"Das Zweite Buch der Welten - Erwachen"
von Jaquimo Talaan
letzte Änderung: 27.12.2002 (kleine sprachliche \xC4nderungen)
"Das Zweite Buch der Welten" and contained characters \xA9 2001-2003 by
Christoph G\xFCnther.
Verwendung, \xC4nderung und kommerzieller Vertrieb nur mit meinem persönlichem Einverständnis. Dies gilt explizit
(aber nicht nur) für die Charaktere Jaquimo Talaan, Ginuthal,
Kirra, Jairree und Loma, an denen mein Herz hängt.
Ich habe eine Menge Arbeit in die Geschichte(n) gesteckt, auch
wenn es mir Spaß gemacht hat. Wenn Du Zeit und Lust hast,
schreib mir eine Email, ob Du die Geschichte mochtest oder nicht.
Ich bin für jegliche ernstgemeinte Form von Kritik und/oder
Lobeshymnen ;) zu haben.
Email an *
* aus Spam-Gr\xFCnden nur als Bild zum abtippen, sorry
Und jetzt viel Spaß mit dem ersten
Teil.
Nach wochenlanger Hatz hatte er es endlich geschafft. Auf der
grasbedeckten Ebene, die sich unterhalb des Hügels bis zum
Horizont erstreckte, konnte Jaquimo Talaan unweit seinen Feind
erblicken, der so lange vor ihm geflohen war.
Er formte seine Hände zu einem Trichter und schrie gegen
den aufbrausenden Wind: "Marten! Stell dich endlich!"
Sein Widersacher drehte sich langsam um und blickte ihn gelassen
an. Er verschränkte die Arme und machte sich bereit zu warten.
Talaan trieb sein Pferd an und galoppierte den Hang hinab. Marten
rührte sich kein bisschen.
"Hast du mich endlich gefunden, Elfenfreund.", sagte
Marten mit einem zynischen Lächeln, kaum dass Talaan in Hörweite
war. "Du legst es wirklich darauf an zu sterben, nicht wahr?"
Jaquimo sprang von seinem Ross und zog sein Schwert. Sein Feind
nahm es gelassen hin und zuckte nicht einmal zurück, als
die schmale Klinge seinen Hals berührte. "Die Toten,
die du in Ferragun zurückgelassen hast, ließen mir
keine andere Wahl, Marten. Ich weiß, dass du mit dem Töten
erst aufhören wirst, wenn ich mich dir gestellt habe."
Ein schmales Lächeln erschien auf Martens Lippen, aber seine
pechschwarzen Augen blieben kalt. "Ich wusste doch, dass
ich dich damit kriege. Jeder von euch Weltverbesserern hat einen
solchen Schwachpunkt." Nach wie vor hielt er seine Arme verschränkt
und ignorierte die scharfe Schneide an seiner Kehle.
"All die Toten wegen einer Falle?", fragte Talaan ungläubig.
"Es heißt, du bist gut mit dem Schwert, aber..."
"Du weißt gar nichts, Freund der Elfen.", knurrte
Marten. Ohne dass Jaquimo überhaupt reagieren konnte, hatte
Marten unglaublich schnell sein Schwert gezogen und schlug Talaans
Klinge beiseite.
Mein Gott! Wie kann jemand so schnell sein?, schoss es
Talaan durch den Kopf.
Marten lachte trocken, als er den Schreck in seinen Augen sah.
"Nun? Zweifelst du immer noch, dass du sterben wirst?"
Mit einer fließenden Bewegung schwang sein Schwert herum
und prallte auf Talaans Deckung. Noch während der sich von
dem Schlag erholte, riss Marten seine Klinge nach oben und hieb
nach seinem Kopf. Talaan brachte sich mit einem Sprung zur Seite
außer Reichweite.
Marten musterte ihn eingehend und blickte ihm tief in die Augen.
"Ich sehe immer noch keine Angst, Freund der Elfen. Glaubst
du, nur weil du über tausend Jahre in dieser Welt gelebt
hast, dass es kein Ende deiner Existenz geben kann? Glaubst du,
nur weil dies nicht dein erstes Leben ist, dass es keinen wahren
Tod gibt?"
Talaan starrte ihn ungläubig an. Wie konnte Marten das wissen?
Er selbst hatte ja schon beinahe sein erstes Leben auf der Erde
des 21. Jahrhunderts vergessen. Und Marten kannte Talaan erst
seit drei Monaten.
Marten lächelte zufrieden. "Du hast ja keine Ahnung,
wer ich wirklich bin, Talaan. Aber du wirst lernen."
Mit einem wilden Aufschrei schlug Marten zu. Sein Schwert hämmerte
auf die Klinge Talaans, zog sich zurück und stieß erneut
zu. Mühsam parierte Talaan diesen Angriff. Er selbst war
ein Meister im Schwertkampf, aber was Marten vermochte war unmenschlich.
Niemand konnte so schnell sein.
Ein weiterer Streich drängte Talaan zurück. Mit aufsteigender
Verzweiflung erkannte er, dass er immer mehr in die Defensive
geriet. Er duckte sich unter einem Hieb und stieß zu. Seine
Klinge glitt ins Leere, als sein Feind mit Leichtigkeit auswich.
Marten nutzte die Gelegenheit sofort.
Mit schrecklich brennenden Schmerzen, von denen seine schwindenden
Sinne nicht wussten woher sie kamen, starb Jaquimo Talaan.
[Jenseits dessen, was wir unser Universum nennen, liegt eine schier
unendlich große Anzahl anderer Welten. Einige sind nur eine
anders gefällte Entscheidung von uns entfernt, andere hingegen
so unwahrscheinlich, so anders, dass sie kaum mehr sind als Träume.
Doch was sind Träume? Sind sie nicht so real, wie wir sie
haben wollen, wenn sie vor unserem inneren Auge Gestalt annehmen?
Können Träume real werden, wenn wir sie intensiv genug
träumen, oder klärt sich dabei nur der Blick auf etwas,
das sowieso bereits existiert?]
Er erwachte. Zum ersten Mal in seinem Leben. Als Talaan seine
Augen öffnete, brach eine Flut von sattem Grün, fremden
Gerüchen und eigenartigen Geräuschen über ihn herein.
Wo bin ich? Das ist nicht der Junge Wald. Außerdem
stimmte irgend etwas mit seinen Augen nicht, aber das war im Moment
egal. Er schloss sie wieder und atmete tief durch.
Das Einzige was zählte war, dass er noch lebte. Welch eine
Überraschung war es gewesen, als das Schwert seines Feindes
so mühelos in sein Herz drang und ihm das Leben entriss!
Er hatte gespürt, dass der Tod diesmal etwas Endgültiges
seien würde. Seine Unsterblichkeit hatte ihn im Stich gelassen.
Vielleicht lag es daran, dass auch Ginuthal - seine geliebte,
wunderbare Ginuthal - nicht mehr am Leben war. Oder vielleicht
waren tausend Jahre Leben in jener Welt einfach genug gewesen.
Ein schrilles Kreischen schwoll über ihm an und Talaan riss
die Augen auf. Weitere kreischende Stimmen vielen ein und tobten
über ihm durch die Bäume. Affen! Ich muss in einem
Dschungel gelandet sein. Undurchdringlich dicht stehende Pflanzen
mit großen, saftigen Blättern umgaben ihn. Über
ihm ragten seltsame riesige Bäume empor und bildeten ein
lockeres Dach aus Grün im Sonnenschein. Die Luft war heiß
und feucht.
"Es ist wieder geschehen.", grummelte er, "Ein
neues Leben." Seine Stimme hörte sich seltsam rau an.
Und dieses eigenartige Ding unter seinen Augen ging ihm allmählich
auf die Nerven. Er wollte nach seiner Nase tasten, als plötzlich
zwei klauenbewehrte Pranken vor seinem Gesicht auftauchten. Mit
einem entsetzten Aufschrei machte er einen Satz zurück, stolperte
über seine eigenen Füße und prallte unsanft auf
den Boden.
"Verdammt, was war das?" Hektisch sah er sich um. Nichts.
Nervös leckte er sich über die Oberlippe und erstarrte,
als seine Zunge über weiches Fell glitt. Sein Mund fühlte
sich seltsam an. Sein ganzer Körper fühlte sich seltsam
an. Mühsam zwang er sich auf seine Hände hinabzublicken.
Sie waren vollständig mit sandfarbenem Fell bedeckt und hatten
Krallen. Seine Arme und Beine sahen nicht besser aus und seine
Füße hatten sich in etwas verwandelt, das wie die Hinterläufe
eines Pumas aussah. Kein Wunder, dass er über sie gestolpert
war.
"Tausend Jahre ein Mensch unter Elfen und jetzt wache ich
als Monster auf.", murmelte er, "Soll ich etwa hier
im Dschungel bleiben und mich von rohem Fleisch ernähren?"
Vorsichtig erhob er sich und wäre fast wieder hingefallen.
Diese seltsamen Beine gaben ihm das Gefühl auf Zehenspitzen
über ein Hochseil zu balancieren. Natürlich hatte er
auch einen Schwanz, aber mit dem wusste er noch weniger anzufangen.
Er hatte nie zuvor einen besessen.
Mehr schlecht als recht begann er sich durch die dichtstehenden
Urwaldpflanzen zu kämpfen und fluchte leise vor sich hin.
Der unebene Boden und die vielen verschlungenen Wurzeln erleichterten
ihm das Laufen nicht gerade sehr.
Mit der Zeit wurde das Unterholz lichter und auch die Bäume
standen jetzt weniger dicht. Er fragte sich gerade, wo er hier
ohne Bogen etwas Essbares finden könnte, als Stimmen an sein
Ohr drangen. So regungslos wie möglich blieb er stehen, wo
er gerade war.
Diese neuen Ohren, die halb auf seinem Kopf saßen,
erwiesen sich als sehr nützlich. Sofort hatte er die Richtung
ausgemacht, aus der die Stimmen kamen und konnte sogar hören,
was sie sagten:
"Ich hasse diese Konflikte mit dem Westen. Ich währe
jetzt viel lieber zu Hause bei meinen Kleinen, anstatt Soldaten
aufzuspüren, die hier rumschnüffeln wollen."
Sie kommen direkt auf mich zu!, stellte er entgeistert
fest. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, waren Menschen,
die ihn in einen Käfig sperrten oder gleich töteten.
Vorsichtig schlich er beiseite. Sollten diese Katzenpfoten mal
zeigen, was sie konnten.
"Meinst du mir geht es anders? Aber wenn ich einen dieser
Bastarde finde, die Noarr auf dem Gewissen haben, dann ist es
mir das wert. Sie werden in ihrem eigenen Blut..." Knack!
Schlagartig war es still.
Noch während er diesen verräterischen Ast verfluchte,
brachen aus zwei verschiedenen Richtungen Katzenwesen mit erhobenen
Speeren aus den Büschen. Ungläubig starrte Talaan sie
an. Sie sahen wie auf zwei Beinen laufende Pumas mit sandfarbenem
Fell aus und blickten ihn böse an. Ihre entblößten
Fangzähne blitzten gefährlich.
"Bist du närrisch, oder warum schleichst du hier allein
durch den Dschungel?", fuhr der eine Krieger ihn an. Talaan
musste sich zusammenreißen, um keinen Schritt rückwärts
zu tun. Sie waren es, die er gehört hatte! Katzenmonster.
"Von Schleichen kann wohl kaum die Rede sein, Rashek.",
meinte der andere, "Er hat soviel Krach gemacht, als währe
er ein Junges." Daraufhin begannen beide schallend zu lachen.
Talaans Blick zuckte von einem Krieger zum anderen. Sie sahen
immer noch schrecklich gefährlich aus, aber wenigstens hatten
sie jetzt ihre Speere gesenkt und schienen ihn nicht mehr umbringen
zu wollen. Eine Flucht war sowieso nicht denkbar, nicht mit Beinen,
denen er nicht vertrauen konnte.
"Nun... ich bin im Moment wohl nicht ganz ich selbst.",
brachte er schließlich hervor.
