen?“, fragte Firr zum wiederholten Male. Er ließ seinen Blick über die Magier schweifen, welche die Vereinigung bewirken sollten.
     Talaan musterte ihn schmunzelnd. „Wenn ich Dich nicht besser kennen würde, Häuptling, würde ich denken, Du wärest aufgeregt wie ein Kind an seinem Geburtstag.“
     Firr zuckte murrend mit seinen Ohren. „Dass Du auch nie ernst bleiben kannst.“
     Zufrieden, dass er ihn ertappt hatte, erwiderte Talaan gelassen: „Das letzte, was wir verlieren dürfen ist unser Humor, nicht wahr?“ Als Firr erneut mit den Ohren zuckte, hob er beschwichtigend die Hände. „Es ist alles bereit.“
     Der Häuptling trat in Richtung der Wartenden und gebot mit einem Handzeichen Ruhe. Der Lärm wurde zum Raunen, verebbte schnell zu vereinzeltem Zischeln und wich dann gespannter Stille. Jeder war begierig zu sehen, was nun geschah.
     „Freunde!“, rief Firr den MaKri entgegen. „Dies ist ein denkwürdiger Tag.“ Talaan beschlich das Gefühl, dass Firr lange an dieser Rede gefeilt hatte. Lange, bevor der Erfolg überhaupt feststand. „Ihr alle wisst inzwischen, welche Worte der erwählte Maigan Talaan vom Orakel empfing. Das Erwachen unseres Volkes war bisher nur ein Dämmern. So außerordentlich erstaunlich unsere magische Gabe auch ist, waren wir doch nur wie Kinder im Umgang mit ihr. Heute aber sollt ihr sehen, welch großartige Zukunft uns erwartet!“
     Heftiger Jubel schlug dem Redner entgegen. Annerkennend musste Talaan feststellen, dass selbst ihn die feurigen Worte des Häuptlings ergriffen. Firr wusste, was er tat.
     „Jene, die dem Feind bereits entgegen zogen, säten zu Recht Zweifel in unseren Herzen, ob wir in diesen Krieg bestehen können. Diese Zweifel sind nun vorbei!“ Firr wandte sich ernst den Zauberwirkern zu. „Maigan, Du hast das Wort.“
     Ebenso ernst verneigte sich Talaan vor dem Ältesten, setzte dann ein schelmisches Lächeln auf und sprach zu der Menge. „Nun, da der ehrwürdige Firr seine aufrüttelnden Worte gesprochen hat, finden sich doch bestimmt Freiwillige, die an einem kleinen Wettstreit teilnehmen wollen.“ Unzählige Hände schossen empor und Talaan wählte zwölf von ihnen aus, die stolz nach Vorne traten.
     „Sehr schön.“ Talaan deutete in Richtung einiger gewaltiger Holzblöcke, die einst Teil eines Riesenbaumes waren. „Wie ihr seht, haben wir dort zwei Reihen aufgestellt, fein säuberlich hintereinander. Die rechte gehört euch, die linke uns.“ Mit einer Geste umfasste er sich, Sorral und vier weitere Magier. „Welche Gruppe zuerst ihre sechs Stammscheiben zerteilt hat, gewinnt.“
     Eine junge Frau der Ausgewählten hob zögerlich die Hand. „Was hat es mit dem großen Fels auf sich?“ Sie deutete auf den Gesteinsbrocken, der hinter Talaans Reihe stand.
     „Das werdet ihr schon noch sehen. Seid ihr bereit?“ Die Herausgeforderten nickten.
     „Dann los!“
     Magische Auren flammten auf, als die Freiwilligen ihre Kampfzauber beschworen. Feuerbälle und Kugelblitze schlugen auf den ersten Block ein, sprengten große Stücken aus dem Holz. Weitere folgten und fraßen sich einem Hagel gleich immer tiefer durch den Stamm, bis er schließlich krachend zerbarst.
     Die Zwölf schauten zu der Reihe der Herausforderer und hielten verwundert inne. Nicht ein Kratzer war zu sehen und die Sechs beobachteten sie neugierig. Sorral nickte ihnen aufmunternd zu. „Nur weiter.“
     Ein wenig irritiert setzten sie ihre Zerstörungswerk fort, ließen ihren Kräften freien Lauf und spalteten so
nach und nach Block zwei und drei. Talaans Gruppe plauderten angeregt, diskutierten Feinheiten in den Beschwörungstechniken der Herausgeforderten und riefen ihnen Ratschläge zu, sehr zur Erheiterung der versammelten Menge.
     Als der vierte Holzblock unter den Angriffen der Zwölf zu ächzen begann, nickten sich die Herausforderer zu und stellten sich nebeneinander auf. Zum Erstaunen aller MaKri entstand ein Geistessymbol in der Luft vor ihnen, größer und kraftvoller, als es je zu vor einer gesehen hatte. Die Magier um Talaan fügten jeder ihren Teil dazu, stellte Verbindungen zum Stück des Nachbarn her, füllten all ihre Kraft hinein. Es kostete einiges an Zeit, da die Kräfte schwerer zu kontrollieren waren, doch mit dem Bersten des vierten Stammes war es vollendet.
     Das Symbol gleißte, ein Kugelblitz wuchs in seinem Innern, verschlang mit seinem eigenen Gleißen die Linien des Zeichens, als er immer mehr wuchs. Ohrenbetäubendes Knistern erfüllte die Luft, als er auf die Holzreihe der Herausforderer zuraste, mühelos durch alle Blöcke brach und donnernd den Felsbrocken in tausend Stücke zersplittern lies.
     Ein Augenblick absoluter Stille setzte ein. Sogar Talaan war beeindruckt und bemerkte den begeisterten Jubel, der kurz später ausbrach, erst nach einiger Zeit. Selbst die Verlierer dieses Wettkampfes strahlten und überhäuften Talaans Zauberer mit wissbegierigen Fragen.
     Firr versuchte vergeblich mehrmals, Ruhe für seine abschließenden Worte zu erlangen und gab es dann freudig lächelnd auf. Dies war ein guter Tag für die MaKri.

Das Zwielicht war gerade der Nacht gewichen, als Kirra am nächsten Abend ihre Hütte betrat und diese verlassen vorfand. Ein wenig traurig zog sie ihr weißes Gewandt aus und warf es achtlos beiseite. Sie hatten sich doch vorgenommen, einen schönen Abend miteinander zu teilen, wie hatte er das vergessen können? Vielleicht war ja etwas geschehen, das Talaans Anwesenheit im Ältestenrat verlangte. Vielleicht kam er ja bald zurück?
     Sie ging zu jenem Teil der Hütte, in dem sie ihre Mahlzeiten aßen und stutzte. Es fehlten einige Teller, Schalen und Becher, auch der Tonkrug mit dem erjagtem Fleisch war fort. Schmunzelnd erkannte sie, dass Talaan etwas vorhatte.
     Das Gefühl, jemand würde sie beobachten, lies sie herumschnellen, doch niemand war zu sehen. Doch inzwischen richteten sich sogar ihre Nackenhaare auf, eine untrügliche Warnung ihres Instinkts, dass jemand ganz nah sein musste. Sie schaute sich erneut um, das Gefühl blieb aber an ihrem Hinterkopf haften wie Honig. Knurrend ließ sie sich urplötzlich zu Boden fallen und sah nun über sich ein magisches Auge schweben, welches näher kam und ein Fragezeichen in die Luft malte.
     Kirra musste schmunzeln. „Talaan?“ Die Sphäre wippte mehrmals auf und ab. „Schämst Du Dich nicht, mich so zu necken?“ Das Auge schwang dreimal hin und her. „Wo bist du?“ Langsam schwebte das magische Auge in Richtung Tür davon und Kirra eilte sich, ihm zu folgen. Kaum dass sie draußen war, stieg es nach oben und verschwand über dem Strohdach der Hütte. Nun wusste sie, wo Talaan zu finden war.
     Ohne Hast erklomm sie den Stamm des Riesenbaums und verscheuchte immer wieder lachend das Auge, welches verspielt um sie herumflog. Sie brachte die letzten großen Äste hinter sich, steckte den Kopf durch das Blätterdach und hielt staunend inne.
     Unzählige Kerzen trieben gemächlich in der Luft und warfen ihr goldenes, mildes Licht auf eine reich gedeckte Tafel, die ebenso schwerelos in der Luft über einem Ast schwebte. Talaan stand außerhalb des Lichtkreises und deutete einladend auf das Essen. „Schön, dass Du mich gefunden hast. Mach es Dir gemütlich, Geliebte.“
     Von eine warmen Freude erfüllt, tat sie, wie ihr geheißen und blickte sich lächelnd um. „Wie lange ist es her...“
     „...dass wir hier oben waren?“ Talaan streichelte ihr sanft die Wange, während er ihr kühlen Mangosaft eingoss. „Viel zu lange, denke ich. Warum vergessen wir immer die kleinen Freuden so leicht, die uns geschenkt werden?“
     Kirra stahl ihm einen Kuss, bevor sie antwortete. „Du hattest viel zu tun. Und da war noch die Rish-Kawjular.“
     Er machte es sich nun ebenfalls am Tisch gemütlich und reichte ihr ein Schüsselchen gefüllt mit dampfenden, unglaublich lecker gewürzt riechendem Fleisch. „Es gibt immer Gründe, die einen abhalten, nicht wahr?“
     „Dabei ist es so schön hier.“, seufzte Kirra wonnig und sog die milde Nachtluft tief ein. „Ich erinnere mich gerne an die Nacht, in der ich Dich hier oben zum ersten mal aufgespürt habe.“
     „Und ich denke, Du bist froh, entgegen Deiner Androhung Girrad nicht geheiratet zu haben.“ Talaan schenkte ihr ein derart wunderbar verliebtes Lächeln, dass sie lachen musste.
     „Heilfroh. Mein Mann.“
     Eine Weile aßen sie schweigend, genossen die Gegenwart des Anderen, die Stille, den Frieden. Die hauchdünne Mondsichel bot den Sternen die Gelegenheit, in aller Pracht zu funkeln während die Bäume in Dunkelheit liegend leise in der Briese dieser Nacht wisperten.
     „Ich hatte Sehnsucht nach diesem Ort.“, flüsterte Talaan behutsam, während er sich mit funkelnden Augen umsah. „Ich habe sie immer noch.“
     Kirra wusste sofort was er meinte, von welchem Ort er sprach. „Kannst Du selbst hier nicht finden, was Du suchst?“, fragte sie teilnahmsvoll.
     „Ich sehe all die Schönheit hier, erfreue mich an ihr, aber sie berührt dennoch nicht ganz und gar mein Herz, schenkt mir keinen tiefen Frieden. Etwas fehlt noch...“
     Kirra sah ihren Mann irritiert an. „Du siehst das finden Deines Friedens einfach nur als eine Aufgabe an, die es Schritt für Schritt zu lösen gilt?“
     Lächelnd erwiderte Talaan ihren Blick. „So ist es nicht... Aber ich spüre einfach mit absoluter Gewissheit, dass noch etwas fehlt. So, wie ich mich fühle, jetzt in diesem wundervollen Augenblick, da ich die Schönheit Deiner Augen und des Waldes schaue, bin ich mir so sicher, alles erreicht, erfahren, gefunden zu haben, was mir auch im Jungen Wald eigen war.“ Er seufzte tief und sah wehmütig zu den Sternen. „Doch es genügt nicht mehr.“
     „Weil die Veränderung Dich berührt hat.“
     Talaan nickte stumm, ergriff ihre Hände und zauberte ein unbekümmertes Lächeln herbei, das so gar nicht zu dem eben Gesagten passen wollte. „Ich liebe dich, Kirra. Du gibst mir allen Halt, den ich heute Abend brauche, um glücklich zu sein. Lass uns die Nacht genießen.“
     Dann lass dich fallen, Geliebter., dachte sie froh. Und das tat er.

Das gewohnte Zwielicht kündete gerade erst vom Nahen des folgenden Tages, als kräftige Hände Talaan aus dem Schlaff schüttelten. Seine schlaftrunkenen Augen erblickte Tonri und für einen Augenblick fühlte er sich an jenen Morgen in Tullma zurückversetzt, an dem der Schamane ihm die Worte des Orakels überbrachte.
     „Was ist geschehen?“, murrte Talaan und versuchte die all zu kurze Nacht abzuschütteln.
     „Marten. Er kommt.“
     Jegliche Müdigkeit wurde weggefetzt.