Das Gelächter verebbte und der erste Krieger musterte ihn
nachdenklich. "Woher kommst du? Du stammst nicht aus unserer
Stadt, soviel steht fest." Es war beunruhigend, menschliche
Emotionen im Gesicht einer Raubkatze zu sehen.
"Ich komme... weit aus dem Norden.", erwiderte Talaan
zögernd. Und da diese Antwort nicht auszureichen schien,
improvisierte er: "Ich wollte helfen, gegen den Westen zu
kämpfen."
Der erste Krieger, offenbar der Anführer, schnaubte verächtlich.
"Wieder so ein Narr der seiner Liebsten beweisen will, wie
tapfer er ist, nicht wahr?"
"Du musst ziemlich dumm sein, wenn du glaubst der Kampf brächte
etwas anderes als den Tod.", fügte der Andere hinzu.
"Wir haben im letzten Monat mehr von unserem Volk verloren
als im Jahr davor. Und dabei hat der Krieg mit den Menschen noch
gar nicht angefangen. Das sind alles nur Grenzscharmützel."
"Außerdem, mein Freund,", schloss der Anführer
mit einem bedrohlichen Grinsen, "wirst du keine große
Hilfe sein, falls du genauso gut kämpfen wie schleichen kannst."
Aus Furcht, sie könnten seine Angst bemerken, sah Talaan
zu Boden. Das ist Wahnsinn! Du sprichst mit Monstern, die Witze
reißen und von Liebe faseln!, schrie sein Verstand.
Wenn er überleben wollte, musste er seine Rolle weiterspielen.
Sollten sie herausfinden, dass er eigentlich ein Mensch war, würde
er auf der Stelle sterben.
"Gebt mir ein Schwert und ich beweise euch meine Nützlichkeit."
Der Zweite spie aus während Rashek fauchte: "Ein Schwert?!
Das ist eine Menschenwaffe, nur zum Töten bestimmt!"
Trotzig erwiderte Talaan sein zorniges Stieren. "Lass sie
doch durch die Waffen sterben, die sie verehren." Das war
absurd! Er hatte die tödliche Eleganz einer guten Schwertklinge
stets bewundert.
Und er war durch eine gestorben.
"Du musst wahrlich von weit her kommen, wenn man dort dieser
Auffassung ist.", brummte Rashek nachdenklich und musterte
Talaan. Was er sah, schien ihm nicht zu gefallen. "Wenn du
wirklich an unserer Seite kämpfen willst, dann musst du mit
einem Speer Vorlieb nehmen. Wir haben keine Schwerter in unserer
Stadt."
Der zweite Krieger stellte sich als Maresh vor. "Und wie
heißt du, schwertschwingender Unbekannter?"
"Mein Name ist Talaan."
"Talaan? Und was soll das bitte heißen?"
Erst jetzt wurde Talaan bewusst, dass er sich in einer neuen,
fremden Sprache mit ihnen unterhielt und ihre Namen auch gleichzeitig
eine Bedeutung hatten. Nun, auch seiner hatte eine gehabt, aber
"Elfenfreund" war wohl kaum das, was sie hören
wollten. Irgend ein Gefühl sagte ihm, dass es hier nie Elfen
gegeben hatte.
"Ich schätze, meine Mutter hatte eine Schwäche
für ausländische Namen.", antwortete er schließlich.
Rashek sagte nichts, aber Maresh murmelte etwas von "müssen
im Norden alles Narren sein".
"Komm jetzt, Talaan.", forderte ihn der Anführer
schließlich auf. "Der Weg zur Stadt ist weit und mit
dir zusammen können wir unseren Auftrag nicht mehr ausführen."
Talaan begann nach einiger Zeit die Wanderung durch den Regenwald
zu genießen. Er kam recht schnell mit seinen Füßen
klar und sog nun alle Eindrücke in sich auf. Seine neuen,
geschärften Sinne waren fantastisch. Er konnte Tiere riechen,
die in der Nähe waren, nahm das zarte Flügelschlagen
der kleinsten Vögel wahr, und sein Blick war klar wie noch
nie. All dies ließ ihn seine Lage für eine Weile vergessen.
Dieser Wald war das pulsierende Leben. Beinahe wie der Junge Wald,
aber dennoch ganz anders. Die Bäume dort waren jung, da sie
von der Zeit nicht berührt worden waren. Dieser Wald hier
war jung, weil er sich ständig aufs Neue selbst gebar. Die
Pflanzen des Urwaldes schienen darauf bedacht zu sein ihre Lebensenergie
geballt zu nutzen, um der nächsten, ebenso kraftvollen Generation
schnell Platz zu machen. Und inmitten dieser Schnelllebigkeit
ragten überall alte, riesige Bäume wie monumentale Säulen
der Beständigkeit empor.
So unzählig viele fremdartige Tiere krochen, liefen, flogen
oder kletterten umher. Kreischten, trällerten, fauchten und
jammerten. Unverwandt sah Talaan sich um und ignorierte die verwunderten
Blicke seiner Begleiter. Für sie mochte das hier Alltag sein,
aber für ihn war es eine nicht versiegen wollende Quelle
der Überraschungen und Wunder.
Die beiden Pumamenschen wagte er nicht anzusehen, obwohl sie für
ihn das größte Wunder waren. Von Urwäldern und
seinen Bewohnern hatte er schon zuvor gelesen und Bilder gesehen.
Aber noch nie hatte er von einer anderen intelligenten Spezies
außer den Menschen und den Elfen gehört.
Außerdem machten sie ihm Angst. Sie waren nur mit einem
Lendenschurz bekleidet, einem Speer bewaffnet und trugen ein kurzes
Messer am Gürtel. Alles in allem schienen sie einem Stamm
Wilder zu entspringen.
Sie bewegten sich mit der tödlichen Grazie von Panthern.
Talaan kam sich gegen sie wie ein grober Klotz vor und erntete
auch einigen sanften Spott deswegen. Die harten Kommentare hatten
schlagartig aufgehört, als sie mitbekamen, dass er nicht
ungeschickt sondern eher hilflos war. Sie sagten, der Schamane
ihres Dorfes könne ihm vielleicht helfen.
Schließlich machten sie Rast an einem kleinen Bach, der
sich mühsam seinen Weg durch den Dschungel erkämpfte
und Talaan hatte zum ersten Mal die Gelegenheit, im Wasser sein
Gesicht zu betrachten. Er hatte zwar erwartet, dass es aussehen
würde wie Mareshs und Rasheks, aber es dann selbst zu sehen
war doch ein Schock. Durch seine Augen sah er direkt in das Gesicht
eines Raubtiers. Sein Gesicht. Er hatte rubinrote Augen, stellte
er fest. Die seiner Begleiter waren beide grün gewesen.
Auf gewisse Weise gefiel ihm sein neues Ich sogar. Er hatte Wildkatzen
schon immer gemocht, damals in einem Leben vor dem Jungen Wald.
Er entblößte seine Zähne und schauderte ein wenig.
Sie sahen schrecklich scharf aus. Er würde aufpassen müssen,
sich nicht auf die Zunge zu beißen, oder er würde an
seinem Blut ersticken.
"Du hattest Unrecht, Rashek.", behauptete Maresh übertrieben
laut. "Unser junger Freund ist nicht wegen seiner Liebsten
hier. Er scheint eher in sein Spiegelbild verliebt zu sein."
Beide lachten lauthals.
Talaan erwiderte gelassen: "Das kann dir nicht passieren,
ich weiß."
Rasheks Lachen wurde noch lauter und Maresh brummte: "Was
soll das jetzt heißen? Ich bin mit einer Frau gesegnet,
die mein Gesicht für das schönste der Welt hält."
Talaan zuckte probehalber mit den Ohren. Als Mensch hatte er das
nie hinbekommen. "Wer versteht schon die Frauen..."
Jetzt konnte sich selbst Maresh das Lachen nicht mehr verkneifen
und Talaan lächelte. So anders waren diese Wesen vielleicht
gar nicht. Er tippte eine Kralle in das träge fließende
Wasser und vertrieb so sein Spiegelbild.
Die Große Stadt verdiente diese Bezeichnung kaum, aber dennoch
kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Jedes Gebäude,
kleine wie große Häuser, war um die Stämme dieser
riesigen Urwaldbäume herum gebaut. Einige Meter über
dem Boden waren die meisten Rundhütten zu finden, aber es
gab auch etliche, die sich in größeren Höhen um
die Stämme schmiegten. Auf den zweiten Blick lebten hier
vielleicht doch mehr MaKri, als er vermutet hatte.
Wenigstens diesen Namen hatte er in Erfahrung bringen können.
Es gab wohl auch noch ein anderes Volk, jenseits des Urwaldes,
das sich TaKri nannte, aber mit dem bestand offenbar kein näherer
Kontakt.
Das Leben selbst schien sich auf dem Boden abzuspielen. Hier wurde
Handel getrieben, Felle verarbeitet, Speere und Werkzeuge gebaut
und vieles mehr. Kinder spielten Fange und tobten unbekümmert
zwischen den Erwachsenen herum, die sich daran gar nicht zu stören
schienen.
Talaan erntete neugierige Blicke, als er von den beiden Kriegern
begleitet durch die Menge schritt. Zwei MaKri waren schon beinahe
zuviel für seinen Verstand gewesen. Jetzt eine ganze Stadt
zu sehen, in denen es von diesen Pumamenschen wimmelte... Er musste
sich zwingen, nicht einfach davonzulaufen.
"Wir werden einen Platz für dich suchen, an dem du wohnen
kannst. Schau dich derweil um, wenn du magst.", erklärte
Maresh. "Morgen werden wir dann weiter sehen, was aus dir
werden soll." Talaan nickte dankbar. Die beiden Krieger fingen
mit einem der Passanten ein Gespräch an und überließen
Talaan sich selbst. Also machte er sich auf, dieses bizarre Volk
näher kennen zu lernen.
Die meisten MaKri trugen nur eine Art Lendentuch, die Frauen zusätzlich
noch einen breiten Stoffstreifen, der ihre Brüste bedeckte.
In dieser schlichten Kleidung und in dieser seltsamen Stadt wirkten
sie absolut wie die rechtmäßigen Ureinwohner des Dschungels.
Menschen würden hier fehl am Platze seien.
Talaan schlenderte ziellos durch die Gegend und sah sich interessiert
um. Auf den ersten Blick wirkten die Pumamenschen eher primitiv,
aber die Werkzeuge die sie verwendeten zeugten von hoher handwerklicher
Fertigkeit. Die Stoffe, welche hier gewoben wurden, sahen schlicht
aus, waren aber angenehm weich und fein gearbeitet.
Die Handwerker gingen ihrer Arbeit ohne große Eile nach,
hielten hier und da einen Plausch und es kam durchaus vor, dass
Einer, der sich unterhalten wollte, selbst zum Werkzeug griff
und mit anpackte. Talaan war nach Schreien zumute. Diese absurde
Normalität eines friedlichen Alltags ließ die MaKri
für ihn wie Menschen wirken, die man in Tierkörper gesteckt
hatte. Die ganze Stadt war wie ein unglaublich grotesker Traum.
Etwas anderes erschien Talaan ein wenig seltsam, und er kam erst
nach einer Weile darauf, was es war. Er sah viel mehr Frauen als
Männer. Erst schob er es darauf, dass die Männer wohl
draußen waren, um den Dschungel nach Menschen abzusuchen.
Aber schon bald merkte er, dass mindestens genauso viele Frauen
wie Männer den Speer trugen. Die Frauen waren hier eindeutig
nicht das "schwache Geschlecht" und dazu deutlich in
der Überzahl.
Unweit des Stadtrandes brach mit einem Male Unruhe aus. Aufgeregte
Stimmen wurden laut und jemand rief: "Holt die Kräuterfrau!
Schnell!"
Neugierig ging Talaan in diese Richtung und war bald am Rande
der zusammengelaufenen Menge angelangt, die etwas umringte, das
er nicht sehen konnte.
"Was ist passiert?", fragte er eine Pumafrau, die am
Rande des Gedränges stand.