Die Ältesten saßen um die Sichtsphäre des magischen Auges herum und betrachteten die in eine weiße Kapuzenrobe gehüllte Gestalt des Hexers, wie sie zügig, doch ohne Hast durch die Savanne schritt.
     „Ich habe ihn heute Nacht in meinen Träumen erblickt.“, berichtete der Schamane. „Es schien gerade so, als wollte er, dass ich ihn fände.“
     „Er will gesehen werden.“, folgerte Mahi nüchternen Tonfalls. „Sonst hätte er sich in Unsichtbarkeit gehüllt oder würde wenigstens unsere magischen Augen täuschen.“ Die anderen Ältesten nickten zustimmend.
     „Die Frage ist nur, was will er?“ Firr sah Talaan fragend an.
     „Er will mich.“, hauchte Talaan und rieb sich die Schläfen. Seine Gedanken hetzten einer Affenhorde gleich durcheinander, doch er drängte sie in klarere Bahnen. „Seine Botschaft ist klar: ‚Komm zu mir oder ich werde euch heimsuchen.’“
     „Bist du ihm gewachsen?“, fragte Shaila besorgt.
     Lange dachte er über diese Frage nach, obwohl sie ihm Tag für Tag in den Sinn gekommen war. „Ich glaube nicht. Marten würde mich nicht herausfordern, wenn er des Sieges nicht gewiss wäre.“ Er war mir stets überlegen. Immer drei Schritte voraus.
     Betroffenheit ergriff die Ältesten. „Dann warten wir hier auf ihn. Gemeinsam können wir ihn...“
     „Nein.“ Talaan schüttelte bestimmend den Kopf. „Ich bin sicher, dass Marten irgend eine Teufelei bereit hält, die alles nur noch schlimmer machen würde. Ich werde ihm entgegengehen.“
     „Maigan...“, hob Häuptling Firr zu weiterem Widerspruch an, doch Talaan schnitt ihm sofort das Wort ab. Zweifel, Angst und Zorn rangen in ihm. „Ich werde gehen. Morgen früh.“ Kirra... er würde sie nie wiedersehen, wenn er in dieser Welt starb. „Vernichtet mein Zauberbuch, wenn ich versage.“ Wenn er versagte, würden die MaKri fallen und Kirra mit ihm.
     „Du wirst es nicht mitnehmen?“
     „Marten erwartet, dass ich es als Waffe gegen ihn einsetzen werde. Er will, dass ich es ihm bringe. Vielleicht ist das seine Absicht.“
     Tonri sah Talaan prüfend in die Augen. „Mir gefällt nicht, was ich sehe, Talaan. Du erwartest zu sterben.“
     Stumm verflucht Talaan sein altes Ich, das die Sterblichkeit gewählt hatte. Was für ein romantischer Narr er doch war! Und noch während er das dachte, wusste er, dass es eine Lüge war. In dieser Welt sterblich zu sein, war die richtige Wahl gewesen. Um seiner Menschlichkeit willen.
     Ohne zu antworten, erhob sich Talaan und verließ den Rat.

Sorral fand Talaan am Ufer eines träge dahinfließenden Flusses, wie er vollkommen in sich versunken den Kampf mit den Rikashi übte. Klinge und Stab wirbelten, stoppten, stießen vor. Es dauerte eine ganze Weile, bis Talaan seinen Freund bemerkte und innehielt.
     „Du führst die Waffen eines TaKri?“ Sorral neigte anerkennend sein Haupt. „Das ist gut. Wie viele Geheimnisse verbirgst Du noch vor uns?“
     Talaan sah mit zusammengezogenen Brauen auf die eleganten Waffen in seinen Händen hinab. Würde er wieder kalten Stahl in seinem Herzen spüren, bevor er die Welt verließ? „Zehn Jahrhunderte voll, mein Freund.“ Nein, er musste überleben. Er musste.
     „Oh, da kann ich nicht mithalten.“, schmunzelte Sorral. „Ob man diese Klingen magisch aufladen kann?“
     Einen hauch weniger finster nickte Talaan. „Eine gute Idee. Ein leicht zu wirkender Zauber und dennoch effektiv. Warum bist du hier, Sorral?“
     Sorrals Lächeln wurde breiter. „Ich habe vielleicht gute Nachrichten für Dich. Wir haben einen Zauber entdeckt, der Dir morgen helfen kann. Einen vereinigten Zauber.“
     Talaans Herz machte einen freudigen Sprung, während ein entlegener Teil seines Verstandes sagte, dass er von Anfang an Vertrauen in sein Volk gehabt haben sollte. „Und weshalb ist das nur vielleicht eine gute Nachricht?“
     Sorral wirkte nun nicht mehr ganz so fröhlich, aber dennoch zuversichtlich. „Der Zauber kann dich genauso gut töten.“

„Wir sind bereit, Talaan.“, sagte Sorral schließlich wiederstrebend. Talaan konnte seine Besorgnis genauso deutlich sehen, wie die magischen Bande, die alle Zaubernden vereinte. „Du brauchst nur noch den Fokus zu schließen.“
     Der Fokus... Er war Teil eines jeden Zaubers und bündelte die Energien der Magie an jenem Punkt, an dem er wirken sollte. Kaum mehr als eine Handvoll Kurven. Nun gleißte jeder dieser Bögen in der Mitte des großen Marktplatzes der Großen Stadt und wartete auf den Kern, in den sich alle Macht entladen würde.
     Talaan trat in das Gebilde uns spürte die Energien, die bereits jetzt greifbar um ihn flossen. „Es wird gut gehen.“, redete er Sorral und sich gleichermaßen ein. Er wappnete sich, schloss die Augen und beschwor den Kern des Zaubers in seinem Innern.

aaaaAAAAAAHHHHH! Er brannte! Der Feuersturm tobte in seinem Innern, durchdrang jede Faser seines Körpers! Raste! WÜTETE! Die Flammen brannten heiß, heißer als das Feuer der Apokalypse, es war die wabernde, sengende Hitze im Herzen einer Sonne. Und es war gut! Die Kraft, die Magie, das Leben, das Sein von zehn MaKri brannte in seinen Adern, seinen Muskeln, seinem Herzen. Und es war kein verzehrendes Feuer, oh nein! Diese Flammen waren sein, waren er, nährten ihn, verstärkten alles in ihm, sein Zorn brannte lichterloh, seine Liebe zu Kirra war unerträglich süß, sein Mut wuchs zu den Riesenbäumen empor!
     „aaaaAAAAARRRRRRRRR!“, stieß er ein ohrenbetäubendes Brüllen in die Welt hinaus.
     „Hört auf, hört AUF!“, drang Kirras Stimme durch das Feuer in sein Bewusstsein.
     „Nein, es geht mir gut.“ Talaan schlug die Augen auf und erschrak vor der Lichtflut, die auf ihn eindrang. Jede Farbe schien neu geboren, kraftvoll und frisch, wie am ersten Tag.
     „Wie fühlst du dich, Geliebter?“ Talaan konnte ihre Besorgnis regelrecht spüren, ihren klammen Herzschlag fühlen.
     „Lebendig wie noch nie. Ich fühle mich, als strömte ein gewaltiger, reißender Fluss durch mich hindurch und ich bin dieser Fluss! Ich kann Täler bahnen, wenn ich es will.“
     Kirra ergriff seinen Kopf mit beiden Händen und sah ihm tief in die Augen. „Verlier’ dich nicht, Weltenwandler.“
     Wie ein Sturz in kaltes Wasser trafen ihn diese Worte und kühlten sein Temperament ein wenig ab. Der Gedanke, er hätte sich mit dieser Macht verändert, erschien ihn absurd und dennoch wusste er, das es stimmte. Er war zu klein für diese große Kraft, zu jung, einfach noch nicht bereit.
     Er wandte sich Sorral zu, der ihn mit furchtsamen Augen ansah. „Beim Schöpfer, Talaan, ich will dich nie wieder so sehen müssen. Gehe und verrichte dein Werk.“
     Mühsam seine Arroganz unterdrückend – sie erschienen ihm alle so unbedeutend! – nickte er. „Sobald Marten zu Asche verbrannt ist, beendet ihr den Zauber, egal was ich euch auch sagen mag. Versprecht mir das.“
     Sorral nickte stumm und blicke dann in Richtung Himmel. Er will, dass ich gehe. Und ich kann es ihm nicht einmal verübeln.
     „Lebt wohl.“ Mit diesen Worten sprang er dem Himmel entgegen, empor getragen von gewaltiger Kraft.
     Staunend blickte er zurück, sah winzig den großen Platz der Stadt und lachte fröhlich. Seine Existenz hatte noch so viel zu bieten und er wusste, dass dies nur ein Vorgeschmack war.
     Dieser Gedanke jagte ihm genug Angst ein, um wieder zu Verstand zu kommen. Er musste Marten töten, schnell, und dann wieder zum Kri-Sein zurückkehren. Spielend leicht konzentrierte er sich, brachte den Levitationszauber zum Gleißen und schoss auf Marten zu.