"Girrad ist von Menschen überfallen worden. Er wurde
schwer verletzt von zwei Jägerinnen gefunden und hergebracht.",
antwortete sie bedrückt.
Was tun diese Menschen nur? Die MaKri sind fremdartig, aber
keine Monster., dachte er erbost.
Talaan bahnte sich einen Weg durch die Menge. Im Zentrum hatten
die Pumamenschen ein wenig Platz um den Verwundeten herum freigelassen.
Eine Jägerin hockte neben ihm auf dem Boden und presste beide
Hände fest auf den Bauch des Mannes. Viel zu viel Blut klebte
in seinem Fell und war auch auf die Erde geflossen.
Als sich Talaan neben ihm niederließ, blickte die Jägerin
fragend zu ihm auf. "Was tust du hier? Mach Platz für
die Kräuterfrau!"
Talaan ignorierte sie vorerst und untersuchte den Verwundeten.
Sein Atem war flach und unregelmäßig. Immer mehr Blut
quoll zwischen den Händen der Frau hervor. "Ich kann
ihm helfen.", antwortete er schließlich und sah ihr
ruhig in die Augen. Es war nicht leicht für ihn - ihre Augen
waren gelb.
"Was soll das heißen? Du bist weder Schamane noch Kräuterfrau.
Verschwinde, Jüngling!"
Talaan hielt ihren zornigen Blicken mühsam stand. "Ich
weiß ja nicht, was eure Kräuterfrauen zu tun vermögen,
aber bis sie da ist, ist Girrad wahrscheinlich schon tot."
Die Jägerin weigerte sich loszulassen. "Willst du, dass
er stirbt?"
Der Verwundete krümmte sich und stöhnte schwach. Zögernd
nahm sie die Hände von der Wunde und ließ ihn gewähren.
Sofort floss das Blut in Strömen und Talaan legte rasch seine
eigenen Hände auf die Stelle. Dann schloss er die Augen und
konzentrierte sich.
Tausend Jahre bei einem magischen Volk waren nicht spurlos an
ihm vorübergegangen. Die meisten Zauber hatte er in jenem
Buch belassen, das er jenseits des Jungen Waldes gefunden hatte,
aber den Heilzauber nicht. Diesen wertvollsten aller Sprüche
hatte er als Erstes auswendig gelernt.
Doch bevor er auch nur die erste Silbe aussprechen konnte, hatten
sich die Worte bereits in seinem Geist geformt. Sie verschmolzen
zu einem hellblau scheinenden Muster und füllten seinen Körper
mit Energie. Noch nie hatte er Magie auf diese Weise benutzt:
Symbole statt Worte.
Er ließ diese heilende Macht in die schreckliche Wunde fließen
und begann mit der Heilung. Er verband durchtrennte Blutgefäße,
fügte zerrissene Muskeln zusammen und verschmolz jede einzelne
Zelle wieder zu einem Ganzen. Als dieses Werk vollendet war, veränderte
er instinktiv den Strom der Magie derart, dass er nun durch den
ganzen Körper des Geheilten floss und seine Schwäche
fortschwemmte.
Talaan öffnete die Augen und sah auf Girrad hinab. Die Wunde
war wie weggefegt, selbst das Fell an dieser Stelle war wieder
intakt.
"Er braucht jetzt viel zu Trinken und Ruhe. Den Blutverlust
konnte ich nicht ausgleichen.", erklärte er der Jägerin.
Die starrte ihn entgeistert an. Erst jetzt wurde es ihm bewusst,
dass sich kristallenes Schweigen breitgemacht hatte. Alle starrten
ihn an.
Talaan runzelte die Stirn. Kannte dieses Volk keine Magie? Dieser
Gedanke war ihm zuvor noch gar nicht gekommen, schließlich
schienen sie ihm selbst ein Werk der Magie zu sein.
Die Lippen der Jägerin bewegten sich stumm. Formten wieder
und wieder das gleiche Wort, bis es ihr flüsternd entkam:
"Maigan."
Ein Raunen ging durch die Menge und einige MaKri schnappten das
Wort auf und wiederholten es. "Maigan. Maigan!" Dann
durchbrach ein lauter Ruf das gedämpfte Murmeln. "Er
ist ein Maigan! Ruft die Ältesten her!"
Talaan sah die Jägerin fragend an. "Kannst du mir sagen,
was hier los ist?"
Die Angesprochene neigte kurz demütig den Kopf und sah ihn
dann mit leuchtenden Augen an. "Du ehrst unsere Stadt mit
deinem Besuch, Maigan. Es tut mir leid, dass wir nicht eher erkannten,
was du bist, aber du trägst nicht die Zeichen deines Ranges."
Maigan? Rang und Zeichen? Talaan verstand kein Wort, obwohl er
die Sprache der MaKri zu beherrschen glaubte. "Würdest
du mir sagen, was ein Maigan ist?"
Die Jägerin blickte beschämt zu Boden. "Es ist
dein Recht, mich auf die Probe zu stellen, da ich dich nicht erkannte."
Als sie den Kopf wieder erhob hatte sie immer noch dieses begeisterte
Glitzern in den Augen und fuhr in rezitierendem Tonfall fort:
"Seit dem Anbeginn der Zeit gab es Kri, die mit einer Gabe
der Magie geboren wurden und sie stets mit großer Weisheit
verwendeten. Diese Kri werden Maigan genannt und ihr Erscheinen
bedeutete immer, dass unser Volk Beistand gegen ein großes
Übel erhielt." Normal sprach sie weiter: "Deine
Gabe ist die Heilung, Maigan. Und das Übel ist wohl der bevorstehende
Krieg mit dem Westen. Du bist hier, um die Verluste unseres Volkes
zu mindern."
"Du hast wahrlich gut aufgepasst, als dir Unterricht erteilt
wurde, mein Kind.", sagte eine raue Frauenstimme, noch rauer
als die der anderen Kri. Nicht krächzend, sondern eher betörend
rau. "Jetzt sei so freundlich und geh." Die Stimme gehörte
einer Frau, die sich durch ihr würdevolles Auftreten ebenso
von den anderen MaKri unterschied wie durch ihr reich verziertes
Gewand.
"Ich bin Shaila, die Kräuterfrau dieser Stadt. Maigan,
sei willkommen."
Talaan erhob sich und neigte seinen Kopf zum Gruß. "Ich
danke euch. Mein Name ist Talaan. Belasst es bitte dabei."
"Wie du wünscht, Maigan Talaan." Er verdrehte innerlich
die Augen. So hatte er das nicht gemeint. "Die anderen Ältesten
werden bestimmt bald hier sein, um dich ebenfalls zu begrüßen."
Sie verwickelte ihn in ein Gespräch. Sie fragte, wie lange
er bleiben wolle, wo er denn herkäme und solcherlei Dinge.
Vor allem fragte sie ihn über Kräuter und Heilpflanzen
aus, da sie offenbar glaubte, mit seiner Gabe müsse er sich
da auskennen. Sie verbarg ihre Enttäuschung über seine
Unkenntnis recht geschickt.
Es war Talaan geradezu peinlich, dass diese Frau, die ihm an Weisheit
bestimmt einiges voraus hatte und über einen unglaublichen
Wissensschatz der Kräuterheilkunde verfügte, sich ihm
gegenüber beinahe demütig verhielt.
Endlich kamen die anderen Ältesten. Sie stellten sich als
Häuptling Firr, Schamane Tonri, Mahi, Vertreterin der Frauen,
und Jirr, Vertreter der Männer, vor und waren allesamt hochgeehrt,
Talaan in der Großen Stadt willkommen zu heißen. Talaan
versuchte des Öfteren erfolglos sie davon abzubringen, ihn
mit Maigan anzusprechen und gab es dann seufzend auf. Er kam sich
vor wie ein Hochstapler. Er war ja nicht einmal wirklich einer
von ihnen.
Die Ältesten überschütteten ihn mit Fragen, von
denen er nur die wenigsten beantworten konnte. Was er über
den Konflikt mit dem Westen denke, ob er hier sei, weil der Krieg
ausbrechen würde und wann das seiner Meinung nach seien würde.
Sie fragten ihn, ob er schon eine Zeremonie vollführt hätte,
welche sie das "Einführungsritual" nannten und
vieles mehr.
Ihre Fragen prasselten auf ihn ein wie ein Hagelsturm. Er wollte
nur noch fort von hier. Diese Pumamenschen umringten ihn, sahen
ihn ehrfürchtig an und wirkten mit ihrem Äußeren
dabei wie eine Meute, die sich auf ihn stürzen wollte.
Als die Fragen endlich versiegten, mussten sie ihn für einen
kompletten Narren halten, da er so wenig wusste. Statt dessen
waren sie weiterhin freundlich und zuvorkommend. Von einer Traube
von MaKri verfolgt, brachten sie ihn zu einer Hütte, die
auf halber Höhe genau in der Mitte der Stadt lag. Alles sei
vorbereitet und das Haus stehe ihm solange zur Verfügung,
wie er in der Stadt verweilen wollte.
"Vielleicht erweist du unserer Stadt ja die Ehre, und beschließt,
dich hier niederzulassen, Maigan Talaan." Mit diesen Worten
entließen sie ihn endlich in die Freiheit. Hastig verschwand
er in der Hütte und lehnte sich seufzend gegen die Wand.
"Diese Stadt ist total irre.", erzählte er seiner
Unterkunft. "Wenn das so weiter geht, fliehe ich zu den Menschen
und lasse mich abschlachten. Dann hat das alles ein Ende."
Seine Ruhe sollte nicht lange währen.
An diesem Tag kamen einige MaKri, die mit ihm sprechen wollten.
Einige wollten nur einmal den Maigan persönlich gesehen haben,
einige suchten Rat und einige brachten ihre kranken Kinder mit,
damit er sie heilen konnte. Er schickte alle bis auf die wirklich
kranken Kinder wieder fort.
Talaan wollte nur noch seine Ruhe. Die Ereignisse dieses Tages
hatten sich derart überschlagen, dass er endlich mal Zeit
für sich brauchte. Ein weiteres Erwachen, Pumamenschen, ein
drohender Krieg und dann dieser Irrsinn hier.
Einer der MaKri war Rashek. Er wirkte zerknirscht und unsicher.
"Maigan Talaan,", brachte er schließlich hervor,
"Kannst du mir vergeben, dass wir dir den nötigen Respekt
nicht entgegenbrachten, als wir dich zur Stadt geleiteten? Es
war mir nicht bewusst..."
"Glaubst du denn, dein Spott war nicht angebracht?",
unterbrach Talaan ihn unwirsch. Er hatte es satt, dass die Leute
die Hälfte der Zeit auf den Boden starrten, wenn sie mit
ihm sprachen. Zwar fürchtete er ihre Augen, aber sie waren
die Erben der Pumas, stolz und wild, und er wollte nicht, dass
sie sich ihm gegenüber so benahmen.
"Du bist ein Maigan."
"Und nur deswegen ist es normal, wenn ich ,Lärm wie
ein Junges' mache?", fragte Talaan ungläubig. Dieser
Mann war ein sehr erfahrener Jäger und Krieger. Talaan fand
es angebracht, dass er jüngeren MaKri wie ihm Lektionen erteilte.
"Du bist ein Maigan.", wiederholte er. "Du verwendest
deine Zeit nicht für so Banales wie die Jagd. Dass dir darin
Übung fehlt ist verständlich."
Talaan seufzte. "Gib's zu, Rashek, deine fünfjährige
Tochter könnte besser schleichen als ich. Ich habe mich zumindest
so gefühlt."
Die Schnurrhaare des Kriegers zuckten, als er versuchte ein Lächeln
zu unterdrücken.
"Rashek?", bohrte Talaan nach.
Das versteckte Lächeln wurde zu einem offen Grinsen. "Sie
konnte es schon besser, als sie vier war."
"Dann bringe es mir bei!"
Rashek riss erstaunt die Augen auf. "Ich soll dich lehren
wie man schleicht?"
"Schleichen, Spuren lesen, Jagen, einfach alles. Ich habe
schon einige Erfahrung mit der Jagd, aber hier ist alles anders."