Lachend streckte Talaan dem Wind sein Gesicht entgegen, genoss wie er harsch durch sein Fell zauste. Ihm war nicht kalt, das Feuer in ihm wärmte ihn mehr als genug. Den Dschungel hatte er längst hinter sich gelassen und sah mit Genugtuung die Savanne unter sich entlang eilen. Er konnte jedes einzelne Wesen dort unten sehen, seinen Augen entging nichts. Von den grazilen Gazellen bis hin zu den winzigen Mäuschen und den Feuerameisen unter ihren Füßen.
     Als sein Blick auf Marten fiel, empfand er ihn als äußerst störend. Er war ein Fremdkörper im Gräsermeer. Ruckartig änderte Talaan seinen Flug, stürzte hinab und schlug hart aber kontrolliert vor Marten auf dem Boden auf. Nicht ohne Genugtuung sah er die ehrliche Überraschung im Gesicht seines Feindes, bevor seine Klinge in Martens Herz stieß. Geradezu fasziniert bemerkte er die feinen Nuancen in Martens Gesichtsausdruck, der von Überraschung über kurzes Aufflackern von Angst in Zorn umschlug.
     „Dafür wirst Du büßen.“, sagte Marten eiskalten Zorns und starb.
     Mit einer geschulten Bewegung wippte Talaan das Blut von seinem Rikashi, schob es zurück in den Gürtel und setzte sich nieder, um zu warten. Er war neugierig. Wie lange würde Marten tot bleiben?
     Die Antwort kam ernüchternd schnell. Kaum sechzig Herzschläge später erwachte er mit einem keuchendem Einatmen. Er betastete die verheilte Wunde in seinem Herzen und musterte Talaan mit spöttischem Lächeln. „Du hast mich nicht vernichtet? Diesen Fehler hättest du nicht machen sollen, Elfenfreund.“
     „Hör auf, mich so zu nennen, Marten. Es ist alt.“, erwiderte Talaan gelassen. Er fand es äußerst interessant, wie die Lebensfäden des Hexers ohne sichtbaren Übergang vom Nichts wieder Martens Körper erfüllten.
     „Wie Du willst, Du Narr.“ Marten zog seine Klinge. „Genug der Worte. Ich bin nicht gekommen, um zu reden.“
     Talaan erhob sich seelenruhig, deutete eine Verneigung vor seinem Feind an und ließ die Rikashi nicht weniger spöttisch lächelnd in seine Hände gleiten. „Du kannst es nicht sehen, oder?“ Die Aura meiner Macht. Dann würde er eben durch Leid erfahren müssen, welche Kräfte in Talaan wüteten. Wenn ein Wesen den Tod verdient hatte, dann dieser abscheuliche Mann.
     Als Martens Klinge stümperhaft langsam vorstieß, dachte Talaan zunächst, sein Gegner wolle ihn nur reizen, so mühelos gelang es ihm, dem Angriff auszuweichen. Doch als Angriff auf Angriff folgten, einer aufs andere ins Leere gingen, dämmerte Talaan, dass Marten voller Ernst kämpfte. Lauthals lachend hieb Talaan mit dem Stab nach der Schwerthand des Hexers, brach ihm zwei Mittelhandknochen und beendete sein Leben mit einem weiteren Stich ins Herz.
     „Aber ich kam, weil ich reden will.“, sagte er dem Sterbenden ins Gesicht und setzte sich nieder um zu warten. Nach kurzem Nachdenken, nahm er Martens Schwert, betrachtete die zweifellos vergiftete, schwarze Klinge und warf sie dann angeekelt fort. Weit fort.
     Siebzig Herzschläge. Fünfundsiebzig. Die leuchtenden Lebensfäden begannen Marten erneut zu durchziehen, obwohl ‚beginnen’ nicht das Richtige zum Ausdruck brachte. Talaan erinnerte sich, dieses Gefühl bereits einmal gehabt zu haben... Beim Orakel. Der Tee. Das war sehr interessant.
     Marten erhob sich aus dem Gras, machte ein greifende Geste in die Luft und sein Schwert erschien in seiner Hand. „Du musst noch viel lernen, Weltenwandler.“, knurrte Marten. „Du glaubst doch nicht, dass ich es Dir so einfach machen werde, nicht wahr?“ Seine magische Aura flammte auf, hässlich klingende Silben verließen seinen Mund. Talaan wappnete sich mit einem magischen Schild, doch Marten griff nicht an. Vielmehr schien es Talaan, als würde er die Welt um sich herum auseinanderziehen. Der Wind blies zunehmend heftiger, das Gras flatterte hektisch im Wind.
     Erst als Marten mit einem Male erstaunlich schnell angriff und Talaan den Hieb mit Mühe parierte, erkannte Talaan, was geschehen war. „Du hast mich verlangsamt!“
     Der Hexer lächelte arrogant. „Nein. Ich habe die Zeit um Dich herum beschleunigt.“ Martens Klinge sauste nieder und der Klingentanz begann. Der Hexer griff in fließenden Bewegungen an, aus einem Hieb wurde eine gedrehte Abwehr, die verwandelte sich in einen Aufwärtsschlag. Talaan ließ ihn gewähren. Innerhalb kürzester Zeit erkannte er Martens Schwäche: Das lange Schwert war auf nahe Distanz nur schlecht von Nutzen. Talaan griff an, wehrte Martens wütende Angriffe ab, konterte behände und trieb seinen Gegner mit raschen Schlagfolgen in die Defensive, tauchte immer tiefer in Martens Abwehr, durchbrach sie, tötete.
     Erstaunt sah Talaan die Sonne ihren Weg über den Himmel ziehen. Martens Zauber überdauerte selbst dessen Tod! Rasch entriss er das Schwert den Händen des Toten, warf es in die Luft und schleuderte einen Kugelblitz hinterher. Zurück blieb ein deformiertes Stück qualmender Stahl, der gerade auf dem Boden aufschlug, als Marten erwachte.
     „Ich hasse das!“, schrie Marten wütend, beschwor sein Schwert und verbrannte sich die Hand an dem glühenden Metall. „Du bist gewachsen Weltenwandler. Deine Macht ist bemerkenswert.“ Lachend heilte er die Brandwunde. „Aber was nutzt Dir Macht, wenn Du nicht verstehst, sie richtig einzusetzen? Du vermagst mich offenbar nicht zu töten, sonst hättest Du es bereits getan.“
     Er zog sein Zauberbuch hervor, presste es gegen seine Brust und beschwor einen Zauber. Das Buch versank in Martens Körper und seine magische Aura brannte nun lichterloh.
     „Ich will Dich nicht töten, Marten.“, erwiderte Talaan.
     „Nicht?“ Marten mimte Erstaunen. „Ich Dich schon.“ Feuer schoss aus seinen Fingerspitzen, rasten auf Talaan zu und löste sich eine Armlänge vor ihm einfach auf. Das Symbol der Ruhe leuchtete fröhlich in Talaans Geist und raubte dem Feuer jegliche Zerstörungskraft.
     Talaan beschwor eine Kraftkugel, klein, gleißend vor wütender Energie und ließ sie auf Marten los. Sie prallte auf dessen Abwehrzauber und schleuderte den Hexer viele Schritt weit durch die Luft. Der beschwor einen Angriff, doch ein Kugelblitz Talaans durchschlug seinen Brustkorb und hinterließ ein gewaltiges Loch.
     Talaan wartete erneut. Diesmal eine geraume Weile, die Schatten wurden um einiges länger, bis Marten zum Leben erwachte. Das Loch in seinem Körper hörte plötzlich auf zu existieren. Ja, es bestand darauf, nie existiert zu haben! Marten wirkte kein wenig mitgenommen, als er aufstand.
     „Wenn Du mich nicht töten willst, was willst Du dann?“ Mürrisch musterte er Talaan, während er wie ein lauerndes Raubtier um ihn herumging. „Mir Dein Zauberbuch bringen?“
     Talaan schüttelte den Kopf. „Es ist nicht hier. Ich will verhandeln.“
     Marten hielt inne. Lachte kurz, verstummte aber rasch wieder. „Verhandeln? Warum sollte ich verhandeln wollen?“ Er riss seine Hände mit befehlenden Worten empor und schleuderte Talaan jene summkreischende, dunkle Energie entgegen, die er nur zu gut kannte. Sie riss an seinem Schild, tastete, wütete. Zornig ließ Talaan sein Schild fahren, fing den Zauber mit seiner Hand ab und schritt auf Marten zu. Er konnte nur ahnen, was geschah, wenn Marten von seinem eigenen Zauber getroffen würde, aber zum ersten Male sah er Furcht in den Augen seines Feindes. Je näher Talaan Marten kam, desto schwerer wurde es, die Magie zurückzudrängen, zum Schluss wurde es unerträglich schwer. Talaan schrie Marten all seinen gerechten Zorn entgegen und drückte die schwarze Energie in das Gesicht seines Gegners. Kurz bevor sie dessen Haut berührte, verschwand der Zauber.
     „Verhandeln.“, befahl Talaan gepresst. „Jetzt.“ Dann stieß er Marten von sich.
     „Es gibt nichts zu verhandeln, mein Kätzchen.“, sagte Marten nüchtern.
     „Ihr könnt diesen Krieg nicht gewinnen. Die MaKri sind erwacht.“
     „Denkst Du, nur weil euer erster Schlag weh tat, zittern wir?“ Marten schüttelte resigniert den Kopf. „Ich gebe es auf. Du begreifst einfach nicht, was euch bevorsteht.“ Er ballte seine Hände zu Fäusten, presste sie gegen seine Brust und der Wind begann sich um ihn zu sammeln. „Wenn Du erst einmal tot bist, Talaan, werden die MaKri angstvoll ihrem eigenen Ende entgegensehen. Sie klammern sich an Dich.“ Der Wind wuchs zu einem wirbelnden Sturm und riss bald nicht mehr nur Sand sondern gar Gesteinsbrocken mit sich. Talaans Blitzangriff wurde einfach beiseite gefegt. Dieser Sturm schien auch die Magie zu verwirbeln!
     Talaan neigte neugierig seinen Kopf schief und sah dem Feind gelassen in die Augen, als er bedrohlich näher kam. Erste kleine Steine trafen Talaan an Arm und Beinen, doch zersplitterten sie nahezu schmerzlos an seinen angespannten Muskeln. „Wen willst Du damit beeindrucken, Marten?“ Er riss seine Arme nach oben und Stalagmiten brachen unter Marten aus dem Boden empor, durchbohrten den schutzlosen Körper. Der Wirbelsturm starb zusammen mit Marten.
     Die Sonne versank hinter dem Horizont. Talaan schüttelte besorgt den Kopf. Wenn das so weiter ging, würde die Armee des Königs sie irgendwann mitten im Kampf überraschen und seinem Leben ein Ende bereiten. Er wandte sich der verrenkt in der Luft hängenden Leiche Martens zu. Es musste doch einen Weg geben, ihn endgültig zu töten!
     Gerade, als er sich fragte, wie Martens Körper mit den ihn durchdringenden Steinnadeln fertig werden würde geschah es. Jene Stalagmiten, die ihn getötet hatten, hörten auf zu existieren. Die schrecklichen Wunden verschwanden mit ihnen. Wieder war es, als hätte sie es nie gegeben.
     Allmählich verstand es Talaan. Marten war nie gestorben. Er...
     „Begreifst du es langsam, ja?“, spottete der Hexer. „Du kannst mich nicht töten. Mein Wille, in dieser Welt zu weilen ist stärker als Deiner, mich zu töten.“
     „Dann werde ich ihn brechen!“, schrie Talaan seinem Feind entgegen und konzentrierte sich auf die Macht in ihm. Er ballte sie noch mehr zusammen, bis sie wütender als je zuvor in ihm brannte. „ArrrRRR!“
     Talaan schnellte nach vorn, eine geballte Faust traf Martens Brust, trieb ihm alle Luft aus den Lungen. „Versuch dich zu wehren, mein Freund.“, spottete Talaan. Ein wahrer Hagel aus Tritten und Schlägen prasselte auf Marten ein, trieb ihn zurück, brach Knochen, schickte ihn zu Boden. Als der Hexer wehrlos, aus vielen Wunden blutend am Boden lag, stieß ihm Talaan seine magisch aufgeladenen Krallen in die Schultern, jagte gleißende Energien durch die Venen des Feindes und verbrannte ihn so von innen.
     Schwer atmend ließ er von dem Sterbenden ab. Angewidert wurde ihm bewusst, was er eben getan hatte. Er hatte begonnen, Martens Unsterblichkeit zu nutzen, um ihn zu foltern! Das musste ein Ende haben! Feuerbälle schossen aus seinen Händen, hüllten die Leiche des Hexers ein und verbrannten sie binnen kurzer Zeit zu Asche, die im steten Wind der Savanne verweht wurde.
     Der Mond beschrieb einen Bogen über das schwarze Himmelszelt voll dahineilender Sterne. Und Marten blieb tot. Doch Talaan wusste, dass es nicht das Ende war. Der Zeitenzauber existierte nach wie vor. Als der Morgen dämmerte wurde der Tod des dunklen Weltenwandlers ungeschehen. Die kalte Asche, die es nie gegeben hatte wich dem lebenden, warmen Körper Martens.
     „Du Narr!“, stieß der hervor und funkelte Talaan wütend an. „Es geht nicht um meinen Willen. Es geht um den Willen Martens. Des Martens, der...“
     „...Du einst warst.“, beendete Talaan schwach seinen Satz.
     Marten hob erstaunt die Augenbrauen. „Sieh an, sieh an. Du hast es ja doch verstanden!“ Er klopfte sich imaginären Staub aus seiner weißen Kutte. „Wir können also dieses Spiel bis zum Ende der Zeit treiben und es wird sich nichts ändern. Diese Schlacht ist bereits entschieden.“
     „Du kannst nicht sterben, weil Dein altes Ich Dich nicht sterben lassen will.“, erkannte Talaan den Schluss der furchtbaren Wahrheit.
     Marten lachte vergnügt. „Praktisch, nicht wahr. Nichts kann mich töten, weil es von mir nicht vorgesehen ist zu sterben. Und Dein altes Ich, wie Du es so schön nennst, kann sich diese Welt auch nicht ohne mich vorstellen.“ Marten wandte sich irgendwie vom Hier ab und sah an einen Ort, der Talaans Augen verborgen blieb. [Ich hingegen sehe Dich wohl, Marten!] „Du bist schwach, Weltenwandler.“
     [Dein Tod ist schon besiegelt.]
     „Mein Tod? Mein Wille ist stärker, du Narr!“, lachte Marten seinen Widersacher aus.
     [Noch ist es so, Marten. Noch.]
     Verwirrte musste Talaan mit ansehen, wie sich Marten wieder dem Hier zuwandte und ein wenig nachdenklich dreinschaute. Er hatte Marten mit jemandem reden hören, die Stimme des Andern jedoch nicht vernommen.
     „Du kannst also nicht sterben.“
     Marten nickte gelangweilt.
     „Dann lass mich etwas anderes versuchen!“ Talaan formte den Zauber zum Tor der Niederen, stieß seine Krallen in das Gewebe der Realität und riss es mühelos auf. Dahinter kam die krankhaft pulsierende Dunkelheit der Niederwelt zum Vorschein.
     Marten beäugte den undefinierbar großen Spalt mit einer Mischung aus Furcht und perverser Neugier. „Was hast Du vor?!“ Dunkelheit begann aus dem Riss zu fließen, Eile war geboten! Talaan packte Marten mit dem Telekinesezauber und schleuderte ihn nach dem dunklen Spalt. Martens magisch flammender Körper riss den herauskriechenden Dämon mit sich und verschwand mit einem entsetzten Schrei in der Niederwelt. Rasch versiegelte Talaan das Tor.
     Lauthalses Lachen entkam seiner Kehle, als er bemerkte, dass die Zeit zu ihrem alten Lauf zurückgekehrt war. Marten war fort! Und wie einfach es gewesen war, das Tor zu öffnen! Diese Kraft in ihm war unglaublich.
     Immer noch lachend wandte sich Talaan dem magischen Auge zu, das die ganze Zeit über den Kampf gewacht hatte. „Sieg! Sieg, meine Freunde! Jetzt werde ich diese Armee einebnen gehen!“
     Mit einem gewaltigen Satz sprang er dem Himmel entgegen, als ihn die berauschende Kraft mit einem Schlag verließ und er hart auf den Boden prallte. Diese Narren! Ich hätte diesen Krieg beenden können! Dann wurde es schwarz um ihn.

„Du hättest sterben können, Talaan.“, drang Kirras Stimme in sein Bewusstsein. Er fühlte sich an jenen Tag zurückversetzt, an dem ihn die Schlange gebissen hatte. Genauso schwach hatte er sich damals gefühlt. Dem Tode sehr nah.
     Mühsam schlug er seine Augen auf und sah in das besorgte Gesicht seiner geliebten Frau. Das Zwielicht einer Dämmerung drang durch die Fenster in die nur spärlich mit Fackeln erhellte Hütte. Zurück daheim., dachte er wohlig.
     „Wie fühlst Du Dich?“, fragte sie mit sorgevoller Stimme.
     Er horchte eine Weile in sich hinein. Diese endlos scheinende Kraft war fort. Mit ihr war auch der fiebrige Wahn der Macht verschwunden. Eigentlich sollte es ihm jetzt so vorkommen, als hätte sein Leben hier keinen Sinn mehr, nun da er gekostet hatte, was ihn in zukünftigen Leben erwarten mochte. Doch viel deutlicher als dieser abstrakte Gedanke war ein überraschend starkes Gefühl. Er war wieder er selbst, mit jeder Faser seines Körpers!
     „Wie ein Sterblicher, Kirra. Schwach. Klein. Unbedeutend.“ Mühsam brachte er ein Schmunzeln zustande. „Es ist ein unglaublich gutes Gefühl. Friedlich.“
     Kirra drückte ihn fest, küsste ihn überschwänglich und sah ihm unsagbar erleichtert in die Augen. Doch schon bald befiel ein Schatten ihren Blick und sie wurde wieder ernst. „Du warst viel länger dieser Macht ausgesetzt, als es gut für Dich war. Eine Stunde länger und Du wärst gestorben und hättest alle, die mit Dir verbunden waren mit in den Tod gerissen.“
     Schwach nickte Talaan. „Ich fühle mich auch unendlich erschöpft. Ich will mich ausruhen.“
     „Ich werde Dir mit einem kleinen Zauber auf die Beine helfen.“, bot ihm Kirra an.
     Nach einem herzhaften Gähnen lehnte Talaan dankend ab. „Ich habe genug von Magie. Ich will richtig schlafen. Zwei Tage oder mehr.“
     „Dafür ist keine Zeit.“, entgegnete Kirra finster. „Es ist etwas Schlimmes geschehen, während Du weg warst.“
     „Die Hexer des Feindes waren hier.“, begann Tonri zu berichten. Erst jetzt wurde sich Talaan bewusst, dass er ein wenig abseits in der Hütte stand und ihn die ganze Zeit beobachtet hatte. „Als Du gerade Marten zu Asche verbranntest, erfüllten mit einem Male unheilvolle Stimmen die Luft. Grausame Worte, die wir nicht verstanden, durchdrangen Mark und Bein eines jeden, der sie hörte, und legten einen dunklen Schleier über den Wald, der uns nun allmählich alle Hoffnung raubt. Die MaKri verzweifeln, Talaan. Der Fluch des Feindes ist über uns gekommen.“
     Talaan wusch die Schwäche selbst aus seinem Körper und richtete sich auf. Kirra sah ihn schwermütig an, doch Tonri stand finster da wie eh und je, aber dennoch ungebeugt. „Alle MaKri?“
     „Nein. Ich und meine Geistesbrüder scheinen dagegen gefeit zu sein. Doch jeder andere, der sich dem westlichen Dschungel nährt wird davon befallen.“
     Schlechte Neuigkeiten. Dieser verdammte... „Ich hätte wissen müssen, das Marten noch etwas anderes vorhatte. Wenigstens ist er nun fort und wird uns nicht wieder behelligen. Was ist mit seinen Hexern?“
     „Sie haben mit dem Leben bezahlt. Doch das konnte den Fluch nicht brechen.“
     „Lasst es mich mit eigenen Augen sehen.“

Erst als er vor die Hütte ins Freie trat erkannte er, dass er sich geirrt hatte. Es war nicht die Stunde der Morgendämmerung, auch nicht die Stunde des abendlichen Zwielichts. Die Sonne stand hoch am Himmel, doch war sie kaum mehr als ein schwacher Schatten ihrer selbst. Auf den ersten Blick fühlte er sich an dichten Hochnebel erinnert, durch den die Sonne ihre Strahlen nur mühsam zu schicken vermochte. Doch dieser Nebel war anders. Dunkel, abscheulich. Das Licht, das seine Augen erreichte erschien ihm aschgrau, leblos und auf eine widerliche Weise... befleckt.
     Dann stutze er. „Ich kann ihre Wärme spüren, Kirra.“, erkannte er erstaunt. „Wie an jedem anderen Tag auch.“
     Traurig nickte Kirra. „Wenigstens das haben sie uns nicht nehmen können. Aber dieses Licht macht die Seele krank. Es sind erst zwei Tage vergangen und dennoch bin ich es leid, als wäre es ein Monat.“
     Vollkommen überrascht sah Talaan Kirra an. „War ich so lange bewusstlos?“
     Tonri trat an seine Seite. „Wir brauchten einen Tag, um zu Dir zu gelangen und einen, Dich heimzubringen. Wir haben sehnsüchtig auf Dein Erwachen gewartet, da Du unsere letzte Hoffnung bist, das da“, er deutete in Richtung Himmel, „zu enträtseln.“
     Talaan widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem waberndem Dunkel am Himmel zu. Irgendwie kam ihm das dort bekannt vor. Es brauchte eine Weile, bis er erkannte, an was. „Der Schlachtenmagier, den ich auf dem Weg zum Orakel gefangen nahm, trug etwas ähnliches in sich. Ein schwarzes Geschwür das aussah wie wabernde, schwarze Tinte in Wasser. Es war der Fluch, den Marten an sein Leben gebunden hatte.“ Etwas passte nicht. Die Wärme auf seinem Fell passte nicht ins Bild. Er konzentrierte sich auf seinen magischen Instinkt und musterte angespannt diesen seltsamen Hochnebel. Eine Ahnung regte sich in ihm. „Habt ihr Mani gefragt?“
     „Sie erkundet derzeit mit ihren Männern die Grenze des Dschungels.“, erwiderte Tonri. „Sie will einen Überblick über den Ort der großen Schlacht erlangen.“
     „Was hat Mani damit zu tun?“, fragte Kirra nach.
     Ohne auf die erstaunten Gesichter seiner Gefährten zu achten, beschwor er den Gestaltenwandel. Er lauschte mit geschlossenen Augen der Verwandlung, wie das Fell in ihn hineinkroch, ebenso wie die Krallen, Fangzähne und der Schwanz. Es fühlte sich beinahe an, als würde er in sich hineinschrumpfen, obwohl sein Körper ein wenig in die Höhe wuchs. Dann war es vorbei und er schlug die Augen auf. Und erblickte helles Sonnenlicht, das durch die Riesenbäume auf den großen Platz der Stadt fiel.
     Düster sagte er: „Die Hexerei des Feindes trifft unser Volk härter, als er es vermuten würde. Unsere magische Natur lässt uns den Fluch sehen. Wir müssen ertragen, dass er uns die Sonne raubt, wo Menschenaugen klaren Himmel erblicken. So wird uns eine weiter Hoffnung genommen.“
     „Mehr als eine, Talaan.“, brummte Tonri finster. „Die Geistesbrüder der Schamanen planten, die Träume der Soldaten heimzusuchen, sie die Nacht fürchten zu lehren und sie der Erfrischung des Schlafes zu berauben. Doch nun...“, er seufzte und warf dem Himmel böse Blicke zu. „hatten wir letzte Nacht genug damit zu tun, die Träume der MaKri vor der Finsternis der Verzweiflung zu bewahren.“
     Talaan verwandelte sich zurück und schüttelte den Kopf, als er erneut den Fluch des Feindes sah. „Wann wird die Wirkung bei mir einsetzen?“
     Kirra sah ihn mild verwundert an. „Spürst Du denn nichts?“
     Er lauschte erneut in sich hinein.
     „Kein Bedrücken, keine finsteren Gedanken? Es hat jeden von uns heimgesucht von dem Moment an, da das letzte Wort des Zaubers ausgesprochen war.“
     Talaan konnte nicht anders, als den Kopf zu schütteln. „Da ist nichts. Ich bin froh, am Leben zu sein, wieder ich zu sein. Ich bin vielleicht ein wenig zornig über die List des Feindes und erst recht darüber, dass Marten einmal mehr gewonnen hat, obwohl ich ihn besiegt glaubte. Aber Finsternis ist nicht in mir.“
     „Dann hat der Fluch keine Macht über Dich.“, folgerte Tonri. „So wie mir und meinen Geistesbrüdern kann er Dir nichts anhaben.“
     Warum kann er Dir nichts anhaben, Tonri?“, fragte Kirra. „Kennen Schamanen keine Furcht, keine Verzweiflung?“
     „Wir wären keine Kri, wenn dem so wäre.“, erwiderte der Schamane ernst. „Doch wir sprechen viel mit den Ahnen. Sie haben jede Furcht abgelegt und wissen nun, da sie tot sind, wie unnütz all ihr Bangen und Verzagen zu Lebzeiten war. Ein Teil ihrer Weisheit durchdringt uns auch im Leben.“
     „Aber was ist dann mit Dir?“ Kirra sah Talaan vage hoffnungsvoll an.
     Doch Talaan blieb nur erneut den Kopf zu schütteln. „Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es meine Art der Unsterblichkeit, vielleicht ist es der menschliche Teil in mir oder die Erfahrung, die ich im Rausch der Macht gemacht habe. Oder etwas ganz anderes, möglicherweise Schicksal oder Zufall.“
     Bedrückt senke Kirra ihr Haupt und selbst ein verspielter Kuss Talaans konnte sie nicht aufmuntern.
     „Ich werde mich sofort daran machen, mein Zauberbuch zu Rate zu ziehen. Vielleicht haben wir morgen schon wieder Sonnenschein.“ Der Blick, den ihm Kirra darauf zuwarf war eine Mischung aus Dankbarkeit und dem Wissen um seine Lüge.

Auch wenn der Fluch keine Macht über ihn hatte, so beugte sein Wirken dennoch Talaans Mut. Überall, wo er an diesem Tag hinging erwartete ihn der selbe Anblick. Von dem geschäftigem Treiben am Boden war nur noch ein schwacher Nachhall zu sehen. Die Kinder saßen meist stumm zu Füßen ihrer Eltern, anstatt herumzutollen. Die Erwachsenen gingen zwar ihren gewohnten Tätigkeiten nach, doch ging ihnen die Arbeit nur schleppend von der Hand und nicht selten geschah es, dass einer mit einem gleichgültigen Schulterzucken ein Stück misslungenes Handwerk beiseite legte. Die Schüler der Zauberwirker vermochten kaum, sich zu konzentrieren und selbst die Lehrer machten sich nicht viel daraus, ob etwas gelang oder scheiterte. Jene Krieger, die ausziehen sollten, um den Feind zu bekämpfen ließen mit geneigtem Haupt ihre Anweisungen über sich ergehen. Wenigstens sie schienen einen Funken Freude in sich zu tragen. Doch schon bald erfuhr Talaan von einer jungen MaKri, weshalb. Sie freuten sich in der Savanne dem Fluch entgehen – sei es durch Tod oder langem Kampf fernab seines Wirkens. Selbst auf den Gesichtern der Ältesten fand Talaan Spuren der Verzweiflung. Selbst wenn sie diese recht gut verbergen mochten – sie war in ihren Herzen.
     Das Schlimmste von allem war für Talaan eine eher unterschwellige Veränderung. Die MaKri hatten das verloren, was sie für ihn seit je her zu MaKri gemacht hatte: ihr edler Stolz, der sonst in ihren Augen glomm, war erloschen. Die Hüllen ihrer Körper schienen nicht mehr vom Wesen der MaKri erfüllt zu sein.