Der Krieger schüttelte abwehrend den Kopf. "Ich kann
dir diesen Wunsch nicht erfüllen, Talaan. Auch wenn du auf
mich eher den Eindruck eines Kriegers als den eines Maigans machst,
bist du dennoch ein Maigan. Ich kann dein Leben nicht in der Wildnis
aufs Spiel setzen."
"Warum nicht? Mein Leben gehört mir."
"Dein Leben gehört den MaKri, Maigan Talaan.",
erwiderte Rashek mit fester Stimme. Sein Blick wurde unnachgiebig.
Talaan seufzte erneut. "Du lässt dich nicht irgendwie
umstimmen, oder?" Da das eher eine rhetorische Frage war,
erwartete er auch keine Antwort. "Nun ja, einen Versuch war
es wert." Mit einem Lächeln fügte er hinzu. "Grüß
deine Kleinen von mir, Rashek."
"Das werde ich. Bis morgen, Talaan."
"Morgen?"
"Das Ritual. Ich werde dich abholen."
Talaan verzichtete darauf zu fragen, welche Zeremonie er meinte.
Das klang irgendwie nach noch mehr Trubel und Irrsinn. "Dann
bis morgen, Rashek."
Erst als Rashek gegangen war, wurde Talaan bewusst, was er da
eben getan hatte. Eine Weile hatte er vergessen, dass er sich
mit einem MaKri unterhielt. Es war so normal gewesen.
Die letzte Störung an diesem Tag erfolgte durch eine schüchterne
MaKri, die ihm mit gesenktem Blick ein reich verziertes Lendentuch
brachte. Es war aus feinem, weichen Stoff und mit Silberfäden
durchwirkt. Die verschlungenen Symbole darauf erweckten einen
mystischen Eindruck ohne einen Sinn zu ergeben.
"Was ist das?"
"Die Zeichen, die dir gebühren, Maigan.", antwortete
sie mit einem kurz aufblitzendem Lächeln und verschwand dann
hastig.
Talaan musterte das Kleidungsstück ungläubig. Sie mussten
es in Windeseile für ihn genäht haben, denn das einzige
Zeichen, das klar zu entziffern war, stand für die Heilung.
Wenigstens haben sie nicht meinen Namen draufgestickt.
Mit einem Seufzer warf er das protzige Lendentuch durch den Raum
und würdigte es keines Blickes mehr. Na ja, heute ist
mein erster Tag hier. Diese sprechenden Raubkatzen werden sich
schon an mich gewöhnen. Schlimmer kann es nicht kommen.
Er rannte durch den Dschungel, er verfolgte etwas, er jagte es.
Die Witterung des Rehs brannte in seinen Nüstern und füllte
sein ganzes Denken aus. Das Blut pumpte durch seine Adern, rauschte
in seinen Schläfen. Sein Atem floss in einem pulsierenden
Strom durch seine Lungen und berauschte ihn zusätzlich. Sein
ganzes Ich war auf die Jagd ausgerichtet. Sein Ich war ein Raubtier.
Er konnte die Angst seiner Beute riechen. Dieser Duft zog sich
wie ein hell leuchtendes Band vor ihm hin. Das Reh brach vor ihm
durch das Unterholz, im verzweifelten Versuch, ihm zu entkommen.
Er war der Jäger, es würde nicht entkommen.
Mit federnden Schritten holte er auf, kam ständig näher.
Unerbittlich, unaufhaltsam. Mit einem gewaltigen Satz sprang er
nach vorn. Er grub seine Krallen tief in Flanke des Tiers und
riss es zu Boden. Das Reh trat verzweifelt um sich, traf ihn mit
seinen Hufen, aber er spürte den Schmerz kaum. Er schnappte
nach der Kehle seines Opfers und trieb seine Zähne tief in
das schmackhafte Fleisch.
Das Reh zuckte in seinem Todeskampf hin und er, aber er ließ
nicht locker. Der Geruch des Tieres vermengte sich mit dem von
frischem Blut, welches zwischen seinen Zähnen hervorquoll.
Schreiend erwachte er aus seinem Traum. Sein Herz raste, das Blut
pulsierte, sein Verstand war vernebelt von dem Drang, seiner Beute
zu folgen. Er wusste nicht wo er war, wusste nicht wer er war.
Sein bewusstes Denken war unter seinen Jagdinstinkten begraben.
Er atmete mehrfach tief durch und die kühle Nachtluft klärte
seinen Kopf. Talaan. Richtig, das war sein Name. "Talaan."
Er rollte sich verängstigt zusammen und schlang die Arme
um seine Knie.
Immer noch konnte er den Drang verspüren, aus dem Haus zu
treten, um im Wald auf die Jagd zu gehen. Er verstand nicht, was
mit ihm geschah. Bedeutete es das, ein MaKri zu sein? Ab und zu
von Instinkten überwältigt und zu einem Tier zu werden?
Lange lag er mit offenen Augen da und hatte Angst vor neuen Träumen.
Rashek weckte ihn, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Kronen
der Bäume brachen. "Wach gefälligst auf, ich habe
meiner Tochter versprochen, dass sie heute den Maigan zu Gesicht bekommt."
Talaan streckte sich und gähnte herzhaft. Ihm fehlten die
Stunden, die er wachgelegen hatte. "Dann sag deinem Mädchen,
sie soll mich besuchen kommen, und lass mich weiterschlafen."
Etwas Spitzes piekste ihn in die Rippen und er sprang auf. Rashek
grinste ihn über seinen ausgestreckten Speer hinweg an. "Verzeih,
Maigan, aber mein Speer ist mir wohl durch die Finger geglitten."
Talaan lachte still in sich hinein. "Endlich mal ein MaKri,
der bei Sinnen ist. Ist es schon soweit, Rashek?"
"Noch nicht sofort. Aber wenn du in gesellschaftlichem Umgang
genauso gut bist wie im Schleichen, dann brauchst du wohl noch
ein wenig Unterricht."
Talaan nickte und hörte zu.
Die ganze Stadt war versammelt, wie es schien. Die meisten Kri
hielten sich am Boden auf und umringten den zentralen Marktplatz.
Aber es gab auch einige, die aus den Fenstern der tiefliegenden
Häuser schauten oder auf den die Häuser umgebenden Plattformen
und Hängebrücken saßen.
Der Weg von seiner Hütte hinab führte zunächst
vom Zentrum weg, so dass Talaan durch eine Gasse der unten wartenden
Menge gehen musste, um zum Platz zu gelangen. Rashek ging immer
einen Schritt vor ihm und hielt seinen Blick fest geradeaus gerichtet.
Nur einmal blickte er zur Seite und ein kaum sichtbares Lächeln
lag auf seinem Gesicht. An dieser Stelle stand ein kleines Mädchen
in der ersten Reihe und starrte Talaan mit großen Augen
an.
Talaan ging zu dem Mädchen hin und kniete sich nieder. "Bist
du Rasheks Tochter?", fragte er und das Mädchen nickte
stumm mit großen Augen. Talaan streichelte ihr über
den Kopf und sagte: "Du hast einen großartigen Vater,
meine Kleine." Das Mädchen brach in ein stolzes Lächeln
aus und ihre Augen strahlten.
Die Fröhlichkeit des Kindes beruhigte Talaan ein wenig und
er folgte Rashek nun mit leichterem Herzen. Die kleinen MaKri
sahen regelrecht niedlich und nicht im Geringsten gefährlich
aus. Wenn der ganze Trubel hier dafür sorgte, dass er Kinder
fröhlich machte, war er die Mühen vielleicht sogar wert.
Als er die staunende, gaffende Menge hinter sich gebracht hatte,
trat er endlich auf den zentralen Platz. Der bestand aus einer
großen, kreisrunden, steinernen Fläche, die aus einem
eigenartig bläulichen Gestein gefertigt war. Es fühlte
sich angenehm warm und rau unter seinen Fußballen an.
Talaan bemerkte die befremdlichen Blicke der fünf Ältesten,
jeder in schmuckvolle Roben gehüllt, weil er nicht das symbolgesättigte
Lendentuch trug, und ignorierte sie. Er würde nichts tun,
um sich von den anderen MaKri abzuheben. Was dieses Volk mit ihm anstellte war schon mehr als genug.
Der Häuptling begann mit seiner Ansprache und das Gemurmel
in der Menge erstarb. Was ihn nun erwartete wusste Talaan nicht,
da auch Rashek nichts genaueres zu sagen wusste.
"Seit nunmehr achtzig Jahren hat es unter den MaKri keinen
Maigan mehr gegeben. Dieser junge Mann, der nun vor uns steht,
ist einer. Und er erweist uns die Ehre, sein Einführungsritual
in unserer Stadt durchzuführen."
Obwohl das natürlich jeder hier wusste, brachen die Bewohner
in schallenden Jubel aus. Seit 80 Jahren? Allmählich
verstand Talaan, warum ihn die Leute wie eine Rarität behandelten.
"Jeder dieser Wenigen verfügte über eine besondere
magische Gabe, die er zum Wohl unseres Volkes einsetzte. Die Gabe
Maigan Talaans liegt in der Heilung von Wunden und Krankheiten."
Über diesen Punkt wunderte sich Talaan ein wenig. Heilung
war mit Sicherheit nicht das Einzige, was er mit seiner Magie
vermochte. Aber diese Tatsache behielt er wohlweißlich für
sich. Er wollte nicht noch mehr Unruhe um seine Person.
"Tritt vor, junger Maigan, und beweise uns, dass du diesen
Titel zu Recht führst."
Talaan trat vor die Ältesten. "Ich stehe vor euch, Älteste
der Stadt, aber ich sehe keine Verwundeten oder Kranken hier.
Wen soll ich heilen?"
Mit dieser Frage hatten die Ältesten freilich gerechnet.
Sie winkten Rashek herbei. "Diese Ehre wird mir zuteil werden.",
antwortete er weit hörbar.
Noch bevor Talaan irgend etwas unternehmen konnte, zog Rashek
sein Messer aus dem Gürtel und fuhr mit einer fließenden
Bewegung über seinen rechten Oberschenkel. Die Klinge drang
tief in das ungeschützte Fleisch ein und Rashek ging mit
einem unterdrücktem Stöhnen zu Boden.
Mit vollkommener Ungläubigkeit sah Talaan all dem zu. "Seid
ihr denn von Sinnen, ihr Narren?", schrie er und kniete neben
Rashek nieder. Der Krieger biss die Zähne zusammen und sah
Talaan mit ruhiger Zuversicht an.
Talaan legte seine Hand auf die stark blutende Wunde und packte
dabei ein wenig fester zu, als es notwendig war. "Wenn ich
sicher seien könnte, dass du daran nicht verblutest, dann
würde ich die Wunde so lassen wie sie ist. Wie kann man bloß
auf die Idee kommen, sich nur für einen dummen Test derart
aufzuschneiden, hm?"
Diesmal versuchte er erst gar nicht den Zauber auszusprechen,
sondern formte gleich in seinem Geist das Symbol der Heilung.
Die MaKri-Gestalt schien die Magieströme noch zu verstärken
und die tiefe Wunde schloss sich mühelos.
Talaan stand auf und funkelte die Ältesten böse an.
"Ich will Schmerzen nehmen, nicht die Ursache für sie
sein."
Die Kräuterfrau und der Schamane neigten zustimmend ihr Haupt.
"Es wird nicht wieder geschehen." Und zu der Menge gewandt
rief der Schamane: "Dieser Mann hat sich als Maigan bewiesen
und seine Gabe ist die Heilung."
Die versammelten MaKri brachen wieder in Jubel aus. Talaan zeigte
ein pflichtbewusstes Lächeln. Er war kurz davor, jeden Jubelnden
einen Narren zu schimpfen, aber die Erinnerung an Rasheks ernsten,
vertrauensvollen Blick hielt ihn davon ab. Er selbst war hier
der Narr. Er ließ sich als MaKri feiern, dem das Schicksal
eine magische Gabe geschenkt hatte, statt dessen war er ein zauberkundiger
Mensch, den das Schicksal in die Gestalt eines Kri gezwängt
hatte. Dieses Volk hatte seinen eigenen Glauben und es war nicht
an ihm, diesen als närrisch abzutun, nur weil er ihn nicht
verstand.
Jirr, der Vertreter der Männer, reichte Talaan eine mit einem
Tuch bedeckte Steintafel. "Wie es der Brauch fordert, übergebe
ich dir die Erste Schrift des Orakels. Seit dem Jahr, da die Kri
vor undenkbar langen Zeiten das Orakel fanden, wird jeder neu
gegründeten Siedlung ein Abbild der Ersten Schrift anvertraut.
Sie birgt einen Zauber, darin waren sich alle bisher lebenden
Maigan einig. Doch niemand war jemals in der Lage, seine Kraft
einzusetzen. So ist es seit Jahrtausenden Tradition, dass jeder
neu eingeführte Maigan versucht, seine Bedeutung zu entschlüsseln.
Nun ist es an dir, Maigan Talaan. Siehe die Schrift des Orakels."
Talaan schob das Tuch beiseite und blickte auf Schriftzeichen
in der Sprache der MaKri hinab. Zu seiner Überraschung war
es die Beschreibung für ein magisches Geistsymbol. Darunter
standen die Worte geschrieben: "Die Erinnerung ist ein Teil
der Gegenwart."
Und tatsächlich war das Symbol unvollständig, welches
Talaan in seinem Geist zu formen versuchte. Wie er es auch drehte
und wendete, gleich welche richtig erscheinenden Striche und Bögen
er anfügte, bewirkte der Zauber nichts.
Er wollte schon aufgeben, als er plötzlich verstand, was
dieser halbfertige Zauber darstellte. Er sollte die Gestalt verändern,
brauchte aber eine genaue Beschreibung der gewünschten Kreatur.
Äußeres, Organe, Gefühle, einfach alles.
Vorsichtig flocht Talaan die Erinnerung an sein letztes Leben
in das Symbol ein. Es wuchs immer mehr, bis in seinem Geist ein
riesiger Gobelin erstrahlte. Noch ein wenig mehr und er wahr plötzlich
vollständig.
Magische Ströme woben sich um seinen Körper, umkreisten
ihn wie tobende Geister. Sie zogen sich enger um ihn zusammen
und sanken schließlich in ihm ein.
Ein Gefühl, als würde ihn jemand wie feuchten Lehm durchkneten
und verformen, durchdrang sein Bewusstsein. Etwas zog ihn, etwas
schob ihn. Noch bevor er Ordnung in seine Gedanken bringen konnte
war alles schon wieder vorbei.
Talaan fühlte sich seltsam. Er wollte einen Schritt zurück
tun und fiel hin. Sein Schwanz hatte ihn im Stich gelassen. Nein.,
korrigierte er sich. Sein Schwanz war fort. Genau wie sein Fell,
seine Krallen. Er war wieder...
"Ein Mensch!", hauchte der Schamane und Unruhe brach
in der Menge aus, als jeder mit jedem zu sprechen begann.
Talaan sah ungläubig an sich hinab. Wieder ein Mensch. Genau
der gleiche Körper, in dem er noch letzte Woche gelebt
hatte. Das war zu verrückt. Aber auch irgendwie phantastisch.
Gestaltenwandel!
Er versuchte, das magische Muster wieder in seinem Geist aufzubauen,
scheiterte aber im Ansatz. Er versuchte es erneut - vergebens. "Ich
bin gefangen.", stöhnte er. "Die Magie wirkt in
diesem Körper anders und ich kenne den Zauber nicht!"
Hilfesuchend sah er zu den Ältesten auf.
Wenn sie innerlich aufgeregt waren, zeigten sie es nicht. "Die
Rückseite.", sagte der Schamane. "Wir konnten die
Schrift nicht entziffern."
Hoffnungsvoll drehte er die Steintafel um und traute seinen Augen
nicht. Was dort stand war unmöglich. Einige Schreibfehler
erschwerten das Übersetzen, aber es war ganz klar: Es waren
Worte der selben alten Sprache, in der auch sein altes Zauberbuch
geschrieben war. Hastig überflog er die Zeilen und schon
bald bestand kein Zweifel mehr. Es war der selbe Wandlungszauber,
nur diesmal in der alten Sprache.
Rasch korrigierte Talaan die Fehler mit seinem Messer und grinste
zufrieden. Das sollte wirken. Mit der notwendigen Gestik, welche
die einzelnen Silben unterstrichen, beschwor er den Zauber. Er
konzentrierte sich dabei auf die Gestalt als MaKri und noch während
er die letzten Worte ausstieß, begannen die magischen Ströme
um ihn zu fließen.
Entzückt spürte er die Schritte der Verwandlung. Ein
Schwanz wuchs in sekundenschnelle, seine Füße verformten
sich zu kräftigen Sprunggelenken, Fell spross und sein Mund
formte sich zur Schnauze. Dies war nur ein Bruchteil der ganzen
Erfahrung, aber die Verwandlung war vollständig, bevor er
mehr Eindrücke aufnehmen konnte.
Talaan stieß ein triumphierendes Brüllen aus. Seine
Stimme war wieder kraftvoll genug dafür. Dieser Körper
fühlte sich richtig an.
"Darf ich die Tafel noch eine Weile behalten?", fragte
er die Ältesten. "Ich würde sie gerne studieren."
Häuptling Firr antwortete ihm in ungläubigem Ton:
"Diese Tafel hat auf dich gewartet, Talaan, sie ist dein.
Du hast die einzige Prophezeiung des Orakels erfüllt."
"Aber warum schickt das Orakel diesem Maigan die Gestalt
eines Menschen?", wunderte sich Mahi.
Jirr schüttelte den Kopf und begann fröhlich zu lachen.
"Darüber zerbrechen wir uns später den Kopf, Freunde.
Jetzt ist es Zeit zu feiern!"
Das Fest dauerte viele Stunden und es gab üppige Speisen,
aber Talaan kam vor lauter Fragen fast nicht zum Essen. Dabei
hätte er so gerne mehr von der Feier mitbekommen. Allmählich
gewöhnte er sich an die MaKri. Sie feierten ausgelassen,
scherzten und lachten, tanzten und musizierten. Es war ein ganz
normales Fest, nur mit äußerst ungewöhnlichen
Wesen.
Talaan lag auf den Fellen, die sein Bett waren, und konnte nicht
schlafen. Die Gedanken jagten sich in seinem Kopf, überschrieen
einander und fraßen sich teilweise gegenseitig auf.
Ihm war sofort eine Idee gekommen, wie er seine menschliche Gestalt
einsetzen konnte. Den Feind unter der Maske des Menschen auszukundschaften und
wenn m\xF6glich an entscheidenden Stellen Schaden zuzuf\xFCgen. Doch die Idee, sich in
einen Krieg mit den Menschen hineinziehen zu lassen, gefiel ihm
überhaupt nicht.
Und was sollte aus ihm werden? Er hatte es heute deutlich gemerkt.
So sehr sich die MaKri auch wie Menschen verhielten, gab es doch
Momente, in denen sie vollkommen anders waren. Ihre ganze Kultur
war recht befremdlich und ihr Sittenbild verstand er auch nicht.
Er war ein Fremder in einem fremden Land, lebte unter fremden
Wesen und steckte in einem Körper, der ihm eine Menge Rätsel
aufgab.
Über diesen Punkt war er mit sich selbst nicht ganz einig.
Es bereitete ihm einiges Vergnügen, ein neues Körperteil
zu haben und er begriff langsam, wie er mit dem Schwanz auch bewusst
arbeiten konnte. Und das Fell war zwar gewöhnungsbedürftig,
aber es fühlte sich gut an, wenn er darüber strich.
Die ausfahrbaren Krallen an Händen und Füßen hatten
auch einen gewissen Reiz.
Andererseits wüteten in ihm diese eigenartigen Gefühle.
Den ganzen Tag über hatte er sie nicht bemerkt, aber in der
Ruhe fühlte er wieder seine Instinkte triebgleich an seinem
Verstand zerren. Es war nicht ganz so schlimm wie nach dem Albtraum
der letzten Nacht, aber es kostete ihn einigen Willen, ihnen nicht
nachzugeben.
All diese Gedanken folgten ihm in einen unruhigen Schlaf, aus
dem er immer wieder erwachte. Er hatte das Gefühl, gar nicht
zu schlafen, sondern permanent von seinen Sorgen und Wünschen
eingekreist zu werden.
Zehn Tage später war Talaan sicher, in der Hölle zu
leben. Vom frühesten Morgen bis in die tiefste Nacht belagerten
die MaKri sein Haus. Er empfing die ganze Zeit über Einen
nach dem Anderen. Er erteilte Ratschläge, plauderte mit den
Leuten oder hörte einfach nur zu. Der einzige Grund, warum
er diesen ganzen Rummel überhaupt mitmachte, waren die wenigen
Fälle, bei denen er wirklich das Gefühl hatte helfen
zu können. Obwohl er überhaupt nicht einsah, warum die
ganze Stadt auf einmal zu ihm kam, anstatt sich bei Freunden
auszuweinen, Ratschläge zu suchen und andere Angelegenheiten zu besprechen.
Häufig saß er nur da, hörte halbherzig zu, während
er seinen eigenen Gedanken nachging. Jeder, der ihn besuchte,
hätte ihm helfen können. Sie waren ein Leben
lang Kri gewesen und kannten ihre Körper und ihre Lebensart.
Talaan war zu einer Attraktion geworden. Die MaKri hielten ihn
jetzt zusätzlich zu diesem Maigan-Gehabe auch noch für
"vom Orakel erkoren". Soweit er das verstanden hatte
war das Orakel nichts, das etwas oder jemanden erwählte,
aber daran störten sich die MaKri überhaupt nicht.
Er traute sich nicht mehr aus dem Haus, denn jedes Mal, wenn er
die Stadt und die MaKri kennen lernen wollte, war er sofort von
unzähligen Bittstellern umgeben, die das Eine oder Andere
von ihm wollten. Solange er im Haus blieb stellten sie sich wenigstens
an, um ihn der Reihe nach zu "besuchen".
Manchmal beobachtete er sich von außen, stand neben sich,
während er ein Alltagsleben führte, an dem so gar nichts
alltäglich war. Dann sah er sich lächeln und tröstende
Worte sprechen, während er in seinem Innern schreiend wegrennen
wollte. Er wollte frei sein.
Und seit gestern trafen auch noch Bewohner von anderen Städten
und Dörfern ein. Das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Talaan versuchte mehrmals an diesem Tag aus der Stadt zu fliehen,
aber immer wurde er von irgend jemanden entdeckt, angesprochen
und dann war es vorbei mit dem heimlichen Davonstehlen.
Inzwischen war die Sonne hinter dem Horizont versunken. Trotzdem
belagerte eine kleine Gruppe in einigem Abstand sein Haus - sie warteten auf
morgen. Talaan
hatte endg\xFCltig genug. Er wollte Ruhe, er wollte frei seien
und endlich leben.
Er zermarterte sich den Kopf darüber, wie er wenigstens für
eine Weile entkommen konnte. Seine Hütte war inzwischen zu
einem Gefängnis geworden. Schließlich viel ihm ein
Ort ein, wo er ungestört seien würde. Und das ungesehene
Entkommen sollte kein Problem darstellen.
Es war schon spät und so stieß sein kleiner Schlafzauber
auf wenig Widerstand, als er ihn über die MaKri vor seiner
Hütte aussprach. Alle versanken in den Tiefschlaf und nicht
einmal trampelnde Elefanten konnten sie jetzt noch aufwecken.
Talaan zog ein paar Schatten um sich zusammen und glitt durch
die Haustür. Nun war es Zeit zu sehen, wie gut er noch im
Baumklettern war. Mit einem Satz sprang er an die Dachkante, schwang
sich auf das Dach und erreichte bald den Stamm in der Mitte. Seine
Krallen an Händen und Füßen boten ihm mehr als
genug Halt, um den Baum zu bezwingen. Schon bald war er zwischen
den ersten Blättern verschwunden.