Aus ihrer Befürchtung wurde Gewissheit. Die Angst war ihr wieder in den Schlaf gefolgt. Kirra stand inmitten träger wabernder Dunkelheit, die ihre Füße umspülte wie ein schrecklicher, kriechender Morast. Es war doch alles so vollkommen sinnlos. Die Menschen waren übermächtig, wer sollte gegen solche Macht bestehen? Todessehnsucht strömte aus dem Dunkel und durchdrang ihr Herz. Wenn sie nur endlich kamen, die Soldaten des Königs, dann würde ihrer aller Leiden ein Ende haben. Im Tod mochten sie den Frieden finden, von dem der Schamane gesprochen hatte.
     Hoffnungslos hob Kirra ihren Blick und sah auch über dem kriechenden Dunkel nur Schatten. Keine Sterne, keine Sonne, kein Himmel. Nur Schatten. Sie hatte keine Kraft mehr. Woher sollte sie die auch nehmen? Jegliche Hoffnung war Illusion, Halt für jene, die das Ende nicht sehen wollten. Jeder der hoffte betrog doch nur sich selbst.
     Was war aus den glücklichen Tagen geworden? Sie lagen im Nebel der Vergangenheit, erstickt unter einer schweren Decke aus Vergessen. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es war zu lachen. Der ungetrübte Genuss warmer Sonnenstrahlen lag nur noch matt in ihrer Erinnerung, die Freude mit Freunden Zeit zu verbringen war nicht mehr greifbar, unvorstellbar. Alle guten Gefühle schienen nur noch eine blasse Erinnerung ihres Verstandes zu sein. Ihr Herz hingegen konnte sich gar nicht mehr erinnern, jemals anders als verzagt zu sein.
     Die Dunkelheit zu ihren Füßen rief sie, lockte mit dem dumpfen Versprechen einer gnädigen Ohnmacht. Dies ist nur ein Traum., flüsterte die stumme Dunkelheit. Lass dich fallen, Kirra, es wird nicht schaden. Gib auf und der Traum wird enden. Sie wusste, dass es eine Lüge war. In dem Moment, in dem die Dunkelheit über ihrem Körper zusammenschlug, würde sie verloren sein. Und dennoch war da eine leise Hoffnung, ein kranker Schatten des wahren Gefühls, dass es vielleicht doch das Beste war einfach aufzugeben. Warum erst standhaft kämpfen, um dann doch unterzugehen? War diese kleine Hoffnung nicht besser als gar keine?
     Kirra schloss die Augen und ließ sich nach vorne fallen.
     Kräftige Arme fingen sie auf. „Mach keinen Unsinn, Geliebte.“, drang Talaans sanfte Stimme in ihr Bewusstsein. „Ich bin hier. Hab’ keine Angst mehr.“
     „Was...“ Kirra schlug die Augen auf und blickte in die roten Rubine von Talaans Augen. Sie funkelten voller Freude und Fröhlichkeit. „Wieso bist Du hergekommen? Es gibt keinen Weg fort von hier.“
     „Möchtest Du denn fort von hier? Schau Dich noch einmal um, bevor du antwortest.“
     Jetzt erst bemerkte sie die Veränderung. Der dunkle Morastnebel wich dem Blättermehr der Baumkronen. Die Schatten über ihr lösten sich auf und funkelnde Sternendiademe kamen zum Vorschein. Frischer Wind wehte von Osten her und durchstrich sanft ihr Fell.
     „Gefällt es Dir hier besser?“
     Sie nickte stumm und sah sich ungläubig um. Sie fühlte sich, als hätte Talaan sie aus finsterem, eisigkalten Wasser emporgezogen zu Hoffnung und... Frieden.
     Kerzen flammten um sie herum auf, trieben auf unsichtbaren Winden davon und machten neuen Kerzen Platz, die mal honiggelb, mal friedlich orange oder fröhlich violett erstrahlten. Bald war es ihr, als trieb sie in einem Lichtermeer über Wipfeln der Bäume.
     „Ich kenne diesen Ort.“, stellte sie lächelnd fest, sah ihren Mann freudig an und küsste ihn dann zärtlich. „Du hast ihn wiedergefunden.“ Talaan nickte friedlich lächelnd und schloss seine Arme um sie. „Inmitten dieser dunklen Zeit. Wie ist das möglich?“
     Eine Weile wiegten sie sich in einvernehmlichen Schweigen, bevor er mit milder Stimme antwortete: „Ich habe Frieden mit mir selbst geschlossen, Kirra. Ich bin, der ich bin, mit allen Schwächen. Und das ist gut so. Meine Sehnsucht nach Stärke, nach Macht die MaKri zu beschützen, ist gestillt. Ich bin, der ich bin. Ein sterblicher Weltenwandler, der nicht länger die Ohnmacht fürchtet.“
     Glücklich schmiegte sie sich ganz eng an ihn. Doch so sehr sie sich auch an ihm festhielt, spürte sie eine altbekannte Angst rasch in sich aufkeimen. Kirra wollte es nicht sagen, aber es blieb ihr keine andere Wahl. „Was ist mit den Menschen?“
     Behutsam löste Talaan sich von ihr und beinahe fürchtete sie, jene Angst und Trauer in seinen Augen zu sehen, die sie einst bei der selben Frage in Talaans Traum befallen hatte. Doch Talaan lächelte nur. Er ging ein paar Schritte leichtfüßig über die Blätter nach Westen und sandte seinen Blick nach der Armee des Feindes.
     In diesem Augenblick schien die Welt seltsam weit zu werden, als könnten ihre Augen den Dschungel und die Savanne mit einem Mal überblicken. Und auch Talaan hatte sich verändert. Es war ihr, als könnte sie durch den Kri hindurch den Menschen sehen, der er einst war, oder durch den Menschen den MaKri – sie war sich nicht sicher.
     Er deutete auf die Lager von Mohabs Armee, die mitten in der Savanne beinahe friedlich dalag. Feuer brannten, unzählig viele Feuer, zwischen beängstigend vielen Zelten. „Ich fürchte den Feind nicht länger, Kirra.“, sprach der Kri Talaan mit menschlicher Stimme und lachte froh. „Er hat für mich seinen Schrecken verloren. Mich dauert das Leid, das er bringen wird, aber nach dem Krieg wird wieder Frieden herrschen und die MaKri werden ihn in Freiheit erleben.“
     Kirra trat an seine Seite, musterte ihn voller Faszination. Es schien beinahe so, als könne sie durch die äußeren Hüllen aus MaKri und Mensch hindurch das Ich ihres Mannes erkennen. Und es war voller Frieden und Fröhlichkeit. „Aber ich fürchte den Feind. Dein Frieden schützt mich vor der Verzweiflung, doch die Angst kann er nicht vertreiben.“ Sie wandte ihren Blick nach Westen. „Es sind so unsagbar viele und der Fluch der Hexer ist über uns.“
     Statt eine Antwort zu geben, begann Talaan leise vor sich herzusummen. Es war eine seltsam traurigschöne Melodie, die bald durch ihre Ohren in ihr Herz sank und sie mit Freude erfüllte. Dann begann er Worte zu singen, fremdartig und doch vertraut, seltsamen Klanges und dennoch nicht ungewohnt und bei allem schien ihr, als wäre ihr Sinn nur durch einen hauchdünnen Schleier von ihrem Verstehen getrennt.
     Je mehr sie seiner klaren Menschenstimme lauschte, um so friedlicher und ruhiger wurde sie. Eine Traurigkeit, klar und leicht wie der Tau am Morgen spülte alle Zweifel und Unrast aus ihrem Herzen und hinterließ neuen Mut und eine unbändige Freude am Leben zu sein.
     Wie lange er gesungen hatte, vermochte sie nicht zu sagen, denn als er endete, schien es ihr, als wäre sie aus einem tiefen Traum erwacht, einem Traum im Traume. Sie brauchte eine ganze Weile, bis sie zu fragen wagte: „Was war das?“
     Lächelnd sah er sie an, küsste sie sanft und innig, und antwortete schließlich: „Ein Lied, das ich vor lange Zeit bei den Elfen gehört habe. Ich wusste nicht, dass ich es singen kann, aber wie so manche Magie, die sie wirken, hat auch dieses Lied in mir Wurzeln getrieben. Es ist eine Erzählung über einen Krieg, der viel Kummer über ihr Volk brachte, aber durch den sie auch ihre Heimat im Jungen Wald fanden und dort ihre wahre Bestimmung erlangten. Ihr Leid war der Quell von vielem Schönen und Schmerz wie Freude ist somit auch in diesem Lied miteinander verwoben. Hat es dir gefallen?“
     Doch bevor sie eine Antwort geben konnte, die auch nur schattenhaft das wiedergeben konnte, was sie fühlte, neigte Talaan seinen Kopf zur Seite und stutzte. „Der Morgen naht, Geliebte. Und auch wenn Du diesen Traum verlässt, vergiss nicht, was gehört hast. Es mag Dir für eine Weile Kraft geben.“
     Und mit diesen Worten war er verschwunden.

Als Kirra erwachte, sah sie Talaans Gesicht über sich schweben. Mit einem verspielten Kuss und einem fröhlichen Zwinkern wünschte er ihr einen guten Morgen und fragte: „Wie fühlst Du Dich?“
     Kirra lauschte in sich hinein und stellte erstaunt fest, dass sie kaum einen Hauch von Angst in sich spürte. „Hast Du den Fluch gebrochen?“
     Talaan schüttelte ernst den Kopf. „Er ist zu mächtig, als das ihn ein paar Strophen der Elfensprache brechen könnten, aber es scheint, als wären ihre Lieder dennoch voller Kraft. Es gibt wieder Hoffnung, Geliebte. Ich muss mich eilen.“
     Sie wollte nicht, dass er sie verließ, doch sein ernstes Gesicht sagte ihr, dass es sein musste. „Wohin gehst du?“
     „Ich muss mit den Ältesten sprechen. Ich sagte, es gibt wieder Hoffnung, doch sie hängt an einem dünnen Faden. Vielleicht wissen die Weisen der Stadt, was getan werden kann.“

„Der Fluch des Feindes ist mächtig.“, begann Talaan die Sitzung des Ältestenrates. Erschüttert hatte er hinnehmen müssen, dass die Ältesten diesmal gleichgültig auf das Entfachen des Feuers verzichtet hatten. „Meine ersten Versuche, schon allein seine Natur zu enträtseln sind bisher fruchtlos geblieben. Ich fürchte auch, dass er, ebenso wie der Zauber, der die Halle des Lichts verhüllt, derart beschaffen ist, dass es geraume Zeit brauchen wird, ihn aufzulösen. Beide sind für den Feind kriegsentscheidend und Marten wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dafür aufgewandt haben, sie gegen unsere Macht zu schützen.“
     „Ich wusste nicht, dass Magie derart Abscheuliches anrichten kann.“, seufzte Firr und schüttelte den Kopf. „Es muss wirklich einer kranken Seele und vieler Jahre bedürfen, um solch ein Werk zu ersinnen.“
     Und Mahi sprach daraufhin die Befürchtung aller aus: „Es wird unmöglich sein, in der kurzen Zeit, die uns bleibt, den Fluch zu brechen, nicht war? Die Armee Mohabs hat die Savanne schon halb durchquert.“
     Talaan nickte stumm.
     „Dann ist der Krieg verloren. Unser Volk ist kaum im Stande, das tägliche Leben zu meistern, wie sollen wir da kämpfen!“
     „Es gibt eine Hoffnung, mit der Marten niemals rechnen konnte.“, widersprach ihr Talaan. „Und selbst jetzt, da ich einen Weg für uns sehe, weiß ich doch nicht, ob wir ihn gehen können. Ein unüberwindbar scheinender Gegner steht uns im Weg. Das ist der Grund, weshalb ich den Rat einberief. Wir brauchen unser aller Weisheit und Schläue, um gegen ihn zu bestehen. Ich spreche vom Nördlichen Orakel.“
     Die Ältesten sahen Talaan verwundert an. „Das östliche Orakel gewährt uns doch Schutz vor dem Blick seines nördlichen Geschwisters.“, erinnerte ihn Jirr.
     „Viele Meilen bis an die Grenzen der Savanne reicht sein Schutz, sonst wäre schon unser erster Angriff gescheitert.“, bestätigte ihn Talaan. „Doch ich sehe unser Hoffnung nicht dort, ich sehe sie im königlichen Palast von Tullma.“
     Mahi schüttelte einwendend den Kopf. „Was auch immer du vorhast, Talaan, es ist zum Scheitern verurteilt. Wie du schon sagtest: das nördliche Orakel ist ein unüberwindbarer Gegner. Der König wird all unser Tun voraussehen und jeden Angriff abwehren.“
     Talaan lächelte verschmitzt. „Ich sagte nicht, dass es unüberwindbar ist, ehrenwerte Kräuterfrau. Ich sagte, dass es unüberwindbar scheint. Es würde unsere Sache erleichtern, könnten wir das östliche Orakel befragen und auf seinen Ratschluss hin handeln. Doch da es in Schatten liegt, müssen wir uns auf unseren Verstand verlassen. Das nördliche Orakel mag vielleicht die Zukunft sehen, doch es ist immer noch der König uns seine Mystiker, die es befragen und seine Antworten deuten.“
     In Firrs Augen leuchtete zum ersten Mal Hoffnung auf. „Deine Worte sind so wahr, wie sie es nur sein können, Maigan. Was hast Du vor?“
     Talaan hatte schon eine Weile darüber nachgedacht, wie sie es am Besten angehen mochten und hatte deshalb die Antwort sofort parat. „Es wäre ein guter Anfang, wenn wir den König töten.“
     Die Ältesten sahen ihn eine geraume Weile stumm an, bevor sie alle durcheinander zu sprechen begannen.