Talaan erreichte die letzten Äste der Baumkrone und seufzte
erleichtert, als er sicher auf einem der dicksten zu sitzen kam.
Zweimal wäre er beinahe doch abgestürzt. Er steckte
seinen Kopf aus dem Blätterdach heraus und sog die kühle,
klare Nachtluft tief ein. Die Sterne glitzerten im samtenen Schwarz.
Es war das erste Mal, dass er den Sternenhimmel vollständig
zu Gesicht bekam und er war nicht sonderlich überrascht,
kein einziges Sternbild wiederzuerkennen. Ein neues Leben, eine
neue Welt, ein neuer Himmel.
"Ah... eine herrliche Nacht.", seufzte er wonnig und
streckte sich gemütlich auf dem Ast aus, Schwanz und Pfote
ließ er genüsslich baumeln.
"In der Tat.", antwortete eine männliche Stimme
von irgendwo anders in der Baumkrone. Der Kopf eines MaKri tauchte
auf und sah ihn finster an. "Sag, Freund, warum kann ich nicht
einfach meine Ruhe haben? Ich dachte hier, über die Hütte
des Maigan, würde sich niemand hintrauen."
Talaan konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. "Dann hatten
wir beide wohl die gleiche Idee. Ich suche mir gerne einen anderen
Baum, wenn dir das lieber ist."
Der Kopf des Kri verschwand wieder unter den Blättern. "Ach
lass nur. Aber wenn du mich irgend etwas über den Maigan
fragst, stürze ich mich vom Baum. Das ist ein Versprechen."
"Gut. Ich verspüre nicht den Wunsch, über diesen
Mann zu sprechen." Talaan bettete seinen Kopf auf eine Pfote
und schloss die Augen. Er schwamm jetzt mitten im wispernden Rascheln
der Blätter und der Wind strich liebkosend durch sein Fell.
Er hatte sich noch nie so wohl und entspannt gefühlt wie
jetzt.
"Wovor bist du eigentlich auf der Flucht?", drang die
Stimme des MaKri zu ihm herüber.
Talaan streckte sich wohlig und antwortete: "Die gesamte
Stadt steht auf dem Kopf. Egal wo ich hingehe, höre ich nur
Maigan, Maigan, Maigan."
Ein amüsiertes Lachen erklang. "Du sprichst mir aus
der Seele, mein Freund. Hast du etwa auch was mit diesem Talaan
zu tun?"
"Nun... gewissermaßen."
"Dann weißt du ja, wie das ist. Ständig fragt
dich Einer solchen Unsinn, wie: ,Du hast ihn gesehen? Wie ist
er denn so?'" Er fuhr mit verstellter Stimme fort: ",Ist
er wirklich so weise, wie man sich erzählt?' oder sogar",
seine Stimme wurde hoch und übertrieben weiblich, ",Meinst
du, dass er an meiner Tochter gefallen finden könnte? Sie
sollte sich endlich einen Mann suchen, weißt du.'",
der MaKri knurrte laut. "Keinen interessiert es, dass ich
bewusstlos war, als mich der Maigan geheilt hat. Und alle wollen
sie meine Wunde sehen und staunen Achs und Ohs, weil ja gar nichts
zu sehen ist. Ich habe es satt. Er hätte mich damals krepieren
lassen sollen, dann ginge es mir jetzt besser."
Talaan hob erstaunt den Kopf. "Du bist Girrad.", stellte
er fest. Er hatte den Kri im Schatten der Blätter nicht wiedererkannt.
"Oh nein!", seufzte der, "Du hast auch von mir
gehört. Bitte hab Gnade und lass mich in Ruhe."
"Wie du willst.", stimmte Talaan grinsend zu und legte
seinen Kopf wieder auf seine samtweiche Hand. Nie wieder Kissen.,
dachte er. Nie wieder ein Bett. Das hier oben war einfach
zu himmlisch. Er schloss erneut die Augen.
"Du meinst, du willst mich wirklich gar nichts fragen?"
Es klang nicht enttäuscht sondern nur sehr überrascht.
"Nicht das Winzigkleinste. Glaub mir, ich weiß wovon
du sprichst. Und es ist noch schlimmer geworden, seit auch noch
MaKri aus den anderen Siedlungen eingetroffen sind."
"Ha! Du sagst es. Es gibt sogar Leute die sich zu mir durchgefragt
haben. Sie wollten ,einen Zeugen des Wunders' kennen lernen."
"Die Welt ist verrückt geworden mein Freund,",
schloss Talaan, "und wir sind die einzig verbliebenen Vernünftigen."
"Glaub' ich nicht. Auf den anderen Bäumen hocken auch
ein paar. Deswegen bin ich hierher geflohen."
"Dann gibt es ja noch Hoffnung für unser Volk.",
knurrte Talaan sarkastisch.
Ein angenehmes Schweigen machte sich breit. Talaan träumte
ein wenig vor sich hin und gab sich voll der bezaubernden Nacht
hin. Er würde jetzt jede Nacht hier herkommen, soviel war
klar. Und jeden außer Girrad würde er eigenhändig
runterwerfen, der ihm diesen Platz der Ruhe streitig machte. Ein
Vogel stieß in der Nähe einen langgezogenen, hohen
Schrei aus.
"Meinen Namen kennst du ja nun,", drang wieder Girrads
Stimme durch die Zweige., "wie ist deiner, mein Freund?"
"Talaan.", murmelte er schläfrig. Es krachte laut,
als Zweige brachen und etwas ein Stück nach unten fiel. "Girrad?
Lebst du noch?"
Ein verstimmtes Knurren drang von unten zu ihm herauf. "Natürlich.
Ich wollte mir nur mal kurz die Pfoten vertreten."
"Sicher."
"Willst du etwa andeuten, ich währe vor Schreck vom
Ast gestürzt?" Girrads Stimme kam näher.
"Dieser Eindruck hat sich mir kurz aufgedrängt, ja."
Girrads Knurren war nun ganz nahe und Talaan konnte ihn nun zwischen
den Zweigen ausmachen. Der Krieger setzte sich auf einen der Äste
schräg unter Talaan und lehnte sich mit dem Rücken an
den Stamm.
"Du bist wirklich Talaan, oder war das ein Scherz?"
"Kein Scherz."
Girrad wirkte zerknirscht. "Es tut mir leid, wenn ich respektlos
ge..."
"Fängst du jetzt auch noch damit an? Dann werfe ich
dich so runter, dass dich keine Äste mehr auffangen."
"Ist es so schlimm?", fragte Girrad zweifelnd.
Talaan seufzte. "Schlimmer. Nimm deine Sorgen mal zehn und
du hast es so ungefähr."
"Aber du kannst doch wenigstens wirklich helfen, du bist
schließlich ein Maigan."
"Nun gut, man fragt mich nicht, ob ich weise bin oder so
einen Unsinn, aber weswegen die Leute zu mir kommen ist schon
erstaunlich. Die Kräuterfrau, zum Beispiel, kommt jeden Tag
bei mir vorbei und will die Wirksamkeit von irgendwelchen Pflanzen
beurteilt haben. Dabei kann ich kaum eine Orchidee von einem Nachtschatten
unterscheiden und sage ihr das auch jedes mal.
Oder eine Mutter kommt mit ihrem sechsjährigen Sohn, weil
der Husten hat. Husten! Und Liebespaare, die mich fragen, ob sie
sich segnen lassen sollten, als ob ich das beurteilen könnte.
Zerstrittene Freunde, setzen mich als Schlichter ein. Ein Junge
konnte sich nicht entscheiden, ob er Handwerker oder Jäger
werden soll und seine Schwester will entweder Kräuterfrau
oder der erste weibliche Schamane werden."
Talaan schüttelte den Kopf. "Und meistens, wenn ich
ein wenig nachbohre, dann hat jeder die Lösung zu seinem
Problem eigentlich schon mitgebracht. Und so geht das von früh
bis spät, schon zehn Tage lang. Manchmal habe ich den Eindruck,
die gesamte Stadt will ihren gesunden Verstand auf mich
abwälzen."
Girrad schmunzelte. "Dann weiß ich ja, wo er abgeblieben
ist."
Talaan schnaubte immer noch verärgert und erwiderte sein
Lächeln. "Manchmal möchte ich einfach fortgehen
und irgendwo noch mal von vorn anfangen."
"Was hält dich auf? Ich habe eine Frau und ein Kind,
aber du bist frei, Talaan."
"Frei..." Talaan ritzte mit seinem Zeigefinger Kreise
in die Rinde. "Ich... kenne mich nicht im Dschungel aus."
"Wie, du kennst dich nicht aus?"
"Ich kann nicht mal Norden von Süden unterscheiden,
geschweige denn, dass ich weiß, wo die anderen Siedlungen
liegen."
"Du nimmst mich auf den Arm. Du hast doch schließlich
auch hergefunden."
"Genau genommen haben mich Rashek und Maresh gefunden, während
ich durch den Wald stolperte."
Girrad kniff die Augen zusammen und musterte Talaan eingehend.
"Und du machst Witze über Männer, die vor Schreck
vom Ast fallen?", fragte er mit gespieltem Ernst.
"Ich neige mein Haupt in Demut, Girrad.", behauptete
Talaan.
"Wenn du nicht Jagen kannst, musst du es eben lernen.",
schlug Girrad vor.
"Wie denn? Ich habe einmal Rashek deswegen angesprochen,
aber der hat nur gemeint, mein Leben gehöre den MaKri, und
sich geweigert. Das bekomme ich jedes Mal zu hören, wenn
ich einen Jäger frage."
"Wenn dir das nicht albern vorkommt, dann kann ich dein Lehrer
sein.", bot sich Girrad an.
Talaan blickte überrascht zu ihm hinab. "Das würdest
du tun?"
"Du hast mir das Leben gerettet, Talaan. Und außerdem
müssen wir Baumflüchtigen doch zusammenhalten."
"Abgemacht!" Vielleicht würde doch noch alles gut
werden.
Sie unterhielten sich noch eine lange Zeit, während der Vollmond
über das dunkle Meer der Urwaldbäume glitt. Talaan machte
es nichts mehr aus, dass Girrad ein MaKri war. Von all den Leuten,
mit denen er in den letzten Tagen zu tun gehabt hatte, war dieser
Mann der einzige bei Verstand. Beide genossen es, endlich mal wieder
ein vernünftiges Gespräch zu führen und so verging
die Zeit wie im Flug.
Schließlich verabschiedete sich Girrad. Seine Frau wartete
auf ihn. Talaan hingegen machte es sich auf seinem Ast bequem
und schlief diese Nacht besser als alle Nächte zuvor.
Am nächsten Morgen entkamen sie der Stadt, indem sie sich
einen Weg durch die Baumkronen suchten. Für Talaans Geschmack
waren dafür zu viele gewagte Sprünge von Ast zu Ast
nötig, aber Girrad schien sich köstlich zu amüsieren.
"Ich bin das letzte Mal vor siebzehn Jahren, als ich noch
ein Junge war, auf diesem Weg aus der Stadt geschlichen. Mein
Vater hat mir dafür die Ohren langgezogen.", erzählte
er strahlend.
Als sie endlich wieder sicheren Boden unter den Füßen
hatten, begann Girrad mit dem Unterricht. Er zeigte Talaan, worauf
es bei der lautlosen Fortbewegung ankam, zeigte ihm eine Pflanzenart,
die bevorzugt an der Südseite der Riesenbäume wuchs,
worauf er achten musste, um im ewig flackernden Zwielicht des
Dschungels die Sonnenrichtung richtig einzuschätzen und vieles
mehr. Talaan musste sich zusammennehmen, damit er den Erklärungen
Girrads folgen konnte, und nicht ständig von exotischen Blumen
und noch eigenartigeren Tieren abgelenkt wurde.
Der Tag verging schnell und als es zwischen den Bäumen dunkel
wurde, schlug Girrad vor, zur Stadt zurückzukehren.
"Ich werde nicht mitkommen.", widersprach Talaan. "Zum
ersten Mal fühle ich mich frei, Girrad. Ich bin ein MaKri
und nicht dazu geschaffen worden Tag ein, Tag aus in einer Hütte
zu hocken und angegafft zu werden."