Nach vielen Stunden eifrigen Pläneschmiedens, Pläne Verwerfens und erhitzten Debatten war Talaan über zwei Dinge unglaublich froh. Zum einen darüber, dass das Feuer nicht entzündet worden war, und zum anderen über den Lohn ihrer Mühe. Sie hatten es vollbracht, einen Vorhaben zu ersinnen, das Erfolg haben mochte.
     Zunächst hatte Talaan es nicht gewagt, die Lehre der Vereinigungsmagie allein zu lassen, denn sie war die einzige Waffe, welche die Soldaten des Königs aufzuhalten vermochte. Fähige Lehrer gab es seit der Schaustellung vor einigen Tagen genug, doch Lehrer wie Schüler mochten dem Fluch erliegen, wenn Talaan nicht dabei war. Doch die Ältesten beschlossen die Lehre weit in den Osten zu verlegen, wo der Fluch seine Wirkung verlor.
     Nun war der Weg für Talaan und seine Gefährten frei. Es mochte ein Wagnis sein, dass sie alle das Leben kosten mochte, doch es gab in diesem Krieg mehr als eine Front. Diese Schlacht vermochte, den Krieg zu entscheiden.

„Du musst fort?“, Kirra zog die Stirn in Kraus. „Du weißt, was Du mir versprochen hast. Ich will mit Dir kommen.“ Sie machte sich für einen langen Kampf bereit, denn sie wusste, dass Talaan ihr widersprechen würde.
     Talaan sah sie traurig an und lächelte dann verzagt. „Du musst sogar mitkommen, Kirra.“
     Sie sah in ungläubig an. „Dann kann Dein trauriger Blick nur bedeuten, dass wir alle sterben werden.“, versuchte sie zu scherzen. Doch seine ernste Mine belehrt sie eines besseren. Kein Scherz. Er fürchtete, sie in den Tod zu schicken.
     Behutsam ergriff sie seinen Kopf und blickte ihm fest in die Augen. „Ich bin an Deiner Seite, geliebter Mann. Wohin Dein Weg dich auch führen mag.“ Selbst in den Tod., dachte sie und erschrak darüber.

Zehn Tage waren vergangen. Zehn Tage, in denen die Unruhe in Talaan immer größer wurde, denn der Tag der unausweichlichen Schlacht kam unaufhaltsam näher. Alles in ihm hatte danach gedrängt jegliche Vorsicht in den Wind zu schreiben, ohne Rücksicht auf ihre Kraft Tag und Nacht zu fliegen und den Königspalast umgehend anzugreifen.
     Alles in ihm, nur sein Verstand nicht. Sie hatten die Armee des Feindes weiträumig umflogen, um selbst Spähern aus dem Weg zu gehen. Stets hatten sie tagsüber Rast eingelegt um Kräfte zu sammeln, den Plan durchzusprechen und jeden seine Rolle einstudieren zu lassen.
     Als sie schließlich in der Nähe Tullmas angekommen waren, schickten sie ihre magischen Augen aus, um den Palast zu erkunden. Heimlichkeit hatte keinen Sinn, wusste der Feind doch längst, wann und wo sie angreifen würden. Er hatte es in der Zukunft gesehen.
     Wir sind schon seltsame Narren, dass wir das nördliche Orakel herausfordern wollen!
    
Es überraschte sie nicht sehr, dass im Palast kein einziger Mensch zu sehen waren. Kein Mensch, dennoch verschwanden vor ihren Augen volle Weinkaraffen und tauchten dann geleert auf der gedeckten Tafel wieder auf. Ihre magischen Augen wurden getäuscht. Doch Talaan fand den Anblick der Kissen des Thrones durchaus beruhigend, da sie sich hin und wieder unter einem unsichtbaren Gewicht plattdrückten. Der Feind wusste vom Kommen der MaKri und spielte ein Spielchen. Leichtsinn würde sein Untergang sein.
     Zehn Tage hatte all das gedauert. Ihr Rückweg durfte nicht mehr als die Hälfte verschlingen. Wenn es einen Rückweg gab.
     „Talaan?“
     „Welchen meinst Du, Geliebte?“, fragte er fröhlich und sah seiner Frau fragend in die Augen.
     Die blickte zu den anderen rotäugigen MaKri hinüber. „Wenn Du glaubst, ich würde meinen Mann nicht erkennen!“ Sie hob spielerisch drohend eine Faust und Talaan küsste sie rasch. „Ich halte es immer noch für seltsam, dass der Feind Dich nicht erkennen soll.“
     Talaan schmunzelte. „Konntest Du einen der Berater des Königs auseinanderhalten?“
     Kirra stutzte und schüttelte schließlich zaghaft den Kopf. „Sie hatten alle dunkle Augen, dicke Augenbrauen und dicke Nasen. Wie soll ich sie da unterscheiden?“
     „Siehst du.“, bestätige Talaan und küsste sie zärtlich auf den Mund. „Alle, die uns begleiten, haben meine Augenfarbe, beinahe meine Größe und fast die selbe Fellzeichnung wie ich. Erwarte nicht noch mehr von den Menschen.“ Er deutete auf das Bild des leeren Herrscherstuhls. „Mohab wird geflucht haben, dass das Nördliche nicht in die Köpfe der Wesen schauen kann. Zwanzig Talaans, die den Palast stürmen, um ihn zu töten, müssen ihn in mächtige Aufruhr versetzt haben.“
     „Aber er ist noch da, oder so scheint es. Es ist mir ein Rätsel.“ Kirra sah ihren Mann voller Sorge an.
     „Mir auch. Er heckt irgend etwas aus. Doch soweit seine Augen auch in die Zukunft sehen mögen, seine Hände weilen in der Gegenwart. Wachen können von uns gesehen und getötet werden.“
     „Darum bin ich hier.“, Kirra wurde noch ernster und ihre Sorge um ihn nahm beinahe Stofflichkeit an. „Tonri ist aus dem Reich der Träume zurückgekehrt und unsere Späher sind auch wieder da. Wir wissen nun, wo die meisten Wachen sind. Es sind sehr, sehr viele.“
     Entschlossen stand Talaan auf und ergriff seine Frau bei den Schultern. „Wir werden sehr, sehr viele von ihnen töten. Wir sind MaKri und wir sind erwacht. In den engen Gängen des Palastes wird ihnen ihre Überzahl viel weniger von Nutzen sein, als auf dem offenen Feld.“
     „Komm ja heil wieder. Du darfst mich nicht zurücklassen.“
     Talaan küsste sie erneut liebevoll und nickte dann. „Und ich werde nicht mit leeren Händen kommen.“

Mit lauten Krachen durchschlugen Kraftkugeln die Kuppel des Thronsaales, rissen immer größere Löcher hinein bis sie barst und knirschend, reißend, brechend einstürzte und eine große Anzahl Soldaten unter sich begrub.
     Die Flammenbälle der hereinschwebenden Talaans rafften die verbliebenen Bogenschützen dahin. Ein Pfeil hatte die Schulter eines MaKri durchbohrt, der riss ihn zornig heraus und die Wunde schloss sich, bevor ihre Füße den Schutt auf dem Boden berührten. Kirra wachte über sie.
     Auf dem einzigen Fleck auf dem Boden, wo keine Trümmer lagen, ziemlich genau in der Mitte der Halle, stand erhobenen Hauptes ein Herold des Königs. Er entrollte gemessen langsam eine Pergamentrolle und erhob seine Stimme.
    
Seine allmächtige Majestät, der Herrscher des Vereinigten Muronischen Reiches, Mohab der Fünfte, Sohn des Mohab, lässt die feigen Attentäter auf sein Haupt und Leben folgendes wissen:
     Wie das Überleben meines treuen Dieners“, der Ausrufer neigte kurz sein Haupt, „unter Beweis stellt, ist euer Unterfangen zum Scheitern verurteilt. Nichts was ihr tut, kann von Erfolg belohnt sein, denn keiner eurer Schritte ist von mir nicht bereits gesehen und vereitelt worden. Lasst ab von eurem lächerlichen Vorhaben oder erleidet die Konsequenzen.“
     Der Herold rollte das Pergament zusammen und reichte es dem nächststehenden Talaan. „Ich danke euch, dass ihr mich am Leben lassen werdet. Mein Familie dient dem Königshaus schon sein Generationen. Es wäre eine Schande, das jetzt zu beenden.“
     Mit diesen Worten wandte er sich um und ging zu der gewaltigen Tür aus Gold und Edelsteinen. Talaan versperrte ihm den Weg. „Wo ist der König?“
     Der Herold warf ihm einen hochmütigen Blick zu. „Ich stünde nicht hier, wenn ich den König verraten würde.“
     Talaan neigte zustimmend seinen Kopf und trat beiseite. „Ich musste fragen. Sonst hätte der König gewusst, dass ich es nicht tun werde.“
     „Selbstverständlich.“
     In diesem Moment schwang das Tor nach Außen auf und der Diener trat hinaus.
     „Er hat sich viel Mühe gegeben, einen allwissenden Eindruck zu hinterlassen, dieser König.“, sagte einer der MaKri.
     „Auf jetzt.“, sagte ein anderer.

Sie kämpften sich ihren Weg durch den königlichen Palast und trafen dabei auf unglaublichen Widerstand. Der König hatte Hunderte Soldaten in den Kampf und so in den sicheren Tod geschickt. Sie lauerten hinter jeder Tür, jeder Ecke, jedem Fenster. Stets schlugen sie an schwer zu verteidigenden Stellen zu, stets gut abgestimmt, doch auch stets aussichtslos. Der geballten Magie von zwanzig MaKri hatten Schild, Panzer und Schwert nichts entgegenzusetzen. Talaan und seine Männer wussten durch Tonris Traumreisen und die Späher oft, wo die Wachen postiert waren und gingen stets in kleinere Gruppen geteilt vor, die sich gegenseitig Schutz boten. So wurde ein Hinterhalt so gut wie unmöglich, zumal die MaKri immer wieder einfach durch die Decke brachen und Teile des Palastes in Trümmer legten. Die ganze Zeit über tobten draußen weitere MaKri und töteten jeden Bogenschützen, der in der Dunkelheit auf der Lauer lag, um solche Durchbrüche in einen Hinterhalt zu verwandeln.
     Diejenigen, die doch einmal schwere Wunden davontrugen wurden fortgeschafft und kehrten kurze Zeit später vollkommen wiederhergestellt zurück. Es war ein Albtraum für die Wachen und ein furchtbares, nicht enden wollendes Gemetzel für die MaKri. Doch ihrem Ziel kamen sie nicht näher. Der König war wie vom Erdboden verschluckt. Natürlich war er das. Er kannte jeden Ort, an dem sie suchen würden und jeden Ort, an dem sie nicht suchen würden.
     Voller Zorn sprengten die Angreifer ein gewaltiges Loch in die Wand einer königlichen Schatzkammer und sahen sich niedergeschlagen um. Offene, leere Kisten standen vielerorts. Hier und dort standen leere Sockel an den Wänden. Welche Kostbarkeiten sie auch gehalten haben mochten, der König hatte vieles in Sicherheit bringen lassen. Ein weiteres Ziel war vereitelt.
     Innerlich lachte Talaan. Es war sowieso närrisch gewesen, dem König durch die Vernichtung seines Schatzes schaden zu wollen. Doch was war besser, um einen eitlen Narren zu täuschen, als ein närrischer Plan? Er hatte vieles in Sicherheit bringen lassen, aber bei weitem nicht alles.
     „Ich habe es satt!“, schrie ein Talaan und zerschlug eine Vitrine, die ebenfalls leer war. „Vernichtet all das hier!“
     Sie vereinten ihren Magie, formten eine gewaltige Kraftkugel und durchschlugen die Decken der Schatzkammer und der zwei Stockwerke darüber. Mit ohrenbetäubenden, wütendem Brüllen stiegen sie empor bis hinauf zum sternenklaren Nachthimmel und ließen einen wabernden Feuerregen niedergehen. Schon bald stand dieser Flügel des Palastes in Flammen und brach wenig später zusammen, als sie schön längst weitergezogen waren.