"Aber du weißt noch überhaupt nichts. Du hast
keine Ahnung vom Jagen, die Gefahren des Dschungels sind dir fremd.
Wie willst du auch nur bis zur nächsten Siedlung kommen?"
Talaan legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter und bot
ihm die andere zum Abschied. "Ich werde überleben, Girrad.
Mein Schicksal ist es bestimmt nicht von einer Giftschlange bezwungen
zu werden."
Girrad ergriff die Hand zögerlich. "Ich wünsche
dir ein ruhiges Leben, Talaan. Aber gehe nicht leichtfertig damit
um. Auch wenn du es nicht hören willst: Du bist ein Maigan
und die MaKri werden dich eines Tages brauchen."
"Das verspreche ich, Girrad. Auch dir ein ruhiges Leben."
Mit diesen Worten drehte er sich um und begann seine Wanderung
nach Osten. Er wollte noch ein paar Meilen zwischen sich und die
Stadt bringen, bevor er schlief.
Talaan zog gemächlich nach Osten. Dort sollte es ein kleines
Dorf geben, um das sich kaum ein MaKri kümmerte, da es weit
abseits von wichtigen Wegen lag. Genau das Richtige für ihn.
Er eilte sich nicht, da ihm das freie, ungebundene Leben im Urwald
sehr behagte. Er schlief auf Bäumen, ernährte sich von
köstlich erfrischenden Früchten, übte erfolglos
die Jagd mit dem Speer und zog ein Stückchen weiter.
In diesem Dschungel gab es so viel zu entdecken. Seine raubtiergleichen
Sinne und Instinkte waren fantastisch und er verbrachte Stunden
damit, sie bis ins Extrem auszureizen. Bei der Jagd spielte alles
zusammen: bewegungsloses, angespanntes Warten, schnelles Sprinten,
Sprünge und Haken, das Jagdfieber, den Geruch der Beute in
der Nase... Und alles kontrolliert von einem wachen Intellekt.
Denn mit der Zeit hatte er gelernt, seine Instinkte zu beherrschen,
ihnen immer die Zügel des Verstandes anzulegen. Er unterdrückte
sie nicht, er machte sie sich dienstbar. Und fühlte sich
lebendig wie noch nie. Talaan wollte nie wieder ein Mensch sein.
Einige Tage später pirschte er sich gerade an ein kleines,
pelziges Tier an, als plötzlich ein wildes Auffauchen die
Vögel aufscheuchte. Seine Beute schreckte auf und verschwand
mit zwei Sätzen zwischen Pflanzen mit fleischigen Blättern.
Das war nicht das erste Mal, dass er eine Wildkatze gehört
oder gesehen hatte, aber neben diesem Schrei hörte er dumpf
Stimmen, die irgendetwas riefen.
In Windeseile hastete er in Richtung dieser Stimmen. Erneut ein
Fauchen und ein schmerzerfüllter Aufschrei. "Sie hat
mir das Gesicht zerkratzt! Tötet sie doch endlich!"
Nicht mehr weit.
Talaan erklomm rasch einen Baum und kletterte auf den niedrigen
Ästen weiter voran, bis er an den Ort des Kampfes kam. Drei
mit Schwertern bewaffnete Menschen umzingelten gerade eine unbewaffnete
Kri. Ein zerbrochener Speer lag unweit auf dem Boden.
Mit einem zornigen Aufbrüllen sprang Talaan von seinem Ast
hinab und rammte seinen Speer in den Rücken des einen Menschen.
Gurgelnd ging er zu Boden. Talaan ergriff das Schwert des
toten Soldaten. Ein billiges Ding, aber es sollte genügen.
Die beiden anderen wirbelten zu ihm herum und zögerten nicht
lange. Die entwaffnete MaKri ignorierten sie nun völlig.
Sie teilten sich auf und begannen ihn einzukreisen. Talaan ergriff
sein Schwert mit beiden Händen und nahm eine Kampfstellung
ein.
"Bleib fern, Mädchen, ich werde mit den Beiden fertig.",
rief er. Und zu den beiden Soldaten gewandt: "Flieht oder
sterbt."
Die Soldaten sahen ihn verblüfft an. "Schau mal,",
knurrte der eine, "ein Kri der unsere Sprache spricht. Wir
sollten ihn einfangen und mitnehmen. Wir könnten ihn als
Attraktion verkaufen und reich werden."
Talaan ließ seine scharfen Fangzähne aufblitzen. "Wenn
das eure Wahl ist... Mir steht der Sinn nach Rache."
Ohne ein sichtbares Zeichen stürzten beide gleichzeitig auf
ihn los. Talaan machte einen Schritt auf den einen zu und bohrte
ihm das Schwert in den Bauch, während der Soldat noch zum
Schlag ausholte. Die Klinge des anderen zischte durch die Luft.
Talaan machte sich nicht die Mühe zu blocken, sondern tauchte
unter dem Schlag durch, riss sein Schwert aus dem ersten Soldaten
heraus und hieb in der selben Bewegung nach den Beinen des zweiten.
Mit einem Schmerzensschrei fiel der Mann wie ein Baum. Ein weiterer
Hieb zum Hals des Menschen beendete sein Leiden.
Drei Leben ausgelöscht, in wenigen Augenblicken der Präzision.
Angewidert warf Talaan sein Schwert beiseite. Er hasste das Töten.
Und diese Männer hatten bestimmt nur Befehle befolgt.
Dann wandte er sich der MaKri zu und schenkte ihr ein beruhigendes
Lächeln. "Bist du wohlauf?"
Sie nickte und musterte ihn ihrerseits. "Mein Stolz ist verletzt,
das ist alles. Ich bin direkt in sie hineingerannt."
"Nur weil sie Menschen sind, heißt das nicht, dass
sie nicht wissen, wie man sich lautlos bewegt. Wieso bist du überhaupt
allein im tiefsten Dschungel unterwegs?"
Das zaghafte Lächeln der Kri verschwand schlagartig. "Ich
war nicht allein. Vor einigen Tagen sind wir schon einmal überfallen
worden. Mein Begleiter ist gestorben."
"Das tut mir leid."
Sie nickte stumm und kniete sich nieder um den Boden nach etwas
abzusuchen. Schließlich fand sie ein Messer, hob es auf
und rammte es übertrieben heftig in die Scheide an ihrem
Gürtel.
"Danke, dass du mir geholfen hast. Ich bin Kirra." Sie
reichte ihm die Hand und Talaan ergriff sie.
"Nenn mich Shimar."
Sie lächelte wieder. "Auch unterwegs, den Maigan zu
sehen?"
Talaan versteifte sich ein wenig. "Nein, ich komme von dort.
Mein Weg führt nach Osten."
"Du hast ihn also gesehen?"
Er seufzte innerlich. Mitten im Regenwald und dennoch kein
Entkommen. "Ich hab's eilig. Mach's gut, Kirra."
Er dreht um und ging zu der Leiche seines ersten Opfers. Mit einem
Ruck zog er seinen Speer heraus und wandte sich zum Gehen.
"He! Du willst mich hier einfach allein und unbewaffnet stehen
lassen?", rief ihm die Kri hinterher.
"Du kannst ja mitkommen. Ich gehe nach Osten."
"Nichts auf der Welt kann mich davon abhalten, zur Großen
Stadt zu gehen."
"Wenn das so ist..." Talaan warf ihr den Speer zu und
sie fing ihn in der Luft auf. "Behalte ihn ruhig, ich werde auch ohne
bestehen. Alles Gute, Kirra." Mit diesen Worten stapfte
er davon. Nichts auf der Welt würde ihn dazu bringen
wieder zurück zu gehen.
Doch nach einer Weile begann sein Gewissen an ihm zu nagen. Wenn
diese Frau wieder auf einen Sp\xE4htrupp der Menschen traf, würde
sie mit ziemlicher Sicherheit sterben. Zumal sie weiter in Richtung
Menschenland unterwegs war.
Mit einem kehligen Grollen drehte er wieder um und ging zurück.
Kirra war gerade im Begriff zu gehen und sah überrascht auf.
"Du hast einen ziemlichen Dickschädel, Kirra."
Sie schenkte ihm ein zauberhaftes Lächeln. "Einer meiner
Vorzüge. Du begleitest mich also?"
"Ich werde die Große Stadt nicht betreten, da ist mir
zuviel los. Aber hinbringen kann ich dich.", antwortete er
betont missmutig.
Talaan sah sich kurz um, wobei seine Blicke vom vielen Blut stets
wegzuckten. Schließlich nahm er das Schwert, welches er
für das beste hielt und schob es in seinen Gürtel. "Man
kann ja nie wissen."
Zu zweit machten sie sich dann auf den Weg.
Kirra wurde aus Shimar
nicht schlau. Noch nie hatte sie jemanden derart mit einem Schwert
umgehen gesehen. Keinen Menschen und erst recht keinen MaKri.
Dann erweckte er den Eindruck, als wäre er vor etwas auf
der Flucht. Mit jedem Schritt, den sie der großen Stadt
näher kamen, schien eine größere Last auf seinen
Schultern zu liegen. Und ab und zu erblickte er etwas, eine Blume oder ein Tier, und
alles schien vergessen. Fasziniert betrachtete er es und stellte
Fragen dazu. Als hätte er noch nie einen Regenbogenvogel
gesehen! Oder Lichtkelchblumen. Er bestaunte alles wie ein Kind.
Als sie des Abends am Feuer saßen, sprach sie ihn darauf an.
Erst schien er nichts sagen zu wollen und stocherte mit einem
Stock in der Glut. "Weißt du, ich komme von wirklich
weit her. Dort war alles anders - die Bäume, die Tiere, die
Landschaft..." Shimar starrte verträumt ins Feuer.
Wie er so dasaß, wirkte er verloren. "Erzähl mir
von dir. Kommst du aus dem Norden? Was hast du dort erlebt?"
"Ich... möchte nicht darüber sprechen, Kirra."
"War es schlimm?"
Ein verträumtes Lächeln gesellte sich zu seinen träumenden
Augen. "Nein, das nicht, aber..." Er sah ihr ernst in
die Augen. "Es ist ein Abschnitt meines... Lebens, der hinter
mir liegt. Ich möchte nicht daran erinnert werden, verstehst
du?"
Dieser Blick jagte ihr einen unheimlichen Schauer über den
Rücken und ihr Fell richtete sich auf. Seine Augen wirkten,
als hätten sie bereits Jahrhunderte erblickt und passten
überhaupt nicht in dieses junge Gesicht.
"Der geheimnisvolle Unbekannte, wie?", scherzte sie,
um ihre Nervosität zu verschleiern.
Shimar grinste schief das Grinsen eines Sechzehnjährigen,
und der Eindruck der Zeitlosigkeit war wie weggefegt. "Wenn du damit leben
kannst?"
"Wenn du mich weiter so zauberhaft anlächelst, komm
ich darüber hinweg.", erwiderte sie. Er sah tatsächlich
niedlich aus, wenn er lächelte.
Er zog ein wenig verwirrt die Augenbrauen zusammen und sein Grinsen
wurde unsicher. "Was ist mit dir, Kirra? Wo kommst du her?
Und ich will alles wissen."
Und sie begann zu erzählen. Sie berichtete von dem kleinen
Dorf, aus dem sie kam, ein ganzes Stück im Osten. Und Shimar
lauschte gefesselt. Er fragte sie über alle möglichen
Kleinigkeiten aus: Wie das Zusammenleben aussah, ob auch ihre Siedlung einen Ältestenrat hatte und vieles mehr.
Sie berichtet gerne, schließlich sprach sie von ihrer Heimat,
und Shimars rubinrote Augen, in denen sich das Feuer spiegelte,
wichen nicht von ihren Lippen.
Die nächsten drei Tage genoss Talaan sehr. Kirra war schrecklich
sympathisch und brachte ihn oft zum Lachen. Und es war ein herrliches
Gefühl ganz normal mit jemandem zusammenzusein, als Gleichberechtigter.