Unbemerkt von jeglichem sterblichen oder unsterblichen Auge huschte Tonri in das flammende Inferno, beruhigte die Flammen auf seinem Pfad, zertrümmerte das Schloss einer bestimmten Truhe und nahm den Inhalt an sich. Genauso schnell, wie er gekommen war verschwand er dann wieder und war schon weit weg, als alles einstürzte und jegliche Spuren und Schätze unter sich begrub.

Gerade weil sie keine Hoffnung hatten, den König zu finden, waren die MaKri um so überraschter, als sie ihn dann doch entdeckten. Versteckt in einer geheimen, hinter einem Wandteppich verborgenen Kammer fanden sie den zitternden König. Hätte Tonri diese Kammer nicht dem Schlaf eines Vertrauten des Königs entlockt, wäre Mohab am nächsten Tag lebendig und lachend aus ihr herausspaziert.
     Nichts war von der kühlen, überheblichen Art des Königs übrig geblieben, angesichts so vieler MaKri, die nur seinen Tod zum Ziel hatten. „Es hat mich schon wieder verraten! ES HAT MICH VERRATEN! Oder war es Marten? MARTEN! Seine Schüler sind meine Übermittler des Nördlichen Orakels! Tötet mich nicht!“
     Ein Talaan trat vor uns schüttelte traurig den Kopf. „Ich glaube kaum das Ihr getäuscht wurdet. Zumindest nicht vom Orakel oder den Übermittlern des Königs.“
     Talaan trat an seine Seite. „Mich dauert dieser Mann. Er ist bestimmt nicht der König, sondern nur ein Doppelgänger, Talaan“
     „Doch wir können erst sicher sein, wenn er tot ist, Talaan.“, sagte ein Dritter. „Solange wir nicht töten kann an dieser Stelle genauso gut der wahre König sitzen, der sich ins Fäustchen lacht, dass wir Narren ihn aus Mitleid nicht von seinem Schicksal erlösten.“
     „Mörder!“, schrie der Doppelgänger und starb, als drei Blitze seinen Körper durchschlugen.
     Talaan schüttelte den Kopf und seufzte. „Jetzt können wir sicher sein, dass unser Plan gescheitert ist. Der König ist wahrscheinlich soweit fort, dass wir ihn selbst mit Legionen von MaKri nicht finden könnten.“
     „Lasst uns verschwinden. Unser Glück kann nicht ewig dauern.“

Sie flohen durch die Savanne, als wären die Dämonen der unteren Höllen an ihre Fersen geheftet. Doch es war nicht die Hölle hinter ihnen, vor der sie flohen, es war die Hölle der Schlacht vor ihnen, die sie rechtzeitig zu erreichen suchten.
     Tonri flog an Talaans Seite. „Ich habe, was wir suchten.“
     Talaan nickte und seufzte erleichtert. „Ich hatte nicht so recht an unseren Erfolg geglaubt. Jetzt kann alles gut werden.“
     Kirra beäugte die dunkle, große Kugel, die Tonri in seinen Händen hielt. „Es wundert mich, dass es dem König entging, was wir vorhatten.“
     Ein finsteres Brummen drang aus Tonris Kehle. „Es sind immer noch seine sterblichen Augen und sein menschlicher Verstand, die das Wissen des Orakels sehen und bewerten. Wie sollte er erahnen, dass wir den Anschlag auf sein Leben und seinen Palast nur ausführten, um den Diebstahl dieses Artefakts zu verschleiern? Er hatte genug damit zu tun, sein Leben durch immer neue Pläne zu retten, die er immer wieder vom Nördlichen prüfen lassen musste. Talaan, es war ein guter Plan von Dir.“
    
„Er hat zu viele Leben gekostet.“, erwiderte Talaan betrübt. „Aber ja... es war ein guter Plan.“
     Eine Weile schwieg Kirra nachdenklich, bevor sie fragte: „Wenn Du Recht hast, und dieses kleine Ding den Krieg entscheiden kann... Wieso wusste dann Mohab nichts von seinem Wert?“
     „Es ist genau das in seinen Augen: Ein kleines Ding. Er hat viele solcher Kugeln und er sieht keine Waffe in ihnen, da sie auch keine sind.“
     „Und wozu dann der verzweifelte Widerstand? All die Toten?“
     Tonri meldete sich wieder zu Wort. „Sie dienten dazu, uns zufrieden zu stellen. Er hat sie in den Tod geschickt, damit wir wirklich glauben konnten, Mohab selbst getötet zu haben. Es sollte wie verzweifelter Widerstand aussehen, aber es war nur Trug. Wir hatten uns fest vorgenommen, den gesamten Palast und die Kasernen einzuebnen, sollte uns ein ernstzunehmender Erfolg verwehrt bleiben, der den König täuschen konnte. Das wusste er und hat Hunderte geopfert, um den Rest zu retten.“
     Daraufhin wusste Kirra nichts mehr zu sagen und sie flogen schweigend weiter. So allmählich verstand Kirra, warum sich Talaan vor zuviel Macht fürchtete. Sie hatten gerade Täuschung mit Täuschung beantwortet und dafür unsägliches Leid gesät. Das waren die Pläne der Großen und Weisen. Mitleidig sah sie ihren Mann an, der seinen Schmerz darüber für andere Augen als die ihren gut verbarg. Niemals, niemals wollte sie eine solche Bürde tragen müssen.

Es gab kein Morgen mehr. Das Ende der Tage war gekommen. Die Savanne, der uralte, ewige Nachbar des Waldvolkes war bereits von den Boten des Unterganges verschlungen worden. Soweit Firrs Auge auch reichte – es gab kein Gras mehr, wo die schiere Masse aus Mensch und Stahl die Savanne bedeckte. Nur noch grenzenlosen Hass und Mordlust unter dem von Verzweiflung verseuchten Himmel.
     Der Häuptling ließ seinen Blick über den schwindenden Streifen des Graslandes schweifen, der zwischen der Armee des Königs und den letzten Ausläufern des Dschungels lag. Aus dieser Höhe, in der er zusammen mit Mahi und Jirr schwebte, weit über dem Wald, erschien dieser Streifen unbedeutend gegenüber der Übermacht des Feindes.
     Und das, obwohl der Feind noch Meilen von den ersten Bäumen entfernt war. Je näher der Feind rückte, desto mehr ballte er seine Kraft zu einem konzentrierten Schlag gegen die Große Stadt zusammen. So tat Mohab unbeabsichtigt etwas zu Gunsten der MaKri. Sie konnten nun ihren Widerstand geballt an einem Ort mit aller Wucht über den Menschen hereinbrechen lassen. Wucht?, dachte er. Das ist lächerlich. Wir können ja kaum erhobenen Hauptes warten, wie sollen wir da kämpfen?
     Firr blickte zu den Schamanen, die in der Nähe Wache hielten. Ihre Aufgabe war es, die Befehlshaber der Schlacht vor Angriffen zu schützen- Die Schamanen waren der letzte zuverlässige Schutz, der ihnen in diesen schlimmen Zeiten blieb – jeder andere MaKri war der Verzweiflung zum Opfer gefallen. Wo bleibst Du, Maigan Talaan?, dachte Firr sehnsüchtig.
     Tonri hatte über die Traumpfade vom Erfolg des Planes berichtet, doch seit vorletzter Nacht gab es keine Botschaft mehr. Sie sind tot. Der Krieg ist entschieden., sagte eine schwere, mächtige Stimme in ihm. Nur ein leises Flüstern hielt dagegen: Sie haben keine Zeit für Schlaf oder Träume. Sie eilen bei Tag und bei Nacht.
     Das Aufblühen einer Explosion in der Savanne riss ihn aus seinen Gedanken. Eine der Fallen war ausgelöst worden! Mani sei Dank! „Späher auf dem Vormarsch!“, rief Mahi mit lauter Stimme. Einer der Schamanen beschwor ein gleißendes, rhythmisch pulsierendes Licht. Das vereinbarte Signal wurde unten von Spähern in den Baumkronen an die Krieger am Boden weitergegeben. Die Schlacht um das Ende der MaKri begann.
     Die Fallen waren Manis Idee gewesen. So schlecht wie es um die Moral der Kampfmagier stand, waren Fallen als Einziges verlässlich. Einmal gezaubert warteten sie nur auf ihr gewaltsames Ende, jeder andere Kampfzauber konnte unter der Verzweiflung zusammenbrechen. Schwermütig seufzte Firr. Vor allem die vereinigten Zauber, auf die sich all ihre Hoffnung gegründet hatte, litten unter der Macht, die der Fluch über die MaKri hatte. Es war beinahe unmöglich, zehn Kri eine solchen Zauber wirken zu lassen, ohne dass ein Magier dabei die Konzentration an die Hoffnungslosigkeit verlor. Es war schrecklich. Wie sollte da erst ein Zauber gelingen, den hunderte MaKri auf einmal wirken sollten?
     Feuerbälle und magische Geschosse brachen aus dem Blätterdach hervor und zerschellten an den Schilden, welche die Schamanen um die Ältesten gehüllt hatten. „Keine Späher!“, schrie Firr entsetzt. „Unsichtbare Schlachtenmagier!“ Sie wollten unsere Führung zerschlagen! Die Schamanen riefen zur Schlacht. Kampfeslärm unten im Dschungel antwortete.
     Kurze Zeit später tauchte eine MaKri aus dem Grün auf. Wachsamkeit glomm in ihren Augen, sogar Mut! „Die Feinde sind tot, ehrenwerter Firr. Und sie haben ein unerwartetes Geschenk mitgebracht: den Willen, zu leben. Wir werden kämpfen, bevor wir untergehen!“
     „Danke, Kriegerin.“ Firr neigte sein Haupt. Ein kleiner Funken der Hoffnung glomm nun in seinem Herzen. „Sag den MaKri, dass sie stark sein müssen.“ Und entgegen aller Hoffnung, entgegen allen Gefühls, ja entgegen besseren Wissens sagte er: „Der erwählte Maigan Talaan wir bald zu uns stoßen. Seit standhaft.“
     Und wie zur Antwort schnitt mit einem Mal ein Messer aus Feuer durch die Reihen des Feindes. Vom Westen her teilte es die Armee in zwei Hälften und hinterließ eine schmale Schneise der Verwüstung. Herbei eilten jene MaKri, die den Angriff auf den Königspalast geführt hatten, allen voran Talaan mit der Heilerin Kirra an seiner Seite.
     Erschöpft und außer Atem hielt der Maigan vor ihnen an und hielt stolz jene schwarze Sphäre hoch, die den Wandel des Übels bringen sollte. Jetzt wo er sie sah, fragte sich Firr, ob überhaupt Hoffnung bestand. Die Worte Talaans, die vor einem halben Zyklus Mut in ihren Herzen entflammt hatte, schienen nun fad und unbedeutend.
     „Du kommst spät, Maigan Talaan.“, begrüßte ihn Firr.
     Talaan wusch seine Erschöpfung mit einem Zauber fort und hob sein Haupt. „Spät, aber hoffentlich nicht zu spät. Lasst uns keine Zeit verlieren.“ Er blickte zwei der Schamanen an. „Leiht mir eure Kraft.“
     Der Fokus, klein und schwach im Vergleich zu jener Macht vor der Schlacht mit dem finsteren Weltenwandler, formte sich in der Luft und Talaan schlüpfte hinein. Er wuchs vor Firrs Augen, doch nicht zu erschreckender Größe, sondern zu kraftvoller Schönheit.
     Die Aura des Maigan flammte stärker auf, als er einen Zauber beschwor und sich zu verwandeln begann. Doch zu aller Überraschung blieb der Maigan ein MaKri und wurde dennoch anders, wurde mehr. Dort, vor ihren Augen war ein MaKri und war ein Mensch zur gleichen Zeit, doch nicht vermischt, sondern...
     „Eins.“, sagte der Maigan mit ruhiger, weicher Stimme. „Ich bin eins, Mensch und MaKri, ein Weltenwandler.“ Er hob die schwarze Sphäre mit der Levitation an, ließ sie vor sich schweben und ließ Magie in sie strömen, bis sie vor Energie summte. „Es kann beginnen.“
     „KRI DES WALDES!“, donnerte Talaans Stimme über den Dschungel und die Kugel pulsierte mit dem Klang seiner Worte. Firr war, als hielt alles Leben einen kurzen Augenblick den Atem an. „DER TAG, FÜR DIE FREIHEIT UND DAS LEBEN ZU KÄMPFEN IST DA. LAUSCHT UND LASST ALLE ZWEIFEL FAHREN!“
     Und dann begann Talaan zu singen. Nie zuvor und niemals später hatte Firr Worte und Melodie solch vollendeter Schönheit vernommen und jene wundersame Stunde, die folgte, sank unauslöschlich in sein Gedächtnis. Und so erging es jedem, der in dieser Schlacht kämpfte und gebannt lauschend Tod und Verderben über die Feinde des Waldvolkes brachte.