Sie lehrte ihn viel über die Jagd und sein erstes erlegtes
Reh feierten sie ausgelassen mit gebratenem Fleisch und Früchten,
die in größeren Mengen leicht betrunken machten.
Der dritte Tag brachte
sie in die Nähe der Großen Stadt.
"Ich werde dich hier verlassen, Kirra. Für den Rückweg
wirst du schon jemanden finden, einen Händler oder dergleichen.",
erklärte Shimar.
"Warum kommst du nicht mit in die Stadt? Wenn du nach Osten
willst, können wir ja in ein paar Tagen gemeinsam losziehen."
"Nichts bringt mich wieder in dieses Tollhaus von Stadt.",
sagte er entschlossen und blickte sich um, als fürchtete
er entdeckt zu werden.
Kirra versuchte es mit ihrem Lieblingstrick. Sie schenkte ihm
ein verführerisches Lächeln, schlang lasziv ihren Schwanz
um sein Sprunggelenk und fuhr mit der Kralle an ihrem Zeigefinger
seine Brust hinab. "Absolut nichts?"
Irritiert schob er sanft ihre Hand beiseite und ignorierte ihren
Schwanz völlig! "Ich kann nicht Kirra. Die Zeit mit
dir hat mir gut getan und ich habe viel von dir gelernt. Leb wohl."
Sie ließ ihn nicht so einfach gehen. Er sollte noch ein
wenig dafür zappeln, dass er ihren weiblichen Überredungskünsten
derart mühelos entkommen war.
"Shimar, hast du irgendwas in der Großen Stadt angestellt?
Es wäre mir egal, aber..."
Er entzog seinen Fuß ihrem Schwanz und schüttelte den
Kopf. "Nein, aber ich bin..."
Zwei MaKri tauchten wie aus dem Nichts auf. Shimar zuckte zusammen,
wich zurück und sah sich nach einem Fluchtweg um.
Einer der Neuankömmlinge riss erstaunt die Augen auf. "Maigan
Talaan! Endlich haben wir dich gefunden!"
In Kirras Magen machte etwas einen gewaltigen Salto.
"Wir waren in Sorge um dein Wohlergehen.", fügte
der Andere hinzu. "Wenn du ein wenig durch den Wald ziehen
wolltest, hättest du uns das sagen müssen. Wir hätten
dir ein paar Krieger mitgeben können."
"Du bist...", brachte Kirra hervor. "Das ist ein
Scherz oder?", fragte sie die beiden Kri. "Dieser...
dieser Jüngling soll der Maigan sein? Er konnte noch nicht
mal ein Reh fangen, als ich ihn traf!"
Die drei Männer ignorierten sie und Shimar knurrte: "Wozu,
Maresh? Damit sie mich beschützen und aufpassen, dass ich
mir ja nicht eine Kralle abbreche? Ich habe da draußen drei
Menschen besiegt, ohne dass mir jemand half."
"Es hätten aber auch mehr als drei seien können!",
beharrte Maresh.
Talaan schüttelte den Kopf, um ihn zu klären. "Ich
war frei dort draußen, Maresh, und glücklich."
"Du trägst uns gegenüber eine Verantwortung, Maigan.",
erinnerte ihn der andere Krieger.
Talaans Schultern sanken herab. "Ja, die habe ich wohl."
Dann sah er zu Kirra hinüber und lächelte sie traurig
an. "Vielleicht können wir ja irgendwann noch mal zusammen
Jagen gehen. Es würde mich freuen."
Er wirkte so verloren, dass sie nicht anders konnte, als ihn kurz
tröstend zu umarmen. "Jederzeit, Jüngling."
Das heiterte ihn ein wenig auf.
Sie folgte den Männern zur Großen Stadt. Es würde
ihr gehörig schwer fallen, in Talaan einen Maigan zu sehen.
Ein Kri höherer Weisheit, hieß es in den Überlieferungen.
Ha! Dieser Kerl war unerfahren wie ein Kind und ein Träumer,
aber weise mit Sicherheit nicht.
Talaan stand vor dem Haus der Ältesten und zögerte einzutreten.
Hier und jetzt würde die Entscheidung fallen. Und darum zögerte
er. Er trat gleich fünf MaKri gegenüber, die es gewohnt
waren über Andere Entscheidungen zu fällen, und musste
mit ihnen einen Kampf um seine Freiheit austragen.
Er atmete tief ein und schritt durch die Tür.
Drinnen beherrschten zwei Eindrücke den Raum. Ein flaches
Feuer brannte in einer großen Eisenschale und strahlte große
Hitze aus. In einem Kreis um das Feuer herum saßen die Stadtältesten
und sahen ihn erwartungsvoll, aber gleichzeitig ruhig und gelassen
an. Ein sechstes, freies Sitzkissen wartete auf ihn.
"Wozu das Feuer?", fragte er und nahm Platz. "Es
ist schrecklich warm hier drinnen."
Die Kräuterfrau, die ihm jenseits des Feuers gegenüber
saß antwortete ihm: "Dessen Hitze soll uns dazu bringen,
uns kurz zu fassen und nicht in sinnlose Streitereien zu verfallen.
Das Wichtige hingegen wird den Flammen widerstehen. Lass uns anfangen."
Der Häuptling begann. "Du bist geflohen, Talaan, und
hast dich deiner Verantwortung entzogen. Wenn wir dich verärgert
haben, hättest du uns das sagen können."
"Worin liegt denn meine Verantwortung, Firr?" Talaan
hielt den Zorn aus seiner Stimme heraus. "Ich habe in den
Tagen bevor ich ging nichts anderes getan, als den Scharlatan
zu spielen. Nichts von dem, was ich tat, hätte nicht auch
von einem anderen MaKri in dieser Stadt getan werden können.
Bis auf die Kranken heilen vielleicht. Aber du, Shaila, bist eine
gute Kräuterfrau und trotzdem sind die Leute zu mir gekommen - warum?"
Tonri, der Schamane, erwiderte ihm ernst: "Du bist ein Maigan,
deshalb kommen die Leute zu dir. Weil sie von dir Weisheit erhoffen,
aber verzeih meine Direktheit, die scheinst du zu entbehren.
Doch davon sprechen wir nicht, Talaan. Du weißt genau, welche
Verantwortung wir meinen."
Talaan senkte den Kopf und dachte nach. Er wusste, was sie meinten.
Aber wie sollte er ihnen helfen, wenn er die Hintergründe,
ja dieses Volk gar nicht kannte? Wenn er sich selbst nicht einmal
kannte? Aber das war nicht ihr Fehler. Sein Fehler war,
dass er ihnen zuviel verschwieg.
Er musterte einen der Ältesten nach dem anderen. Vor ihm
saßen Wesen, die sich zurecht weise nennen konnten. Konnte
er es wagen, sie zu belügen? Die Wahrheit war undenkbar.
Mit leiser Stimme sprach er aus, was sie hören wollten: "Ihr
meint die Konflikte mit den Menschen." Firr nickte nur.
"Ich beginne zu verstehen, wo mein Platz in dieser Angelegenheit
ist.", fuhr Talaan fort. "Dieser Zauber, den ich vom
Orakel erhielt, eröffnet gewisse Möglichkeiten des... Auskundschaftens. Welcher Mensch würde einen Menschen für einen
Sp\xE4her der MaKri halten?"
"Diese Idee klingt erfolgsversprechend.", meinte Jirr.
"So könnten wir in Erfahrung bringen, warum die Menschen
uns überhaupt angreifen. In den Jahren zuvor kam es eher
zu zufälligen Begegnungen und nicht alle waren blutig. Aber
seit einem Monat dringen sie stetig mit Erkundungsgruppen in
unser Land ein und töten jeden MaKri, der ihnen unterliegt."
"Ja, dein Vorschlag...", hob Mahi an, doch Talaan unterbrach
sie mit abwehrend erhobenen Händen.
"Haltet ein und lasst mich bitte sprechen.", bat er
sie. "Es gibt noch andere Möglichkeiten, von denen ihr
nichts wisst, weil ich sie euch bisher verschwiegen habe."
Was er nun sagen wollte würde nicht leicht werden, es konnte
alles verschlimmern. "Meine Magie ist nicht auf die Heilung
beschränkt."
Sie warfen ihm zweifelnde Blicke zu. Sie glaubten ihm nicht. Talaan
seufzte und grub in seinem Gedächtnis einen einfachen Zauber
aus. Kaum war er bereit die Worte auszusprechen, bildeten die
Silben in seinem Geist wieder ein Zeichen. Kleiner und einfacher
als die Heilung, aber dennoch mächtig. Er lenkte die Magie
auf das Feuer in der Mitte und es erlosch schlagartig. Er hatte
diesen Zauber schon öfters angewandt, aber diese Fokussierung
im Geist war neu.
Die Ältesten blickten stumm die erkaltende Feuerschale und
Talaan an.
"Aus Magie lassen sich auch Waffen formen, das weiß
ich. Ich beherrsche das nicht, aber ich bin sicher, dass ich es
herausfinden kann."
"Das ist außergewöhnlich.", stellte Shaila
so ruhig wie immer fest.
Und Mahi fügte klar kalkulierend hinzu: "Was brauchst
du, um deine Studien zu betreiben?"
Talaan holte tief Luft. "Zeit und Freiheit."
"Freiheit?"
"Ich kann so nicht leben, Älteste. Ich ersticke fast
an Aufdringlichkeit und Verehrung. Meine Seele braucht Ruhe. Lasst
mich ziehen."
Die Ältesten begannen sich untereinander zu beraten und hielten
ihre Diskussion so leise, dass Talaan nicht ein Wort verstand.
Nach ihren ernsten Mienen zu urteilen gefiel es ihnen gar nicht,
ihn gehen zu lassen.
Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, verkündete Firr ihren
Beschluss: "Es fällt uns nicht leicht, Maigan Talaan,
aber wir respektieren deinen Wunsch. Ich fürchte, wir haben
versucht, dich unter unsere Aufsicht und Kontrolle zu bringen.
Wir werden darauf vertrauen, dass du dich an deine Pflichten erinnerst,
wenn es soweit ist.
Aber wir haben eine Bedingung. Wir suchen einen MaKri aus, der
dich begleiten und verteidigen wird."
Talaan wollte schon protestieren, schluckte seinen Ärger
aber herunter. Sie hatten Recht. Er war ein Neuling auf dieser
Welt und ein wenig Hilfe würde nicht schaden. Zustimmend
neigte er sein Haupt. "Ich beuge mich eurer Bedingung und
danke euch. Ich werde meine Pflichten nicht vergessen."
"Es wird einige Tage dauern, bis ich einen MaKri ausgewählt
habe.", fügte Mahi hinzu. "Dann bist du frei."
"Eines noch.", meldete sich Tonri zu Wort, "Du
solltest die Zeit auch nutzen, um dich über die Menschen
des Westens zu unterrichten. Es gibt nicht wenige unter uns, die
sie für... Dämonen halten. Oder für von Dämonen
beherrscht. Diese Meinung hat sich weit verbreitet, seit so viele
MaKri zu Opfern der Menschen geworden sind.
Ob sie es sind oder nicht, sollst du für dich selbst beurteilen.
Und du solltest es in Betracht ziehen, das Orakel zu konsultieren.
Es ist eine Quelle großer Weisheit und Einsichten."
"Ich werde über beides nachdenken.", versprach
Talaan. Menschen und Dämonen, ein Orakel... Diese Welt versprach
interessant zu werden.
Erst als Talaan das Haus des Ältestenrats verließ,
erlaubte er sich ein erleichtertes Ausatmen. Er hatte gesiegt.
Erneut hatte er Halbwahrheiten benutzt, um seine Ziele zu erreichen,
aber er konnte sich ihnen nicht offenbaren. Er verstand das mit
dem Wiedererwachen in neuen Welten selbst nicht, und es war ihm
bei weitem zu persönlich, um mit Fremden darüber zu
reden.
Jetzt aber würde alles besser werden. Sie würden eine
Leibwache für ihn aussuchen und dann würde er frei sein.
Zeit haben, sich selbst zu finden. Vor ihm lag ein neues Leben.