Der Gesang des Maigan stieg vom Himmel herab und berichtete in einer unbekannten Sprache von einer Zeit der Dunkelheit. Doch die Dunkelheit war gut, in jenen Tagen und barg Wärme und Leben in sich. Unter sternenbezelteten Himmeln wanderten die Elfen in der ewig währenden Nacht und waren unsterblich und zeitlos. Das Leben schlief einen friedlichen Traum, bedeckte die Welt mit ihrem Schlummer.
     Das Lied trug eine wohlige Melodie mit sich, leise wie ein Schlaflied und doch durchwirkt von lebendiger Freude. Ein jeder, dessen Ohr von ihm berührt wurde, horchte auf, lauschte und sah die Geschichte des Schönen Volkes an sich vorüberziehen. Die Zeit des Jetzt war vergessen, genau wie der Feind der MaKri, alle Verzweiflung wurde sanft hinweggewaschen von der wundersamen Geschichte längst vergessener Zeitalter einer anderen Welt.
     Sie hörten von der zeitlosen Wanderschaft der Elfen, die sich an dem ungetrübten Glanz der Sterne erfreuten, von ihnen lernten, das Leben zu lieben, das Leben zu fühlen, ein jedes Leben zu verstehen. Und so zogen sie weiter durch unendlich scheinendes Land und über unendlich scheinende Meere und gaben allem Leben, dass sie fanden den rechten Namen und freuten sich an jedem neu entdeckten Leben.
     Während die MaKri lauschten, verstanden sie allmählich in ihrem Herzen, wie wertvoll und wunderschön das Leben war und viele die lauschten legten die Verzweiflung des Fluches, der ihnen nur Schwärze als Konsequenz des Lebens vorgegaukelt hatte, für lange Zeit ab.
     Doch dann betrat der FEIND die Welt. Der FEIND allen Lebens, der FEIND der Zeitlosigkeit, der FEIND des Friedens in der samtenen Dunkelheit. Er hasste die Unsterblichen wegen ihres Friedens und so überzog er sie mit Krieg. Er hasste die Wärme und Geborgenheit der Dunkelheit und korrumpierte sie, füllte sie mit Kälte und Furcht. Er hasste die Unsterblichkeit der Elfen und allen Lebens und brachte daher die Zeit in die Welt.
    
Da wurden sich die MaKri wieder der heranrückenden Menschen bewusst, hoben ihre Köpfe. Diejenigen, die in vorderster Reihe standen sahen die Armee nahen und wappneten sich. Sie wussten nun wieder deutlich, warum es sich zu kämpfen lohnte. Die Menschen würden ihnen alles nehmen, was sie hatten. Den Frieden, die Freiheit, die Freude am Leben. Mut entflammte in ihren Herzen und machte sie stark. So stark, wie sie es in den Wochen der Verzweiflung nicht für möglich gehalten hatten. Ein Krieger rief: „Wir sind die MaKri! Wir werden bestehen!“ Und viele nahmen diesen Ruf auf und er verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Und das Lied des Maigan schwebte über allem und der Ruf vereinte sich mit ihm, Wachsein und wundersamer Traum vermengten sich zu einem Gewebe, kraftvoll und schön und traurig zugleich.
     Die MaKri lauschten der Melodie, dem Fluss der wundersamen Sprache, wie sie sich veränderte. Traurig und klar schwebte sie über dem Dschungel. Sie sang von Krieg und Tot, der ersten Schlachten der Elfen die bisher nichts anderes als Frieden kannten. Doch der Feind war übermächtig, denn seine Macht nahm zu in der kranken Dunkelheit und bald kämpften die Elfen erbittert ihre letzte Schlacht in der es alles zu verlieren oder den Frieden zu gewinnen galt.
     Die Armee eilte der Flut des Meeres gleich heran und nur Hunderte MaKri warfen sich ihnen auf den letzten Meilen der Savanne entgegen. Auch für sie war jetzt die entscheidende Schlacht gekommen. Sie waren kleine Felsen in der Brandung eines tosenden, gewaltigen Ozeans. Vereinigte Feuerwände fraßen sich durch die Reihen der Menschen, rissen verkohlte Wunden in den Rumpf der stählernen Bestie. Gewaltige Kugelblitze durchbrachen Stahl und Fleisch gleichermaßen.
     Und inmitten dieses kühnen, kleinen [Gruppe] der MaKri stand Mani auf einer kleinen Erhebung. Ihre dunklen Augen durchdrangen die Wirren des Krieges, ihr schwarzes Haar flatterte im Wind und mit kraftvoller, befehlsgewohnter Stimme lenkte sie mit strategischem Geschick den Tod aus den Händen der MaKri.
     Fliegende Kampfmagier erhoben sich immer wieder in die Luft, rissen mit sengenden, vereinigten Feuerbällen Krater in den Boden, wo der Feind zu schnell vordrang. Felsnadeln bohrten sich inmitten der gegnerischen Truppen aus dem Boden und schnitten stets kleine Gruppen von großen Verbänden ab, um restlos aufgerieben zu werden.
     Mani erkannte bald, dass die Verteidigung der MaKri nicht lange halten konnte. Selbst die vereinigten Kampfzauber, die unglaubliche Vernichtung unter den Feinden anrichteten, konnten die Flut nicht stoppen. Sie konnten sie nur verlangsamen.
     Und genau das war der Plan. Jene, die hier kämpften, boten den Magiern im Dschungel die Zeit für den großen Angriff. Sehnsüchtig blickte Mani zum strahlend blauen Himmel. Viel zeit blieb nicht mehr, wenn das Gewitter die Menschen in der Savanne ereilen sollte!

Die Traurigkeit des Liedes füllte sich nach und nach mit Kraft und Freude. Die Elfen fochten ihren Kampf mit Entschlossenheit, doch erkannten sie, dass sie unterliegen würden. Darum riefen die weisesten unter ihnen die Sterne um Hilfe an, wohl wissend, dass sie damit einen hohen Preis zahlen würden. Einer der Sterne erbarmte sich ihrer Rufe und stieg vom Firmament herab und verdrängte die kalte Finsternis mit seinem gleißenden Licht.
     Es war nicht die Sonne, die zu den MaKri herabstieg, um den Feind zu bezwingen. Es war die Niederwelt, die sich über der Savanne auftat, um alles zu verschlingen. Der vereinigte Geist von Dreihundert MaKri öffnete einen Spalt zu jener schwarzen, krankhaft rot pulsierenden Finsternis, zwängten ihn immer weiter auseinander und rissen so eine immer größer werdende Kluft in den Himmel. Die ersten Blitze zuckten an ihren undefinierbaren Rändern.
     „Gebt das Signal zum Rückzug!“, befahl Firr und die Schamanen riefen die Verteidiger vom Wüten der Schlacht in der Savanne zurück. Wie ein Schwarm zorniger Insekten erhoben sich die verteidigenden MaKri in die Luft und flohen vor dem Unheil in den Dschungel, ließen die jubelnden Menschen mit ihrem Verderben zurück.
     Dreihundert vereinigte Willen rissen am Tor der Niederwelt und schufen im Himmel einen unsäglichen Abgrund. Blitze zuckten nun unentwegt an den wegzuckenden Kanten, krachten gewaltig donnernd in die Erde und furchten durch die Armee des Feindes. Was selbst die vereinigte Magie von zweitausend MaKri nicht bewirken konnte, schaffte das Wüten der Niederwelt mit brutaler Leichtigkeit: Die Armee des Königs wurde dahingerafft.
     Doch es war nicht die einzige Schlacht. Dreihundert MaKri waren nötig, um das Tor zu öffnen, doch doppelt so viele Seelen waren nötig, um das aufzuhalten, was aus der Niederwelt zu entkommen suchte. Geballter Willen schlug den Niederen entgegen, geballte Magie versuchte jene zurückzutreiben, die aus dem Abgrund quollen.
     Mit einer Mischung aus Abscheu, Mut und Hoffnung sah Firr all dies:  Er sah wie unzählige Leben vernichtet wurde, sah wie das Heer zum Stehen kam, während das Heer der Niederen vorstieß. Sah, wie die Menschen schließlich in Grauen zu fliehen begannen und der Wille der MaKri die Oberhand gewann und auch die Niederen in ihre Finsternis zurückgeworfen wurden.
     Durch all dies Grauen zog sich die Stimme Talaans, dämpfte es und erfüllte die Herzen der MaKri mit Traurigkeit ob der verlorenen Leben. Gerade, als Firr den Befehl gab, den Angriff einzustellen und das verfluchte Tor zu den Höllen sich schloss, berichtete das Lied des Maigan von der Vertreibung des FEINDES vom Angesicht der Welt. Freude und Fröhlichkeit durchdrang nun Melodie und Worte, die Bilder vor aller Augen und berichtete vom Erwachen und mannigfaltigen Gedeihen des sterblichen Lebens. Die Ankunft der Sonne war Ende und Anfang zu gleich.
     Dann...
     ...endete das Lied.

Talaan erwachte wie aus einem Trance. Ungläubig und froh und traurig sah er die verwüstete Savanne und überlebenden, fliehenden Menschen. Von der stolzen Armee des Königs waren kaum mehr als fünftausend Mann mit dem Leben davongekommen.
     Doch nichts in ihm drängte danach, ‚Sieg!’ zu rufen. Keinem der MaKri ging es so. Ein andächtiges Schweigen senkte sich über den Dschungel und das ehrte den Sieg angemessener und die Toten würdiger, als es irgend welche Worte vermocht hätten.
     Der Krieg war gewonnen. Er drehte sich zu Kirra um und sah, dass sie weinte. Nur all zu gut konnte er sie verstehen. Das Leben war kostbar, egal auf welcher Seite man in den Krieg zog. Heute, an diesem Tag, hatte es zu viele Tote gegeben. Das machte den Sieg schal, dämpfte die Freude, am Leben zu sein.
     „Schick’ Deine Heiler aus, Geliebte.“, sagte er sanft und berührte sie am Arm. „Es werden viele verwundete unter den Menschen sein.“
     Kirra nickte zur Antwort. Erst zaghaft, dann bestimmt. „Du hast Recht. Jetzt ist die Zeit, Wunden zu heilen anstatt sie zu schlagen.“ Sie wollte schon loseilen, doch dann richtete sie ihren traurigen Blick noch einmal auf Talaan. „Ich hätte nie geglaubt, dass unser Sieg so bitter werden könnte.“ Dann stieg sie hinab, scharte ihre Heiler um sich und entschwand zum Schlachtfeld.
     Talaan blickte ihr nach, bis er sie nur noch als kleine Punkte erkennen konnte. Wie wahr sie gesprochen hatte... Der Sieg war bitter erkauft. Die Große Bestie hatte Festschmaus gehalten und Tausende Leben verschlungen.
     Doch gerade, weil er die Sage vom Ende der Zeitlosigkeit gesungen hatte, wusste er, dass diese Bitterkeit versiegen würde. In wenigen Tagen würden die MaKri begreifen, dass der Frieden wieder ihrer war und die Bestie sie nahezu verschont hatte. Sie würden erkennen, dass der Tod der Menschen das Leben der MaKri bedeutete und aus dem Leid des Krieges neues Glück entstehen würde.
     Warme Sonnenstrahlen brachen durch die sich auflösenden Schwaden des Fluchs und schienen Talaan ins Gesicht. Unglaubliche Freude durchflutete ihn, als der Wind die Wolken der Verzweiflung zerfetzte und nach Westen trug. Nun war der Krieg wirklich beendet.
     Talaan wandte sich nach Osten und ließ seinen Blick über den Dschungel schweifen. Ungetrübte Sonne flutete nun über ein wogendes Meer aus Grün. Dieser Urwald war nun wieder ein Hort des Friedens, der Ort, an dem sein Volk und so auch er zu Hause war.
     Heimat., dachte er glücklich und wusste, dass er nun wahrhaft Eins sein konnte.